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Christian Kiening, Poetik des Kalenders in der Zeit des frühen Buchdrucks. Studien und Texte. (Mediaevistische Perspektiven 9) Chronos, Zürich 2020. 263 S., € 28,–.

Eybl, Franz M.
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 308-314
Online review

Christian Kiening, Poetik des Kalenders in der Zeit des frühen Buchdrucks. Studien und Texte. (Mediaevistische Perspektiven 9) Chronos, Zürich 2020. 263 S., € 28,– 

Christian Kiening, Poetik des Kalenders in der Zeit des frühen Buchdrucks. Studien und Texte. (Mediaevistische Perspektiven 9) Chronos, Zürich 2020. 263 S., € 28,–.

Christian Kiening legt ein handliches Buch vor, das der Literaturwissenschaft ein bisher eher abseitiges Beobachtungsfeld beeindruckend neu aufbereitet. Die Einleitung (S. 11–27) skizziert Begriff, Bestandteile und Geschichte des Kalenders und postuliert, „nicht nur zu beleuchten, wo die Kalender zu dichterischer Ausgestaltung gereizt haben", sondern auch eine Dimension aufzuzeigen, „die über das Pragmatische hinausgeht: eine innere Poetik, in der sich Berechenbarkeit, Eingängigkeit und Fantasie verbinden" (S. 25). Vom einfachen Cisiojanus bis zum literarisch raffiniert durchgeformten Werk durchläuft die Darstellung einen Zyklus zunehmender Komplexität literarischer Kalenderaneignung vom Spätmittelalter bis in die humanistische Dichtung, also etwa von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts.

Die kalendarischen Muster (Kapitel 2, S. 28–47) entfaltet Kiening am Beispiel der Stundenbücher, deren monastisch-liturgischer Stundenordnung der Kalender einen „jahreszeitlichen Rahmen" gibt (S. 30). Schöpfen die Très Riches Heures des Duc de Berry (S. 31–36) die astronomisch-computistische Komplexität des Kalenders in den Illustrationen intensiv aus, so laufen andere Kompendien des späten Manuskriptzeitalters eher auf Gesundheitslehren und Entscheidungshandreichung hinaus (Heinrich Laufenbergs Regimen, Conrad Bösners Passauer Kalendar, S. 40f.). Einen prognostischen Nutzen verfolgt Gallus Kemli (2. Hälfte 14. Jh.) in kunterbunten lateinisch-deutschen Notaten, während das 16. Jahrhundert zu systematisieren beginnt (Jakob Köbels Kalender auf 1512, Wiener Sammelhandschrift um 1550, S. 42). Grundlagen für das Kalendarische an der Schwelle zur Neuzeit sind das Makro-Mikrokosmos-Modell und die problematische Relation von Astrologie und Providenz (ebd.), das Konzept der Planetenkinder und die Temperamenten- beziehungsweise Humoreslehre (S. 45, 47). Doch geht es Kiening weniger um vormoderne Episteme als um „Pluralisierungsbewegungen" in der Interferenz von Welt- und Lebenszeit, Jahreslauf und Heilsgeschichte, die nun auch die „Aussagedimension einzelner Texte" beträfen (S. 44). Der Calendrier des bergers (1493) treibe „die Pluralisierung noch weiter [...] als seine deutschen Pendants" (S. 46).

