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Ulrike Draesner, Schwitters. Roman. Penguin, München 2020. 480 S., € 25,‒.

Schilling, Erik
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 393-396
Online review

Ulrike Draesner, Schwitters. Roman. Penguin, München 2020. 480 S., € 25,‒ 

Ulrike Draesner, Schwitters. Roman. Penguin Verlag, München 2020. 480 S., € 25,‒.

Ulrike Draesners Roman Schwitters ist bereits optisch und haptisch ein besonderes Buch. Der Schutzumschlag lässt sich aufklappen und bietet dann – neben den üblichen Informationen (Klappentext, Portrait der Autorin etc.) – einen Überblick über die Biographie von Kurt Schwitters, in zwei Fassungen: „das gute Leben" und „die andere Seite des Lebens". Die eine Hälfte versammelt berufliche Erfolge, familiäres Glück und Zu-Hause-Sein beziehungsweise Ankommen, die andere Hälfte Ablehnung seiner Kunst, persönliche Schicksalsschläge und Momente der Flucht. Beigefügt ist dem Roman außerdem eine Broschüre mit Informationen über den Roman sowie Fotos und Dokumenten zu Schwitters und Draesner, wobei die Autorin die Zweiteilung von Schwitters' Biographie in dem Satz „Welch Lebensglück und Lebensscheitern in einem" aufgreift, mit dem sie sich in der Broschüre zitieren lässt. Der Roman selbst führt die Zweiteilung weiter, indem Schwitters' Biographie darin in ein „deutsches" und ein „englisches" Leben gegliedert ist, wobei Draesner aus Schwitters' deutschem Leben nur die letzten Momente vor seiner Flucht ins Exil schildert, nicht hingegen die Jugendjahre und die Zeit als dadaistischer Künstler. Der Roman setzt am 12. Oktober 1936 ein und reicht bis zu Schwitters' Tod im Januar 1948. Ein Ausblick auf das „Nachleben" des Künstlers rundet den Roman ab.

Draesners Roman fügt sich in einen seit etwa zehn Jahren zu konstatierenden Trend der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Autoren-Biographien fiktional zu gestalten. Dabei standen insbesondere die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im Vordergrund des Interesses. So portraitierte Klaus Modick in Konzert ohne Dichter (2015) die Worpsweder Künstlerkolonie rings um Rainer Maria Rilke oder in Keyserlings Geheimnis (2018) den Schriftsteller Eduard von Keyserling. Hans Pleschinski schrieb mit Königsallee (2013) zunächst einen Roman über Thomas Mann, dann mit Wiesenstein (2018) einen über Gerhart Hauptmann. Michael Kumpfmüller beschäftigte sich in Die Herrlichkeit des Lebens (2011) mit dem Leben Franz Kafkas. In dieser Reihe steht mit Schwitters nun Draesners Roman über den Künstler Kurt Schwitters, der sowohl mit seinen expressionistischen Gedichten (An Anna Blume) als auch mit seinen dadaistischen Collagen im Gedächtnis geblieben ist und dessen Wirken sich insbesondere im Sprengel-Museum seiner Heimatstadt Hannover nachvollziehen lässt.

Gleichzeitig setzt Draesner mit Schwitters das Thema ‚Flucht und Vertreibung' fort, dem sie sich in ihrem Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) erstmals widmete und das sie zu einer Trilogie auszubauen plant. Schwitters flieht Anfang 1937 vor den Nationalsozialisten, die seine Kunst als ‚entartet' bezeichnen, nach Norwegen, dann 1940 von dort aus weiter nach England, wo er bis zu seinem Tod 1948 bleiben wird. Es handelt sich – wie schon in Sieben Sprünge vom Rand der Welt – um einen mehrfach perspektivierten Fluchtvorgang, der ergänzend zu Schwitters' Sicht auch aus derjenigen seiner Ehefrau Helma und seines Sohnes Ernst geschildert wird (im „Nachleben" wird die Multiperspektivität zusätzlich um die Sichtweise von Schwitters' englischer Lebensgefährtin ergänzt).

Gleichzeitig wird die Flucht der Familie Schwitters in den Kontext der ‚großen Geschichte' eingebettet, wie Draesner es in ihrem Roman Spiele (2005) bereits mit der Verbindung von Familien- und Weltgeschichte rings um das Attentat bei den Olympischen Spielen in München 1972 vorgeführt hatte. Schwitters ist ein historischer Roman – und entsprechend finden sich individuelles und weltgeschichtliches Schicksal enggeführt: „Das deutsche Heer würde nach Norden marschieren. [...] Norwegen. Für einen Krieg gegen England als Basis ideal. Helma rannte in ihr Schlafzimmer. Wenn sie nach Oslo fuhr, sofort, käme sie rechtzeitig. [...] Dann wären sie wenigstens zusammen, könnten zusammen weiterfliehen" (S. 106). Die Bewegungen des deutschen Heeres (‚große Geschichte') bestimmen die Bewegungen der Familie Schwitters (‚kleine Geschichte'), deren einer Teil (Kurt und Sohn Ernst) zu diesem Zeitpunkt bereits nach Norwegen geflohen ist, während der andere Teil (Ehefrau Helma sowie Mutter und Schwiegermutter) noch in Hannover ausharrt.

