Cornel Zwierlein, Politische Theorie und Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Einführungen in die Geschichtswissenschaft. Frühe Neuzeit, Bd. 2. 2020 Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 978-3-8252-5439-1, € 25,–
Angesichts eines vorherrschenden Interesses an der Kulturgeschichte Europas in der Frühen Neuzeit ist eine Darstellung zu den zwar zentralen, aber schon vielfach diskutierten Themen politischer Theorie und Herrschaft bemerkenswert. Und es lohnt die Lektüre, denn die vermeintlich wohlbekannte Thematik erhält durch andere Fragestellungen und eigenständige Perspektiven einen neuen Anstrich.
Der Verfasser geht das Ziel einer „Einführung" als Verbindung von Basiswissen und Darstellung von wissenschaftlicher Deutungsvielfalt mutig an, die Gliederung des Stoffes ist sinnvoll. Das „Laboratorium Europa" (Kapitel I) konzentriert sich auf Italien im 15./16. Jahrhundert, in „Methodischen Grundlegungen" (Kap. II) werden mit Hilfe etlicher Deutungsentwürfe die Debatten zur Begriffsgeschichte, zur historischen Semantik, zur politischen Kommunikation u. a. m. skizziert. Im Kapitel III „Themenfelder", die der Verfasser ausdrücklich als individuelle Auswahl charakterisiert, werden unter anderem die Debatten um Widerstandsrecht, Republiken/Republikanismus, Absolutismus, Krieg als Faktor der „Staatsbildung", Entstehung des Völkerrechts ausgebreitet. Das Kap. IV „Perspektiven: Die Herausforderung des Globalen" enthält eine differenzierte Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien sowie mit Blick auf China, das Osmanische Reich und Indien drei außereuropäische „Fallstudien".
Angesichts der Notwendigkeit, die europäische Geschichte der Frühneuzeit als Teil einer Globalgeschichte zu verstehen, auf die der Verfasser nachdrücklich verweist, erstaunt es, wenn im 1. Kapitel wiederum das Italien des 15./16. Jahrhunderts als Zentrum der Politiktheorie vorgestellt wird. Für die Fachleute ist dies verständlich, in einer Einführung hätte dieser Widerspruch erklärt werden können.
Die Auswahl der Themenfelder ist nachvollziehbar; dennoch ist auch hier die regional bekannte Konzentration auf Westeuropa (Frankreich, Niederlande, England, ein wenig Böhmen und Mähren, bescheidene Hinweise auf Polen, umfassend zum Alten Reich) bedauerlich. Die sehr erhellenden Ausführungen zur Existenz verschiedener Formen von Republiken als Parallelen zur monarchischen Herrschaft hätten auch unter Verweis auf ostmitteleuropäische Entwicklungen vertieft werden können. Hier ist bekanntermaßen die Forschungslage nicht immer gut, der erklärende Hinweis darauf wäre in einer Einführung sinnvoll.
Klug ist die Auseinandersetzung mit dem Diktum von W. Reinhard, erfolgreiche Staatsbildung habe im vormodernen Europa nur in Monarchien stattgefunden. Mit den Fragen: „Was meint erfolgreich? Waren Republiken nicht erfolgreich? Was ist der Gradmesser für Staatsbildung?" wird eine bemerkenswerte Skizze der sogenannten Republikanismusdebatte eröffnet, die in der Frühneuzeitforschung der letzten Jahre strittig und präsent war. Dazu gehört die gelungene Erläuterung der Vielfalt der Widerstandslegitimationen im frühneuzeitlichen Europa ebenso wie die Relativierung einer besonderen Rolle des Protestantismus in diesem Kontext.
In einem weiten Bogen stellt der Verfasser nachvollziehbare Erklärungen zur Vorgeschichte der französische Revolution vor und kann gerade hier die ihm wichtige Verzahnung von praktischer Politik und herrschaftlicher Durchdringung erläutern. Gleiches gilt für seine Skizze der „Staatsbildung durch Krieg" und die Darstellung der Einheit von Wirtschaft und Gesellschaft in der frühneuzeitlichen Ordnung, die bis ins ausgehende 18. Jahrhundert die alteuropäische „Einheit des Hauses" im Mittelpunkt sah. Dass sich für die Zeitgenossen die Frage nach dem Wachstum wirtschaftlicher Ordnungen erst im Ausgang jenes Jahrhunderts stellte, ist ein Beleg für die lange Dauer des Wandels im Alten Europa. Einen wirtschaftshistorisch bemerkenswerten Schlusspunkt gibt die kenntnisreiche Skizze der Unterschiede zwischen englischem Merkantilismus, Physiokratismus in Frankreich und preußischem Kameralismus.
Zahlreiche Tabellen, Schaubilder, Graphiken und Karten ergänzen den Text. Nicht nur für Anfänger handelt es sich um eine fordernde, aber ertragreiche Lektüre.
By Luise Schorn-Schütte
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