Kapitel 3 „Mnemonische Verdichtung" (S. 48–69) widmet sich dem Cisiojanus, einer Verarbeitung der kalendarischen Heiligen- beziehungsweise Festliste zu Versen aus je einer Silbe des Heiligennamens (Silbencisiojanus, dez Steyrer Kalend um 1370/1380, S. 51f.) oder ganzer Gedichte im Wortcisiojanus (Heinrich der Teichner, S. 52f.). Ein Mainzer Cisiojanus auf 1410 verknüpft die „kalendarischen Nachbarschaften" der Heiligen unter dem Zeichen der Freude zu vergnüglichen Herbsttänzen (S. 54), der des Mönchs von Salzburg gestaltet neben der sprachlichen eine hohe „lyrisch-musikalische Dichte" (S. 57). Zu den drei verschiedenen Ausarbeitungen des Oswald von Wolkenstein (S. 57–65) demonstriert Kiening in sorgsamer Analyse einen „poetischen Überschuss, der eher über den Kalender hinausführt" (S. 62). Autoren wie Wolf Schwartzenbach, Gallus Kemli oder Jakob Köbel entwerfen narrative Großformen (S. 66). Kiening zeigt überzeugend, wie der Cisiojanus weit über die Merkfunktion hinaus poetisch aufgeladen werden konnte.

Gutenbergs Mainzer Türkenkalender auf 1455 und seinen Folgen gilt der Hauptteil des Kapitels 4 „Mediale Okkasionalität" (S. 70–87). Bereits in den 1450er Jahren erscheinen Texte „aus dem kalendarischen Spektrum" sowie die Sibyllenweissagung im Druck. Mit einer Kombination aus politischer Reimpublizistik und Neumondkalender entwirft der Türkenkalender Siegeshoffnung im Türkenkrieg (S. 74). Das Universale des Mondlaufs und das Partikuläre der Zeitsituation, das Feld der Okkasionalität, verschränkt sich in einer „Kombination aus konkret-zeitgeschichtlichen, universal-heilsgeschichtlichen und astrologisch-chronometrischen Aspekten" (S. 78). Bemerkenswert, auf welch differenzierte Weise hier eines der frühesten Druckprodukte als Beginn der späteren Entwicklung des Kalenders verstanden und dargestellt ist, obwohl es „keine unmittelbare Nachfolge gefunden hat" (S. 81), denn etwa Heinrich Eggesteins Heiliggrabkalender auf 1478 greift tiefer in die Geschichte zurück und verwendet eine anders akzentuierte, ästhetisch intendierte Überblendung der historischen, kalendarischen und heilsgeschichtlichen Ordnungen (S. 86f.).

Die Gestaltungsbandbreite poetischer Hybridisierung des Kalendarischen spannt Kapitel 5 zwischen „Zeitgeschichte und Liebesdinge[n]" auf (S. 88-119). Der Okkasionalität des Türkenkalenders folgt Hans Erhard Tüschs handschriftlicher Reimkalender auf 1466 mit Bezug auf den Konflikt zwischen Ludwig XI. und dem französischen Hochadel, den er „als einen astrologisch-astronomischen" perspektiviert (S. 92). Gerade die Straßburger Publizistik ist mit französischen Verhältnissen befasst, und wie der Cisiojanus „ist auch der gereimte Neumondkalender ein Formular, in das sich Verschiedenes einsetzen lässt" (S. 102). Ein anonymer Basler Einblattdruck von 1475/1476 wird neu transkribiert (S. 106–109) und überzeugend interpretiert (S. 110–115): Das Kalendergedicht bietet die „Folie einer Umbesetzung", Konnotationen verschieben sich „ins Grotesk-Obszöne", Referenzen ins Mehrdeutige. Literarische Verfahren wie Schlaraffenlandallegorik und Fiktion erzeugen strukturelle Offenheit, die offene Lektüren ermöglicht. Dass dies keine Eintagsfliege war, belegt Tüschs negative Minnelehre des Clärleins, die Unterweisung einer Halbwüchsigen durch ihre „lebens- und liebeserfahrene Mutter" (S. 116), ein verbreitetes Gedicht, aus dem Tüsch Teile übernimmt. Eingebettet in die Kalenderrhythmen, die dem Liebesrhythmus unterlegt sind, „darf die Mutter über viele Neumonde hin ihre fragwürdigen Methoden vorführen, am Ende triumphiert doch die Moral" (S. 119), folgt doch die Tochter der Mutter gerade nicht. Fragwürdig wäre auch die Diskursivität weiblicher Disziplinierung gewesen, die sich in der Frühneuzeit, wenig überraschend, oft des Kalenders bedient.

