Zum Hauptinhalt springen

Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer, Bern – Wien 2020. 175 S., € 28,40.

Ajouri, Philip
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 284-286
Online review

Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer, Bern – Wien 2020. 175 S., € 28,40 

Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer, Bern –Wien 2020. 175 S., € 28,40.

Die Leserforschung hat schon lange auch Bilder als Quellen ausgewertet. Sie spielen schon in Erich Schöns Studie Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers (1987) eine wichtige Rolle. Seit einigen Jahren ist gerade die intermediale Perspektive auf das Thema in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Der Ausstellungskatalog Lektüre. Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder (2018) oder, literaturwissenschaftlich orientiert, der Sammelband Leseszenen. PoetologieGeschichteMedialität belegen das Forschungsinteresse ebenso wie die Monografie Schrift in bildender Kunst (2020). Da ist Ulrich Johannes Schneiders originelles Buch über den Finger im Buch eine willkommene Ergänzung.

Der Autor möchte einen Beitrag zu einer Geschichte des Lesens leisten. Er entdeckte – auch mit Hilfe von Bilderdatenbanken – das Motiv des oder der Lesenden mit dem „Finger im Buch". Dieses Motiv innerhalb einer Geschichte des Lesens zu behandeln, ist eigentlich paradox, denn im Moment der bildlichen Darstellung liest die Figur ja gerade nicht. Nur wenn man das Bild zu einer minimalen Geschichte erweitert – Lesen, Unterbrechung, Lesen –, kommt der Vorgang des Lesens ins Spiel.

Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig und Kulturphilosoph, umkreist in seinen Ausführungen immer wieder das Lesen als Problem. Obwohl alltäglich, ist es für ihn ein rätselhafter Vorgang, dem man sich nur schwer nähern kann. Eine „Ethnologie der Lesekultur" (S. 11), eine „Phänomenologie des Leseakts" (S. 10) wird erwogen. In seinem Buch geht es nicht primär um verschiedene Leserinnen oder Leser, um unterschiedliche Lektüren oder Räume, in denen gelesen wird, sondern um Lesesituationen, von denen die „unterbrochene Lektüre" eine ist. Das Lesen soll uns fremd werden, und im Spiegel der Kunst können wir es beobachten.

Dazu unternimmt Schneider einen Gang durch die Kunstgeschichte: 30 Bildnisse (Gemälde, Fotografien, Skulpturen, Kupferstiche und Bilder anderer Tiefdruckverfahren) werden beschrieben und kontextualisiert. Das früheste Bild ist eine Verkündigung aus dem Jahr 1333 von Simone Martini (Uffizien), am Ende steht ein Denkmal von Eusebio Güell, das die Brüder Miquel und Llucià Oslé i Sánez de Medrano 1935 für die Fabriksiedlung Colònia Güell vor den Toren Barcelonas geschaffen haben. Die Bandbreite ist also groß: von der religiösen beziehungsweise andächtigen Lektüre Mariens über lesende Stadtbürger, Geistliche, Adlige und Wissenschaftler bis hin zu Sozialreformern. Die historische Tiefe und inhaltliche Breite bei gleichzeitiger Fokussierung auf das sehr spezielle Motiv machen den Reiz und den Wert des Buches aus.

Schneider gliedert sein Buch in zehn Kapitel, in die die Bildbesprechungen eingeteilt werden, wobei nicht alle Kapitel Bildbesprechungen enthalten; so zum Beispiel das Kapitel „Über Lesen und Alltag", in dem Schneider über die Ambivalenz nachdenkt, dass das Lesen den Menschen aus dem Alltag herauslöst und zugleich Teil desselben werden kann.

Die Kapitelüberschriften und die Zuteilungen der Bildbeschreibungen zu den Kapiteln leuchten nicht immer ein. Das Kapitel „Lesen beschäftigt" zeigt Lesende, die nicht mehr oder weniger mit ihrer Lektüre beschäftigt sind als diejenigen auf den übrigen Bildern. So etwa Bronzinos Junger Mann mit Buch (S. 54), den wir aus leichter Froschperspektive anblicken, und der so stolz-distanzierend, ja blasiert den Betrachter fixiert, dass man kaum auf die Idee käme, er sei wirklich mit einer Lektüre ‚beschäftigt', und noch weniger, seine Pose sei eine „Bitte um die Aufnahme in den Zirkel der Dichter und Denker" (S. 56). Aber es geht Schneider auch nicht vorwiegend um Bildaussagen, die in Kapitelüberschriften bündig zusammengefasst wären, sodass die Bilder nur noch Illustrationen einer bestimmten Lektürepraktik wären, sondern um ein nachdenkendes und durchaus auch fantasievoll-essayistisches Umkreisen und Umschreiben des Lesens anhand von Bildern. Bei seiner Bildlektüre ergänzt Schneider die Leerstellen, welche die Bilder lassen. Das betrifft immer wieder die Frage nach den Titeln der Bücher in den Händen der Figuren (z. B. S. 56, 62, 69, 70, 74, 84, 88): Die Bücher können nicht identifiziert werden, aber Format und Einband des Buchs, der Habitus und der soziale Kontext der Person laden zu historisch informierten Spekulationen ein. Diesen muss man nicht immer folgen, aber auf diese Weise erfährt der Leser etwas über dargestellte Figuren und den damaligen Buchmarkt. Zudem vollzieht Schneider das nach, was bei diesem Thema nahezu unvermeidlich ist, nämlich die Geschichte der jeweiligen unterbrochenen Lektüre auszugestalten.

So lädt Schneider dazu ein, über die Praxis des Lesens nachzudenken und sich selbst auf die Suche nach ähnlich gut definierten Leseszenen zu begeben. Sein Buch ist dabei ein wertvoller und zugleich schöner Ausgangspunkt.

Footnotes 1 Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987. 2 Vgl. Cathrin Klingsöhr-Leroy (Hg.), Lektüre. Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder. München 2018; Irina Hron-Öberg / Jadwiga Kita-Huber / Sanna Schulte (Hgg.), Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität. Heidelberg 2020; Werner Sollors, Schrift in bildender Kunst. Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen. (Wie wir lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik 1) Bielefeld 2020.

By Philip Ajouri

Reported by Author

Titel:
Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild. Piet Meyer, Bern – Wien 2020. 175 S., € 28,40.
Autor/in / Beteiligte Person: Ajouri, Philip
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 284-286
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0042
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Mainz, Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, Abteilung Buchwissenschaft, Jakob-Welder-Weg 18, D-55128 Mainz, Germany

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -