Marcel Bubert, Kreative Gegensätze. Der Streit um den Nutzen der Philosophie an der mittelalterlichen Pariser Universität. Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, Vol. 55. 2019 Brill Leiden, 978-90-04-39951-8, € 149,–
Das aus seiner Dissertation hervorgehende Buch Buberts legt eine Sozialgeschichte des Wissens vor, die sich auf ein Milieu, die Artistenfakultät der Universität Paris im 13./14. Jahrhundert, fokussiert. In Abgrenzung von der Ideen- und Begriffsgeschichte interessiert sich Buberts Studie für die identitätsstiftende Konstitution einer Konzeption des Wissens und der Philosophie in der Gruppe der Artisten. Dazu sind die philosophischen Inhalte von deren Werken – was behauptet wurde – weniger relevant als ihre programmatischen Äußerungen und die sozialwissenschaftlichen Kontroversen, die zwischen ihnen und anderen sozialen Gruppen entstanden. In den Diskursen der Artisten wurde die Zwecklosigkeit der Philosophie verteidigt. Die Art und Weise, wie sie die verschiedenen Disziplinen des Triviums und des Quadriviums praktizierten, schloss jedes angewandte Wissen aus.
Auf den ersten Blick gleicht deshalb die Methode Buberts der Herangehensweise der Science Studies, die die von den intellektuellen Akteuren angestrebte Glaubwürdigkeit und die konkrete Hervorbringung des Wissens in den Vordergrund rücken sowie die Institutionen als geschichtliche Gegenstände behandeln. Bubert stützt sich aber auf zwei andere soziologische Ansätze, die er theoretisch und ausführlich präsentiert. Einerseits wird die Artistenfakultät der Universität Paris als ein Luhmann'sches soziales System betrachtet, das also „nicht aus ‚Menschen' [...], sondern aus Kommunikation" (S. 40) über Wahrheit besteht. Irritationen aus der Umwelt – aus den höheren Fakultäten der Universität und der Stadtkultur – bildeten Faktoren, die die Operationen des Systems bedingten. Andererseits werden Interaktionen innerhalb der Gruppen und zwischen den Gruppen studiert, die den Blick auf Individuen lenken. Inspiriert von Randall Collins und Pierre Bourdieu, rekonstruiert und beschreibt Bubert die sozialen und intellektuellen Trajektorien vieler Akteure. Mehr als dreißig Figuren – Vertreter der philosophischen Kultur, Außenseiter, Kritiker und Konkurrenten – kommen in der umfangreichen Studie vor. In den rekonstruierten Kontroversen erscheint die auf die Theorie konzentrierte Praxis der Artisten als Selbstreferenzialität und Buchgelehrsamkeit – zwei Merkmale, die von zu unterschiedlichen Milieus und Feldern gehörenden Akteuren im Mittelalter bewusst kritisiert und attackiert wurden.
Auf der Grundlage dieser bahnbrechenden Wissensgeschichte der Philosophie, die der Musiktheorie eine besondere Stelle einräumt, bespricht Bubert schließlich die große Frage der Modernität, wie sie seit Duhem und Koyré gestellt wurde. Er positioniert sich gegen die Diskontinuitätserzählungen, die sich von Koyré bis Foucault über die „coupure épistémique" von Bachelard im 20. Jahrhundert durchgesetzt haben, und zeigt, dass manche Behauptungen von Steven Shapin noch von diesem Modell abhängen. Wenn die Modernität als Umsetzung des Experiments in den Wissenschaften, als Expertenkritik, practical turn, Kultur öffentlicher Kontroversen und der Mathematisierung der Natur beschrieben werden kann, ist ihr Aufkommen Bubert zufolge nicht an einem Ort und zu einer Zeit (z. B. im Großbritannien des 17. Jahrhunderts) zu situieren. Sie stellt vielmehr ein geschichtliches Phänomen ohne festen Beginn dar.
By Catherine König-Pralong
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