Kapitel 6 („Straßburger Kistleriana", S. 120–177) untersucht die Drucke des Bartholomäus Kistler (zu ihm S. 130f.), zuerst einen am Clärlein angelehnten Einblattdruck mit Reimkalender auf 1500, der die Elemente des Zungenlasters an den 13 Neumonden auffädelt (Text S. 121–127). Johann Lichtenbergers beispielgebende Prognosticatio (S. 131–136) hat Kistlers Publikationen beeinflusst, auch Hans Schrotbanks Prattica dütsch (1502, S. 136–141). Ein hüpsches lied von allen geschichten von disem jar (1500, Text S. 141–146) zeigt, dass Kistlers Unterhaltungsproduktion auch ohne große astronomische Präzision auskommt. Am „Schnittpunkt von Zeitgeschichte und Astrologie" (S. 176) steht das bis dahin „umfangreichste Kalendergedicht in deutscher Sprache" auf 1502 des Juristen Friedrich Fürer, neu transkribiert und eingehend analysiert (S. 148–174). Über 60 Kalenderdaten sind in ein Gedicht von 652 Knittelversen eingebaut (Text S. 150–167). Exaktheit und Logik bleiben der poetischen Wirkung untergeordnet (S. 170), Sozialkritik (mit Kontexten bis hin zur Bundschuhbewegung) und Rechtssatire führen zu einem „politisch-eschatologische[n]" Schluss (S. 171).

Die Wirkung der Kalender, Almanache und Praktiken (S. 174) beruht ganz wesentlich auf der Autorität eines im Druck konstruierten Autorpropheten. Dessen auctoritas stehen die Bauernpraktiken und Schäferkalender entgegen, da sie mit der Autorität der ländlichen Erfahrung spielen und damit eine „konstitutive Ursprungsfiktion und zugleich unübersehbare Spannung des Genres" liefern (S. 175). Dies wird das letzte Kapitel im Abschnitt zu Spenser aufnehmen (S. 221).

Kalenderparodien und „Satirische Almanache" (Kapitel 7, S. 178–203) seien als „imaginative Auseinandersetzungen mit astronomischen, astrologischen und kalendarischen Prinzipien" zu verstehen (S. 177). Praktikparodien stellen die Rolle der Astrologie als Orientierungshilfe (S. 178) satirisch in Frage und stehen damit im Kontext einer theologischen Diskussion, wonach Astrologie „gefährliche Unbedarftheit und drohende Gottesferne" (S. 181) bedeute.

Bersche, hier mit Sebastian Brant als Kritiker sorglosen Umgangs mit der Astronomie genannt, folgt in seinem Kalendergedicht der traditionellen Unterscheidung zwischen der erlaubten „natürlichen" „Astronomy | ein kunst Göttlich vnd frey", und der abergläubischen, Gottes Providenz spottenden Vorhersage als „bösem mißbruch".Severus Bersche, Ein Geistlicher Kalender sampt der Practik/ vff alle Jar/ biß zů end der welt. Zürich 1543, VD 16 B 2148, Zentralbibliothek Zürich, online [Abfrage 03.08.2020]. Das Besondere seines Reimkalenders ist nicht seine Position gegenüber der Astrologie, sondern der allegorisierende Durchlauf der sogenannten Erwählungen: „As he discusses each one, he redefines them in metaphorical, spiritual terms."Nicole Marie Lyon, Wreaths of Time: Perceiving the Year in Early Modern Germany (1475–1650). Diss. University of Cincinnati 2015. OhioLINK Electronic Theses and Dissertations Center, https://etd.ohiolink.edu [Abfrage 03.09.2020], S. 145. Bersches Kalender ist zugleich, und das stellte ihn auch in die Untersuchungsreihe Kienings, eine parodia christiana.

