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Lucian Hölscher, Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit. Göttingen, Wallstein 2020.

Pyta, Wolfram
In: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-10-01), Heft 2, S. 439-441
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Lucian Hölscher, Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit. Göttingen, Wallstein 2020 

Lucian Hölscher, Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit. 2020 Wallstein-Verlag GmbH Göttingen, 978-3-8353-3757-2, € 28,–

Umgang mit Zeit ist das Lebenselixier der Geschichtswissenschaft, und daher kann eine Reflexion über die temporale Matrix, die erst die Zusammenhänge zwischen sonst beziehungslosen Ereignissen stiftet, zur Standortbestimmung der Historie beitragen. Lucian Hölscher ist wie kein anderer deutschsprachiger Historiker hierzu berufen und legt mit der hier anzuzeigenden Studie ein gedankenreiches Werk vor, das nicht nur zur Selbstvergewisserung der Jünger Klios dient, sondern auch empirisch gesättigter Forschung interessante Perspektiven eröffnet.

Hölschers Grundanliegen ist es, die Historie zu sensibilisieren für die Bedeutung der Zeit als gewissermaßen transzendentaler Bedingung der Möglichkeit historischer Erkenntnis. Als zentraler Begriff fungiert dabei der Terminus „Zeitfigur", mit dem er Verlaufsformen historischer Zeit markiert, die als natürliche Zeiteinheiten deren Ablauf strukturieren. Hölscher interessieren dabei die verschiedenartigen Gestalten, die derartige Verlaufsmuster annehmen können und die Zeugnis davon ablegen, dass die historische Zeit keineswegs linear oder progressiv verläuft, sondern Haken schlägt, sich im Kreise dreht oder in Kehren verläuft. Dass diese Feststellung zugleich eine Absage an jede verkappte Geschichtsteleologie enthält, welche den historischen Verlauf in ein starres Muster presst, ergibt sich aus der Grundeinstellung des Verfassers, dass die historische Zeit viele Gesichter und damit vielfältige Bewegungsmuster kennt.

Um solche Zeitfiguren zu identifizieren, schreitet Hölscher die vor allem deutschsprachige Historiographie der letzten 250 Jahre ab. Mit souveränem Blick und stets auf der Suche nach den von den Verfassern oftmals eher en passant eingeschobenen Zeitordnungsmustern klopft Hölscher viele Klassiker, aber auch weniger bedeutsame Werke auf die in ihnen eingeschriebenen Zeitfiguren ab. Dabei lässt er mehr als nur durchblicken, dass er einen eindimensionalen Zugriff auf vergangenes Geschehen, das dieses in einen monotonen und vorhersehbaren Zeitrhythmus hineinzwängt, als verschenkte Möglichkeit ansieht, die Vielfalt von Zeitfiguren bei der narrativen Durchdringung zu nutzen. Sein vielleicht wichtigster Maßstab ist der, ob ein virtuoser Umgang mit historischer Zeit den Sinn für historische Kontingenzen schärft. In diesem Sinne gewinnt er Historikern wie Golo Mann und Thomas Nipperdey viel ab, die die produktive Spannung zwischen vergangenen Zukunftsentwürfen und gegenwärtigen Vergangenheitsentwürfen gezielt einsetzen, um dafür zu sensibilisieren, dass es alternative Handlungsoptionen gab und dass es hätte auch anders kommen können. In der Konfrontation der von den Zeitgenossen vorgelegten Zukunftsentwürfe mit retrospektiven Bilanzierungen der Fachwissenschaft macht Hölscher die Zeitfigur der doppelten Zeitebene aus, der er eine besondere Leistungsfähigkeit attestiert, die Balance zwischen besserwisserischer Gegenwartsversessenheit und bornierter Vergangenheitsseligkeit zu halten.

Hölschers gelehrtes Werk animiert die Historiker, kreativ und phantasievoll mit dem Baukasten der so vielgestaltigen Zeitfiguren umzugehen und bezieht damit zugleich Gegenposition gegen einen Poststrukturalismus, der auf Zeitordnungsanstrengungen gezielt verzichtet. Er ermuntert Historikerinnen und Historiker, die historisch geronnene Zeit als Rohmasse zu nutzen, um sie wie ein bildender Künstler zu Zeitfiguren zu modellieren. Es ist aber auch ein Appell zugunsten künstlerischer Freiheit und damit ein Aufruf gegen eine neue Orthodoxie, die von der historischen Zeit in einer Weise Besitz zu ergreifen bestrebt ist, dass sie eine Meistererzählung hegemonial zu verankern sucht, die einer eindimensionalen Verlaufsgeschichte huldigt.

Hölschers Werk beinhaltet zudem innovative Anstöße für eine akteurszentrierte Kulturgeschichte des Politischen. Denn Zeitfiguren stecken bereits in den Verlaufsformen, welche die Zeitgenossen selbst der von ihnen geordneten Geschichte zuwiesen. Daraus ergibt sich die Forschungsperspektive, derartige Zeitfiguren in ihrer Vielgestaltigkeit freizulegen und – dies ist die eigentliche Herausforderung – deren Handlungsrelevanz für Entscheidungen als Kern des Politischen sichtbar zu machen. Insofern liefert Hölschers Schrift ein Design für künftige Forschungen an der Schnittstelle von Kultur- und Politikgeschichte und ist daher nicht nur für geschichtstheoretische Feinschmecker eine bedeutsame intellektuelle Anregung.

By Wolfram Pyta

Reported by Author

Titel:
Lucian Hölscher, Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit. Göttingen, Wallstein 2020.
Autor/in / Beteiligte Person: Pyta, Wolfram
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-10-01), Heft 2, S. 439-441
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1297
Schlagwort:
  • ZEITGARTEN: Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit (Book)
  • HOLSCHER, Lucian
  • GARDENS
  • GARDENING
  • NONFICTION
  • Subjects: ZEITGARTEN: Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit (Book) HOLSCHER, Lucian GARDENS GARDENING NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Stuttgart, Historisches Institut, Abt. Neuere Geschichte, Stuttgart,, 70174, Germany.

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