Darüber hinaus – und mit der Multiperspektivität verbunden – greift Draesner Schwitters' Collage-Technik in mehrfacher Hinsicht erzählerisch auf: Sie nimmt Elemente seines Lebens auseinander, um sie anschließend neu zusammenzusetzen. Sie baut Collage-Elemente früherer Texte in ihren Roman ein: „Die Lufttemperatur steht in einem durchschnittlichen Verhältnis zum Jahresmittel" (S. 168), heißt es etwa als Verweis auf das erste Kapitel von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder „Vielleicht freute die Geliebte seiner 27 Sinne sich" (S. 251) in Anspielung auf Schwitters' Gedicht An Anna Blume. Draesner nutzt das Collage-Verfahren auch als Metapher für das Erfassen der geschichtlichen und biographischen Kontexte: „England und Deutschland, seine [Schwitters'] beiden Heimaten, zielten darauf, einander auszulöschen. Er klebte Collagen aus Hälften, oft zerfielen sie in weitere Teile, die er mit schwachen Brücken, mit Hölzchen, Schnüren, Drähten verband" (S. 212). Was Draesner in Schwitters' Collage-Technik also auch – und insbesondere – findet, ist eine Metapher für das Zerbrechen und Neu-Zusammenfügen einzelner Bestandteile: Alte Ordnungen lösen sich auf (wie bei Musil) und werden in scheinbar unpassender Manier neu montiert, ergeben dabei aber doch ein neues Ganzes. Schwitters verkörpert dieses Prinzip nicht nur mit seiner Kunst, sondern auch mit seiner Biographie – und hier zeigt sich der besondere Wert des biographischen Romans, den die Gattung bei Draesner gewinnt.

Damit lässt sich der Bogen zurück zu Schwitters' ‚zwei Leben' schlagen, die der Schutzumschlag präsentiert hatte: Die Zweiteilung verläuft nicht nur entlang der Linie ‚gut' vs. ‚anders', sondern auch entlang des Ärmelkanals (hier ist an Draesners Roman Kanalschwimmer von 2019 zu denken, dem Schwitters in vielerlei Hinsicht verbunden ist), der Schwitters' Leben in die besagte deutsche und eine englische Hälfte teilt. Diese Verbindung deutscher und englischer Elemente ist der letzte Aspekt, auf den in der vorliegenden Rezension eingegangen werden soll und der – wie die anderen erwähnten Aspekte des Romans – einen Ausgangspunkt für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung dazu bieten kann: Schwitters bietet Draesner auch eine Figur, anhand derer sie die deutsche und die englische Sprache sezieren und collagenartig neu zusammensetzen kann, etwa im folgenden Beispiel: „Scrutinize nannte man solches Schauen, es klang wie screw-tin-eyes. Zinnaugen schraubten sich in etwas und untersuchten es, bohrten nach" (S. 222). Mit der Schwitters-Perspektive erweitert Draesner den für sie ohnehin typischen detailgenauen Blick auf Sprache in doppelter Hinsicht: durch die Brille des Dadaisten, der Sprache und Welt in ihre Bestandteile zerlegt und neu kombiniert, sowie durch die Brille des Exilierten, der in einem neuen Land eine neue Sprache erlernt, im ständigen spielerischen Abgleich mit seiner Muttersprache.

Die hier erwähnten fünf Facetten von Draesners Roman – literaturgeschichtliche Kontextualisierung im Rahmen biographisch orientierter Romane der vergangenen zehn Jahre, das Thema Flucht und Exil, die Gattung des historischen Romans, die poetologischen Fragen rings um Collage, Intertextualität und Multiperspektivität sowie die sprachlichen Besonderheiten – können Ausgangspunkte darstellen für Perspektiven der Forschung auf diesen reichhaltigen, sprachlich kunstvollen, historisch informierten Roman, dem eine intensive wissenschaftliche Analyse zu wünschen ist.

Footnotes 1 So Draesner im Interview mit Susanne Krones in der dem Roman beigefügten Broschüre, S. 10.

By Erik Schilling

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Titel:
Ulrike Draesner, Schwitters. Roman. Penguin, München 2020. 480 S., € 25,‒.
Autor/in / Beteiligte Person: Schilling, Erik
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 393-396
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0030
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, Germany

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