Doch abseits vom astrologischen Diskurs gewinnt Kienings Darstellung an diesem Punkt eine europäische Perspektive. Jean Molinets Prosaprognostik auf 1476 bietet „Kryptogramme, Rätselspiele, allegorische Strukturen, metaphorische Ketten", manches sexuell konnotiert (S. 183) wie auch beim einzigen gereimten Kalendertext Molinets, Le nouveau calendrier (S. 185). Poesie nach klassischer Definition (Jakobsons) tritt ein, wenn sich so die „syntagmatische Ordnung des Kalenders" auflöst und „eine Fülle paradigmatischer Verknüpfungen" zeigt (S. 186).

Beim Werk von Gallus Kemli (S. 187–196) aus den 1470er Jahren mag es sich „um den ältesten parodistischen Almanach überhaupt handeln" (S. 187). Er entwirft ein „groteskes Szenario": Die Himmelfahrt wird „von geschorenen Säuen vollzogen", der Himmelseinsturz am Ende der Zeiten erfolgt „samt fünf versengten Katzen" (S. 191). Die „Grundfigur" Kemlis „ist die der Umbesetzung" (S. 193), doch zeigt Kiening feinsinnig, dass dies nicht mit dem Modell des Karnevalesken aufzufassen sei, sondern als „Effekte der Suche" nach Überbietung und Variation (S. 194), was die Beschreibungsmatrix von der Mimesis zur Medialität und Stilistik zurückbiegt. Kemli lotet auf spielerische Weise „die Grenze aus, auf der Gottvertrauen und Heilsunsicherheit, Sternenglaube und Astrologieskepsis, Zeitkritik und Bildungshunger zusammentreffen" (S. 196).

Der parodistische Almanach von Hans Folz auf 1480 (S. 196–200) steht dagegen mit seiner Sprachkomik in der Nürnberger Fastnachtspieltradition. Folz entwirft mit Figuren bestimmter Berufe oder Stände wie Lucz Stolprian und Fricz Totengrebel eine erzählte Welt (S. 197), zusammengehalten „durch den Kontext von Vergnügungen (Tanz, Hochzeit, Fastnacht), vor allem aber durch die skatologische Dimension" (S. 198). Epigonal dazu stehen weitere Parodien eines Dr. Rossschwantz oder Eselbert Trinckgern (S. 200), die ihre teils bekannten Schwankstoffe „in einer Mischung aus obszönen wie skatologischen Bemerkungen und astrologischen wie meteorologischen Banalitäten" vorbringen (S. 201). Dass auch die einsetzende Konfessionalisierung die Prognostik und ihre Parodien ergreift, zeigt ein Kalender, hinter dem Ulrich Zwingli vermutet wird, und ein darauf reagierender von Thomas Murner (1527), der die Kalendarik „in antireformatorischer Polemik satirisch verfremdet" (S. 202).

Kapitel 8 erlaubt den finalen „Ausblick" (S. 204–230) auf die humanistische Kalenderdichtung. Ovids Fasti waren mit der christlichen Welt in Einklang zu bringen, sollten sie nicht bloß antiquarische Quellen bleiben wie in enzyklopädisch-wissenschaftlichen Werken (Junius Hadrianus, Michael Beuthner, Hieronymus Osius, Matthias Agricius, S. 213). Unter den in ihrer Varietät beeindruckenden Beispielen unterschiedlicher Transformationen („überwiegend nicht ediert und noch kaum von der Forschung erschlossen", S. 205) präsentiert Kiening Ludovico Lazzarelli, Lorenzo Bonincontri, Astrologe und Prognostiker, und Baptista Mantuanus, der als „Ovidersatz" einen christlichen Festkalender verfasste (S. 208). Girolamo Chiaravacci wählt Moses zu seinem Cicerone durch das Jahr, „begleitet allerdings von Pallas Athene und verschiedenen Personifikationen" (S. 212), Ambrogio Novidio Fracco entwickelt in zwölf Büchern über die Monate einen „fantasievollen Synkretismus" (ebd.).

