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Tazuko Angela van Berkel, The Economics of Friendship. Conceptions of Reciprocity in Classical Greece. (Mnemosyne. Supplements, Vol. 429.) Leiden, Brill 2020.

Reden, Sitta von
In: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-10-01), Heft 2, S. 458-460
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Tazuko Angela van Berkel, The Economics of Friendship. Conceptions of Reciprocity in Classical Greece. (Mnemosyne. Supplements, Vol. 429.) Leiden, Brill 2020 

Tazuko Angela van Berkel, The Economics of Friendship. Conceptions of Reciprocity in Classical Greece. Mnemosyne. Supplements, Vol. 429. 2020 Brill Leiden, 978-90-04-41613-0, € 131,25

Das Spannungsverhältnis zwischen sozialen und kommerziellen Tauschformen ist ein Faszinosum. Shakespeares „Measure for Measure" ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel für seine literarische Verarbeitung, aber auch antike Autoren hatten einiges über das Konfliktverhältnis von Sozialverband und Markt zu sagen. In den 1990er Jahren wurden derartige Konflikte nicht nur im transkulturellen Vergleich, sondern auch in der Altertumskunde, etwa von Leslie Kurke, Simon Goldhill, Richard Seaford und mir selbst aufgegriffen. Die Wirtschaftsanthropologen Jonathan Parry und Maurice Bloch führten die konzeptionelle Trennung von „long-term" und „short-term transactional orders" ein, denen soziale Tauschbeziehungen mit Langzeitkonsequenz einerseits und ökonomische Kurzzeitbeziehungen andererseits zuzuordnen seien. Sozial verachtet würden all jene Beziehungen, die diese Dimensionen vermengten. Kurke arbeitete mit dem Gegenüber von „embedded" und „disembedded economies", das auf Karl Polanyi zurückgeht und die Spannung zwischen sozial eingebetteten und unpersönlichen Marktbeziehungen thematisiert. 2011 hat sich David Graeber mit der These an eine breitere Öffentlichkeit gewandt, dass ökonomische Kategorien wie Tausch, Reziprozität und Schulden erst dann in soziales Denken eindringen, wenn diese durch die Ausweitung von Marktbeziehungen in Gefahr geraten.

Van Berkel greift diese Diskussionen auf und entwickelt sie weiter. Ihr Fokus liegt auf der Tragödie und sokratischen Philosophie als „explicit analytical discourses" und „implicit folk theory" im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. (S. 63). Ihre These lautet, dass moderne Zugänge zu ökonomischen Tauschmetaphern in sozialen Beziehungen einem „methodischen Individualismus" unterlägen, der auf die Motivationen der beteiligten Personen blicke. Dagegen speise sich antike Sozialtheorie – denn nichts anderes sei das Nachdenken über philia („Freundschaft") ‒ aus relationalen und interaktiven Vorstellungswelten, in denen sich Beziehungen als Interaktion und nicht über die Intentionen der beteiligten Individuen darstellten. Die Verflechtung von kommerzieller und sozialer Tauschmetaphorik in klassischen Texten greife daher weniger in die Problematisierung richtiger oder falscher Motivationen der Tauschpartner als in die der Dimensionen von Beziehungen, die je nach Situation unterschiedlich zum Tragen kämen. Gute, das heißt einem Ziel zuträgliche, Beziehungen seien „isomorph", gleichgestaltig. Reziprozität heiße, dass die Beteiligten die Beziehung richtig läsen und sich entsprechend kompetent verhielten.

Neben theoretischen Klärungen diskutiert van Berkel in der Einleitung das semantische Feld von philia-und philos-Beziehungen, die nicht voneinander zu trennen seien; sie bezeichneten nicht, wie David Konstan behauptet hat, eine emotionale Freundschaftsbeziehung einerseits und eine emotional neutrale Relationalität andererseits. Keiner der Begriffe beschreibe innere Befindlichkeiten, sondern eine Gegenseitigkeit, die für eine Beziehung richtig sei und deswegen emotional positiv erfahren werde. Kapitel 2 diskutiert die Anatomie von charis (Anmut, Charme, Gefallen) entsprechend der Grundthese, nämlich dass charis sich aus der Tauschsituation ergibt und nicht einem objektiven Maßstab an Intentionen unterliegt. In Kapitel 3 wendet sich van Berkel Eltern-Kind-Beziehungen zu, deren Reziprozitätsgedanken sie als kulturell bedingt einführt. Selbst in den antiken Texten werde der Imperativ der Schuldenbegleichung von Kindern nur situativ ausgehandelt. Daran anschließend folgt ein breiter angelegtes Kapitel über soziale Schulden, das sich mit Graebers Thesen auseinandersetzt und argumentiert, dass sich die Konzeption sozialer Schuld als notwendiger Gegenleistung erst unter dem Einfluss finanzieller Schulden formiert habe. Kapitel 5 und 6 diskutieren sokratische philia, die bei Platon und Xenophon anhand der Fragen des Wertes von Weisheit und Freundschaft bzw. des adäquaten Gegenwertes erotischer Verführung verhandelt wurde. Kapitel 7 fokussiert schließlich auf die viel diskutierte Proportionalität von „Baumeister und Schuster wie Haus zu Schuh", die Aristoteles in EN 1133a, 22–24 einführt. Hier, so van Berkel, werde vor dem Hintergrund ökonomischer Tauschgerechtigkeit Gleichheit in einer politischen Gerechtigkeitssituation definiert.

Die komplexen Detailerörterungen können hier nur erwähnt werden. Die Tragfähigkeit einzelner Argumente wird sich in Fachdiskussionen zeigen, denn van Berkel versteht ihre Studie als polyphonen Beitrag zu Philosophie, Philologie, Anthropologie und Geschichte (S. 66). Aus lediglich historischer Sicht ist eine gewisse Vernachlässigung von Entwicklungen anzumerken. Steigender Geldumlauf, Marktaustausch und Handel erscheinen als axiomatischer Hintergrund von philia-Diskussionen ab dem 5. Jahrhundert v. Chr., ohne die wirtschaftliche Entwicklung davor oder anschließend zu berücksichtigen. Überraschend ausgeblendet ist auch die Demokratie, die alle öffentlichen Beziehungsdiskurse im klassischen Athen mitverarbeiteten. Der Markt und finanzielle Beziehungen waren auch ihr zutiefst eigen. Davon abgesehen ist dies eine anspruchsvolle und thesenreiche Studie, die nicht nur die Forschung zur antiken philia, sondern auch die Wirtschaftsanthropologie erheblich bereichert.

By Sitta von Reden

Reported by Author

Titel:
Tazuko Angela van Berkel, The Economics of Friendship. Conceptions of Reciprocity in Classical Greece. (Mnemosyne. Supplements, Vol. 429.) Leiden, Brill 2020.
Autor/in / Beteiligte Person: Reden, Sitta von
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-10-01), Heft 2, S. 458-460
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1307
Schlagwort:
  • ECONOMICS of Friendship: Conceptions of Reciprocity in Classical Greece (Book)
  • VAN Berkel, Tazuko Angela
  • RECIPROCITY (Commerce)
  • ECONOMIC policy
  • NONFICTION
  • Subjects: ECONOMICS of Friendship: Conceptions of Reciprocity in Classical Greece (Book) VAN Berkel, Tazuko Angela RECIPROCITY (Commerce) ECONOMIC policy NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Albert Ludwig Universität Freiburg i.Br., Seminar für Alte Geschichte, Kollegiengebäude I, Freiburg im Breisgau,, 79098, Germany.

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