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Christian Kuchler, Lernort Auschwitz. Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980–2019. Göttingen, Wallstein 2021.

Sauer, Michael
In: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-10-01), Heft 2, S. 574-575
Online review

Christian Kuchler, Lernort Auschwitz. Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980–2019. Göttingen, Wallstein 2021 

Christian Kuchler, Lernort Auschwitz. Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980–2019. 2021 Wallstein-Verlag GmbH Göttingen, 978-3-8353-3897-5, € 26,–

Der Besuch von KZ-Gedenkstätten ist seit geraumer Zeit an vielen deutschen Schulen üblich. Die Erwartungen an die Wirkungen solcher Besuche sind hoch. Ein wichtiges Besuchsziel neben Orten in Deutschland stellt die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau dar. Mit der Geschichte dieses Gedenk- und Lernorts und den Besuchserfahrungen (west-)deutscher Schüler befasst sich der Band von Christian Kuchler.

Im ersten Hauptkapitel zeichnet der Autor die Stationen der institutionellen Entwicklung nach: von der Gründung des „Staatlichen Museums in Oświęcim" als Gedenkort für polnische NS-Opfer 1947 bis zur Etablierung als internationaler Gedenkort für jüdische Opfer nach 1989. Sodann beschreibt er detailliert, wie ab Ende der 1950er Jahre erste Besuche in Gang kamen, zunächst von politischen oder kirchlichen Gruppen, erst später von Schulklassen. Gefördert wurden Klassenbesuche insbesondere durch die „Robert Bosch Stiftung" und die „Stiftung Erinnern ermöglichen". Im zweiten Hauptkapitel untersucht Kuchler anhand überlieferter Reiseaufzeichnungen die Eindrücke, die Schüler vor Ort gewonnen haben. Er konnte dabei auf Dokumente aus dem Bestand der genannten Stiftungen und des „Deutschen Polen-Instituts" zurückgreifen. In der Auswertung dieser Quellen treten vor allem emotionale Eindrücke in Erscheinung: ängstliche Erwartungen bei der Anreise; das Gefühl, das „Grauen der Vergangenheit" eindringlich und unmittelbar zu erleben; aus Fassungslosigkeit und Erschütterung resultierende Wut und Abgrenzung gegenüber den Tätern. Dabei würden, so der Autor, Täter dämonisiert, der Täterbegriff eng gedacht, Bystander fast ganz ausgeblendet. Als „Lehre" aus ihrem Besuch formulieren die Jugendlichen, sie wollten sich verstärkt für Menschenrechte und gegen Antisemitismus engagieren.

Freilich sagen solche Äußerungen nichts über längerfristige Effekte und praktische Konsequenzen aus. Um dem genauer nachzugehen, hat Kuchler ergänzend eine qualitative empirische Studie (im sozialwissenschaftlichen Sinne) vorgenommen. Für diese hat er Oberstufenschüler, die schon einmal eine Auschwitz-Exkursion absolviert haben, Gruppendiskussionen durchführen lassen. Im Vordergrund der Erinnerung stehen dort wie in den Reiseaufzeichnungen Emotionen. Grundsätzlich glauben die Probanden, dass man mit Hilfe solcher Erfahrungen aus der Geschichte lernen könne; gänzlich veränderte Haltungen, wie es die Reiseaufzeichnungen nahegelegt hatten, beschreiben sie jedoch nicht.

Eher wie ein Exkurs liest sich ein Kapitel, in dem der Autor sich mit den Potenzialen befasst, die Augmented und Virtual Reality für die Gedenkstättenarbeit bieten. Hier berichtet er u. a. über eine kleine empirische Studie zur Rezeption des Dokumentarfilms „Inside Auschwitz – das ehemalige Konzentrationslager in 360°" durch Schüler. Zum Abschluss formuliert er einige Vorschläge für neue Akzentsetzungen bei Gedenkstättenbesuchen, unter anderem: Der Ort selbst müsse im Mittelpunkt stehen, nicht die museale Präsentation oder die Erläuterungen eines Guides; Wissen und Emotionen müssten miteinander verzahnt werden; der Täterbegriff müsse differenziert werden.

Die Studie verbindet sehr überzeugend und innovativ unterschiedliche Forschungsfragen, -ansätze und -methoden miteinander: geschichtswissenschaftliche und geschichtsdidaktisch-empirische Verfahren, diese in sich noch einmal differenziert einerseits in institutionen- und wahrnehmungsgeschichtliche Perspektiven, andererseits in unterschiedliche empirische Settings. Wenngleich viele der Befunde (und seine Vorschläge) nicht überraschen und aus anderen Gedenkstättenforschungen ansatzweise bekannt sind, gelingt dem Autor damit eine umfassende und außerordentlich facettenreiche Untersuchung des Phänomens „Lernort Auschwitz". Das einzige Monitum: Aus Sicht empirischer Forschung bleibt unterbelichtet, wie die Reiseaufzeichnungen, vor allem aber die in den Gruppendiskussionen und in den Befragungen zur Filmrezeption generierten Schüleraussagen methodisch ausgewertet worden sind.

By Michael Sauer

Reported by Author

Titel:
Christian Kuchler, Lernort Auschwitz. Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980–2019. Göttingen, Wallstein 2021.
Autor/in / Beteiligte Person: Sauer, Michael
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-10-01), Heft 2, S. 574-575
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1374
Schlagwort:
  • LERNORT Auschwitz: Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstattenfahrten 1980-2019 (Book)
  • KUCHLER, Christian
  • MEMORIALS
  • HISTORIC sites
  • NONFICTION
  • Subjects: LERNORT Auschwitz: Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstattenfahrten 1980-2019 (Book) KUCHLER, Christian MEMORIALS HISTORIC sites NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Georg-August-Universität, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Didaktik der Geschichte, Göttingen,, 37073, Germany.

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