Als seltenes transalpines Beispiel gilt Georg Crebicius (Croellianus), dessen in Distichen verfasste Fasti (1515) im ersten Teil den Festkalender, im zweiten eine bunte, eigentlich der Praktik entsprechende Topik von Jahreszeiten, Gewächsen etc. nebst moralischen Lehren bringen (S. 214). Die christlichen Fasti des Nathan Chytraeus (zwischen 1573 und 1578) nehmen wie protestantische Historienkalender (z. B. Paul Ebers Calendarium historicum, 1550) auch „die Geburts- und Todesdaten der großen Reformatoren" und weiterer bedeutender Personen auf (S. 216). In der Volkssprache publiziert Guillaume Guéroult Hymnes dv temps et de ses parties (1560) „mit gelehrten Prosaeinleitungen" über Grundelemente der Kalendarik; ein zweiter Teil bringt Monatsgedichte (S. 217f.).

Edmund Spensers 1579 anonymer Shepheardes Calender ist Schwerpunkt dieses Kapitels (S. 218–230). Bereits die antiquierte Typographie signalisiert das „Spannungsfeld von Altem und Neuem", dessen „kalendarische, sprachliche, literarische" Aspekte zur Diskussion stehen (S. 219). Historisch war in der Kalenderreformdebatte „eine Balance zwischen der antiken und der christlichen Kultur" zu finden (S. 220), literarisch mit dem Bezugsautor Chaucer, der hinter dem Hirtennamen Tityrus steckt, „die Neugewinnung einer Tradition für die englische Literatur" (S. 221). Die „Basiskonstellation" der zwölf Monatseklogen sind Monologe oder Unterredungen mit anderen Hirten, die der Hirt und Dichter Colin Clout als Sprecherfigur des Autors führt, das „Basisnarrativ" seine unglückliche Liebe zu Rosalind (S. 224). Spenser verfährt im „Klagegestus der Ekloge" und bringt zugleich „ein vielschichtiges Spiel der Zeitebenen [...] zwischen der linearen und der zyklischen Dimension der Zeit" (S. 225). Mit Horaz und Ovid gehe es nicht zuletzt um die ewige Geltungsdauer der Poesie. „Die zyklische Natur des Jahres wie der Gedichtsammlung weist über das Verstummen ihres Protagonisten hinaus" (S. 229).

Das handliche Buch umfasst die Darstellung mit etwa 160 Druckseiten und an die 100 Seiten Beifracht: Textbeispiele und 24 Abbildungen (durch geringe Auflösung nicht zur Lektüre gedacht) nebst Verzeichnissen und Register. Der enge Raum erzwang Verknappung und Verdichtung, auch zulasten methodischer Explikation. Seine eigene Begrifflichkeit frühneuzeitlicher „temporaler Dynamiken" nimmt Kiening als Leitkonzept nicht mehr explizit auf, einzig den Begriff der Pluralisierung, verstanden als „Trend zur Vervielfachung zeitlicher Dimensionen [...] oft in ein und derselben medialen Form". Manche zusammenfassenden Abstraktionen scheinen ein wenig hermetisch formuliert (vgl. S. 78, 80f.), was Fragen eher aufwirft als beantwortet. Die insgesamt breit erfassten Ergebnisse der internationalen Forschung werden oft als bloßer Hinweis nur genannt, nicht im Detail zitiert. Wohl zu spät für eine Auswertung erschien der gut informierte Forschungsbericht von Marco Heiles.

