Tobias Bulang / Regina Toepfer (Hgg.), Heil und Heilung. Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 95) Winter, Heidelberg 2020. 282 S., € 42,–.
Auch Mediävisten sind konditioniert. Wenn irgendwo behauptet wird, etwas gebe es ‚erst' in der Neuzeit oder habe allenfalls Voraussetzungen in der Antike, setzt beim Mediävisten eine Art Sialorrhö ein. Nun ist es in der Wissenschaft aber anders als im Tierreich nicht mit dem bloßen Reflex getan: So wird es durch die Preisgabe mancher differentia specifica erkauft, wenn man das Raumzeitsegment, das man erforscht, retten will, indem man nachweist, dass es im Mittelalter eben auch schon alles gab. Vielleicht fürchtet man die Metonymie zwischen ‚einfachem' Gegenstand und ‚simplem' Forscher. Die beschriebene Überzeugung fordert jedenfalls Begründungen, die mehr leisten, als das ehedem ‚nicht Differenzierte' als ‚anders komplex' zu deklarieren (mit allen fatalen Konsequenzen, die das für die Kategorien der Beschreibung hat und an die dringend Occam's Razor angelegt werden müsste). Vor diesem Hintergrund erweist sich der hier zu besprechende Sammelband als aufschlussreich, gilt doch auch für Michel Foucaults ‚Selbstsorge', dass sie folgenreich an die pagane Antike gebunden und in dichotome Stellung zum Christentum gebracht wird, woraus ein Negativbefund für das christliche Mittelalter notwendig resultiert.
Entsprechend betonen die Herausgeber Tobias Bulang und Regina Toepfer in ihrer Einleitung zwar, dass „das philosophische Konzept der Selbstsorge zum christlichen Modell der Heilssorge umgedeutet" (S. 4) worden sei, weisen aber – und hier wird das Foucault-Schema verlassen – zugleich darauf hin, dass die „Transformation von antikem Heilkult und verpflichtender Selbstsorge in christlichen Gottesdienst [...] freilich nicht als konsequente und restlose Substitution des einen durch das andere verstanden werden" (S. 5) dürfe. ‚Umdeutung', ‚Transformation', mit Blick auf den Gegenstand dieses Bands zitieren die Herausgeber neben Foucaults ‚Technologien des Selbst' auch Stephen Greenblatts ‚Self-Fashioning': Das Nebeneinander dieser verschiedenen Konzepte lässt erkennen, dass in dem Band weder die unterschiedlichen Methoden zur Fassung historischen Wandels diskutiert noch Reflexionen über die Implikationen historiographischer Leitkonzepte gesucht werden. Vielmehr werden meist vorzügliche Fallstudien vorgelegt, die größtenteils aus der Altgermanistik stammen, aber ergänzt werden durch latinistische, medizinhistorische oder lexikographische Beiträge (S. 16f.). Eine – abgesehen von einer erratischen Anmerkung zur ‚Selbstsorge' im Lutheranismus (S. 10) – durch weiterführende Hinweise angereicherte, konzise Zusammenfassung des Bands findet man auf den Seiten 6 bis 16.
In der Zusammenschau der Beiträge – und selten lohnt sich die lineare Lektüre eines Sammelbands so sehr wie in diesem Fall – zeigt sich, wie Selbstsorge des nähern zu begreifen ist und in welchen Bereichen Formen der Selbstsorge gefunden werden können, aber eben auch welche Aspekte der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur davon unberührt bleiben. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Selbstsorge ist der leibseelische Zusammenhang, der sich sowohl im Bereich der mittelalterlichen ‚Iathrotheologie, Elementenlehre und Diätetik' zeigt, über die Wolfgang U. Eckart einen Überblick gibt (S. 19–40), als auch unter Fokus auf die historische Semantik des Nomen schmerz, der Anja Lobenstein-Reichmann nachgeht (S. 251–282). Berührt werden dabei neben Fragen von Institution und Gesellschaft – man denke an Klöster (S. 20–22) und Spitäler (S. 22f.) – auch die Prinzipien der Subjektphilosophie vor der cartesianischen Spaltung (bes. S. 253–255). Freilich erweist sich in beiden Beiträgen ‚das Mittelalter' nicht als monolithischer Block, vielmehr lassen sich Entwicklungslinien nachzeichnen, die etwa mit dem Einfluss der salernitanischen Schule (S. 33) und der weiteren Verbreitung und Umarbeitung der Regimina sanitatis in Wiegendrucken (S. 34f.) oder den spätmittelalterlichen Akzentuierungen der Passionsfrömmigkeit zu tun haben, die in der auf dem Prinzip der imitatio Christi gründenden compassio Möglichkeiten der Heilung erkennen.
