Reinhold Zilch, Gottlieb von Jagow (1863–1935) und sein Umfeld. Ein kaiserlicher Spitzendiplomat zwischen Erstem Weltkrieg und Kriegs(un)schuldsforschung. Sitzungsberichte. Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 142. 2020 Trafo Verlag Berlin, 978-3-86464-179-4, € 15,80
„Obwohl ich einen Präventivkrieg nicht an sich für unbedingt verwerflich halten kann, habe ich doch an einen solchen ebensowenig gedacht, wie der Kaiser und der Kanzler. Aber eine Politik zu führen, die unter allen Umständen den Krieg ausschlösse, ist für eine Großmacht nicht möglich" (Hervorhebung im Orig.). So schrieb Gottlieb von Jagow (1863–1935) am 22. April 1919 an Hans Delbrück, hier wiedergegeben im Beitrag von Christian Lüdtke im Tagungsband zum Verhältnis Jagows und Hans Delbrücks (S. 103). Das Zitat spiegelt die spannungsreiche Position von Jagows als Bethmann von Hollwegs Staatssekretär im Auswärtigen Amt von 1912 bis 1916 zwischen (eigener) politischer Rechtfertigung und ebenso umstrittener wie umkämpfter deutscher Geschichtspolitik vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik.
Der vorliegende Tagungsband kontextualisiert die Beziehungen Jagows zu Ex-Kanzler Bernhard Fürst von Bülow (spannungsreich: vom Protegé zum Spottobjekt Bülows, im Beitrag Gerd Fessers), zu dem zunächst Freund und deutschen Botschafter in London, Karl Fürst von Lichnowsky, im Ringen um Nähe, Distanz und die Neutralität Englands (Hartwin Spenkuch) sowie um eine mögliche Lokalisierung der Konflikte vor 1914. Er zeigt sodann Haltung und Beitrag von Jagows in der Kriegsschulddiskussion zwischen 1918 und 1933 (Gerd Krumeich) auf und diskutiert die für Jagow überraschenderweise nicht so eindeutig verletzte Neutralität Belgiens (Jakob Müller).
Die Einschätzung der Kriegsschuldfrage durch die polnische Geschichtswissenschaft beleuchtet der Band daraufhin aus der Sicht der eigenen Bemühungen um die Unabhängigkeit der polnischen Nation (Piotr Szlanta). Ein Blick auf das Spektrum der archivalischen Überlieferung zur Kriegsschuldfrage im Auswärtigen Amt sowohl im sogenannten „Schuldreferat" als auch in der Aktenedition der „Großen Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914", in denen Jagow zu den Protagonisten gehörte (Martin Kröger), erweitern abschließend nochmals das Spektrum. Danach hatte von Jagow selbst Anfang August 1914 eine Akte mit dem Titel „Sammlungen von Schriftstücken zur Vorgeschichte des Krieges" erstellen lassen mit dem Anliegen, „für den bevorstehenden Kampf der Meinungen" gewappnet zu sein und die „Stellung der Diplomatie der öffentlichen Meinung und den Militärs gegenüber zu stärken" (Jagow an Zimmermann, 31.08.1914, hier zitiert S. 120).
Trotz von Jagows Position an einer der Schnittstellen deutscher Außenpolitik sind bislang keine eigenständigen Darstellungen zu seiner Person erschienen. Diese Lücke beginnt der Tagungsband zu schließen und eröffnet hier im Sinne einer „historiographisch-biographisch" orientierten Untersuchung (S. 13) bereits interessante Perspektiven auf von Jagows Rolle in Kaiserreich und Weimarer Republik. Der Band gewährt damit einen ersten Ausblick auf das Editionsprojekt zu Jagows Privatpapieren und Publikationen (Bearbeiter: Reinhold Zilch), das die Fortführung der Reihe „Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts" der Historischen Kommission mit Spannung erwarten lässt.
By Verena Steller
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