Gegenüber pointierten Wendungen zur Erläuterung kalendarisch strukturierter Gattungen stellt Kiening die Reflexion kalendarischer Medialität eher zurück (vgl. S. 25f.), sodass keine „Poetik des Kalenders" beschrieben ist, sondern die Poetisierung kalendarischer Formen. Kienings Begriff „Kalender" bezeichnet ein Funktionsbündel oder ein anthropologisches Konstituens: „Aus dem Kalender als einer Grundstruktur des menschlichen Daseins wird hier ein hybrides Medium, das verschiedene Anlagerungen erlaubt und sich an der Poetisierung des Alltäglichen versucht" (S. 24); das „Medium Kalender" könne „nach wie vor als ein beinah apotropäisches Remedium dienen in einer von Konflikten und Zwisten durchzogenen Welt" (S. 203). Schwer vorstellbar, wie die kalendarische Ordnungsleistung die Welt heilen sollte, und Thomas Murner „definiert" auch keineswegs, wie Kiening lesen will, den Kalender „als Mittel, sich gegen alle, die darin genannt sind, zu schützen" (ebd.). Das Heilmittel bleibt immer noch Gott, denn die Schlussformel Murners bittet, es „beware got alle frommen christen lüt vor allen denen so in dissem kalender verzeichnet sint", in Funktionsäquivalenz zu anderen Laster- und Ketzerschelten.

Wo Christian Kiening seine Virtuosität ausspielt, sind die überzeugenden Beobachtungen an einem bisher wenig beachteten, als „Kleinformen" verniedlichten Strang frühneuzeitlicher Poesie. Diesen über den deutschen Kulturraum hinaus zusammengesehen, in Bezug zur Zeit- und Selbstwahrnehmung gesetzt und in einen interpretatorischen Rahmen gestellt zu haben, ist das Verdienst des wichtigen Buchs.

Footnotes 1 Jonathan Green, Printing and Prophecy. Prognostication and Media Change 1450–1550. Ann Arbor 2012, Abschnitt „Johannes Lichtenberger: Constructing the Author-Prophet" (S. 43–49 im Kapitel „Prophets in Print", S. 39–61). Kiening greift (anders als S. 25f.) hier wie auch bei Besprechung Lichtenbergers auf Green nicht zurück. 2 Christian Kiening, „Hybride Zeiten: Temporale Dynamiken 1400–1600". In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 140 (2018), S. 194–231, hier S. 228. Worin Leistungszuwachs und Differenz gegenüber Landwehrs „Pluritemporalität" besteht, wird weder genannt noch diskutiert. Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2014, S. 38; vgl. auch S. 248–254. 3 Das konnte schiefgehen, wie bei Johann Scheible, dessen Eintrittskarte unter die „gelehrte[n] Kompendien" (S. 13) und ins Verzeichnis der „Forschungen" (S. 251f.) allein das Titelblatt war, denn bereits die Vorrede seines nur unterhaltenden Schaltjahrs (1846) klärt über ein Verlagsinteresse an der „Volks-, Wunder-, Curiositäten- und zunächst komischen Literatur" auf, die dem Leser „wirklichen Genuß" verspricht. Johann Scheible, Das Schaltjahr; welches ist der teutsch Kalender mit den Figuren, und hat 366 Tag. Bd. 1 [von 5]. Stuttgart 1846, Bayerische Staatsbibliothek München: P.o.germ. 1269 l-1, online [Abfrage 31.08.2020]. 4 Marco Heiles, „Die Entstehung des modernen Kalenders. Zur ungeschriebenen Medien- und Literaturgeschichte der deutschsprachigen Kalender von den Anfängen bis um 1600". In: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte 2 (2019), S. 208–225, online [Abfrage 27.07.2020], veröffentlicht am 07.06.2019. 5 Thomas Murner, Der Lutherischen Evangelischen Kirchen Dieb und Ketzer Kalender. Luzern 1527, Zentralbibliothek Zürich: Kalender 1527 III, 2 Schweiz, online [Abfrage 26.07.2020], hier im Schlussabsatz des Einblattkalenders.

By Franz M. Eybl

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Titel:
Christian Kiening, Poetik des Kalenders in der Zeit des frühen Buchdrucks. Studien und Texte. (Mediaevistische Perspektiven 9) Chronos, Zürich 2020. 263 S., € 28,–.
Autor/in / Beteiligte Person: Eybl, Franz M.
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 308-314
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0003
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Wien, Institut für Germanistik, Universitätsring 1, A-1010 Wien, Austria

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