Inverse Effekte von Heil(ung) und Unheil werden im Band auch an anderen Gegenständen betrachtet, ohne dass hier immer eine engere Bindung an das Thema der Selbstsorge auszumachen wäre. Die Beiträge fügen sich dennoch gut in den Band, denn sie lassen erkennen, in welchen (großen und wichtigen) Bereichen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur Selbstsorge keine Rolle spielt, obwohl Fragen von Heil und Heilung berührt sind. Dies betrifft zum einen die Spekulation über die Vollkommenheit des auferstandenen Christusleibs in der spanischen Spätscholastik, die Bernd Roling mit Blick auf Francisco Suárez, Gabriel Vazquez und Rodrigo Arriaga untersucht (S. 81–104). Hier sind die Reliquien, besonders aber das auf Erden, vor allem bei der Passion zurückgelassene Blut von besonderer Wichtigkeit, dessen Vereinigung mit der Gottnatur diskutiert wurde. Roling weist auch auf lutherische Theologen hin, die an diese Diskussionen nahtlos anschließen.
In der franziskanischen und dominikanischen Mystik, die Beatrice Trînca mit Blick auf den Zusammenhang von Ekel und Heil untersucht (S. 105–127), wird Selbstsorge nur insofern thematisch, als sie im Sinne der Christus- und Franziskus-Nachfolge respektive ‑Überbietung zurückgewiesen werden muss. Ob Ekelerfahrungen sich „im Falle der begnadeten Frauen", die sich in der Krankenpflege mit Ekelerregendem konfrontieren, dabei aber eine besondere Christusnähe erlangen (indem etwa getrunkenes Waschwasser zum Wein aus Christi Seite wird), tatsächlich „als Zugang zu einer alternativen Eucharistie [erweisen], als handle es sich um eine – extraordinäre – Kompensation für die fehlende Unmittelbarkeit im weiblichen Umgang mit dem Sakrament" (S. 125), bedürfte einer ausführlicheren Diskussion.
Umschlageffekte von Unheil und Heil untersucht Franziska Wenzel mit Blick auf Mären (S. 171–206), allerdings bleibt das Konzept der Selbstsorge hier schwach konturiert. Zentral für die untersuchten Mären und auch für den Pfaffen Amîs, den Schwankroman des Stricker, ist aus ihrer Sicht die Organisation einer Umkehr von Unheil in Heil durch ‚Figuren des Aufschubs', deren ‚Heilslogik' zwischen weltlichen (‚Verausgabung') und religiösen (‚Buße') Registern laviert (vgl. S. 206). Wie dem auch sei: Dieser Befund mag zunächst irritierend erscheinen, er führt aber zu einer historisch signifikanten Lage, die der überaus klare Beitrag von Holger Runow erhellt (S. 207–228): Runow liefert im Kern einen Negativbefund; im Sangspruch lasse sich ‚Selbstsorge' kaum ausmachen. Zwar mag ein von Runow ediertes Lied, das eher dem Meistergesang als der Sangspruchdichtung zugerechnet werden kann (S. 212 f. mit weiterführender Diskussion auf S. 214–218), ein Gegenbeispiel darstellen, doch bestätigt die Ausnahme den Befund (auch wenn Runow scharfsinnig Verhandlungen von Selbstsorge in den in den Liedern dargelegten bzw. ihnen vorausgehenden sozialen Konstellationen erkennt, vgl. bes. S. 226–228).
Es zeichnet sich ein recht eindrückliches Bild ab: In den Texten, die die Altgermanistik bevorzugt untersucht, spielen Formen der Selbstsorge kaum eine Rolle. Dies gilt für den Höfischen Roman – wobei Elisabeth Schmid in ihrem sehr differenzierten Beitrag mit Blick auf die Gawan-Handlung des Parzivals Wolframs von Eschenbach (S. 147–169) unterschiedliche Formen der Wundheilung analysiert, die je nachdem, ob es um den Gralbezirk (Anfortas) oder die „Welt des profanen Zaubers, in der Gawan sich seine Wunden zuzieht" (S. 166), geht, in anderen Registern verhandelt werden –, es trifft aber, dies vielleicht ebenso überraschend wie der Negativbefund im Sangspruch, auch für die Bibelepik zu, die Julia Zimmermann ausgehend von ihrem profunden Wissen über die Tanzwut mit Blick auf Der Saelden Hort (und die darin nach dem Prinzip des similia similibus curentur dargestellte Heilung, vgl. S. 246f.) untersucht.
Demgegenüber gibt es vor allem drei Bereiche, in denen Selbstsorge auch im (Spät‑)Mittelalter – und zwar explizit – verhandelt wird. Zum einen gibt es den Anschluss an die antike Pflichtenethik – vor allem die Rezeption von Ciceros Schrift De officiis –, die im Band nicht thematisiert wird. Zum anderen ist für Fragen der Selbstsorge die Trostliteratur einschlägig, die an Boethius' Consolatio philosophiae anschließt. Manfred Eikelmann legt in seinem Beitrag einen Fokus auf die narrative Darbietung des Prozesses von Heilung und Selbstsorge und geht auf die mittelalterliche Rezeption ein, wobei Konrad Humerys vor 1467 entstandene Bearbeitung (Tröstung der Weisheit) von besonderem Interesse ist (S. 41–62). Gerade mit Blick auf die narrative Entfaltung ist dieses Beispiel von ‚Gefängnisliteratur' interessant, es ist aber auch in ideenhistorischer Linie ergiebig. Denn in der spätmittelalterlichen Umschrift zeichnet sich – dies deutet Eikelmann an – eine über den „Kontext christlicher Heilsvorsorge und Heilssehnsucht" (S. 60) hinausgehende Tendenz ab. Auch Almut Schneider beschäftigt sich mit der volkssprachigen Aneignung philosophischer Texte, namentlich dem (vermittelten) Anschluss an den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis bei Heinrich von Neustadt (Gottes Zukunft, S. 63–80), legt ihren Schwerpunkt allerdings auf die affektive Vermittlung insbesondere durch die Musik.
Neben der Rezeption der antiken Pflichtenethik und den Um- und Fortschriften der Trostliteratur ist aber zum dritten die genuin geistliche Literatur nachgerade des Spätmittelalters von besonderer Bedeutung für die Thematisierung von Selbstsorge. In dieser Hinsicht verdient der luzide Beitrag von Dorothea Klein besondere Beachtung, in dem es um die Predigten Bertholds von Regensburg und Johannes Geilers von Kaysersberg geht (S. 129–145). Das Besondere am gewählten Corpus resultiert aus der Kombination von moraltheologischem und medizinischem Wissen, wobei eben diese Kombination „als persuasives Argument in der praktischen Seelsorge" (S. 133) eingesetzt wird. Unter Anschluss an die vielfältigen, gerade im Spätmittelalter intensivierten Bemühungen um Selbstsorge, die auch – wie im Band mehrfach gezeigt – durch die Konjunktur der Passionsfrömmigkeit promoviert werden, liefern gerade Geilers Predigten „Anleitungen zur Selbstsorge als spiritueller Praktik" (S. 140 in Bezug auf dessen zweite Predigt über den ‚geistlichen Lebkuchen'). Ekelphänomene sind hier mit einbezogen – in diesem Zusammenhang aber (ganz anders als im Fall der von Trînca untersuchten mystischen Literatur) im Sinne einer „Erziehung zur praktischen Lebenskunst" (S. 145).
Der Band lässt somit keinerlei Zweifel darüber, dass Selbstsorge im Sinne einer umfassenden Lebenskunst, also diesseits von Virtuosentum, dem christlichen Mittelalter nicht fremd war. Anhaltspunkte hierfür wird man allerdings weniger in der mediävistischen Hausapotheke finden, sondern im geistlichen Schrifttum nachgerade des Spätmittelalters (einschließlich seiner Voraussetzungen) – neben Predigten ist hier besonders auch die Traktatliteratur etwa aus den Zusammenhängen der Devotio moderna aufschlußreich –, das trotz der auch in diesem Band greifbaren Ergebnisse der Würzburger Forschergruppe immer noch der angemessenen Erschließung harrt. Mit Blick auf die Selbstsorge ließe sich unter Rekurs auf die genannten drei Bereiche dem ansonsten notorischen Gerede von der ‚Vormoderne' in der Tat Sachhaltiges entgegensetzen.
By Maximilian Benz
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