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Theo Buck, Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie. Böhlau, Köln – Wien – Weimar 2020. 253 S., € 35,–.

Braun, Michael
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 367-371
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Theo Buck, Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie. Böhlau, Köln – Wien – Weimar 2020. 253 S., € 35,– 

Theo Buck, Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie. Böhlau, Köln – Wien – Weimar 2020. 253 S., € 35,–.

Was muss man wissen, um ein Gedicht zu verstehen? Das ist eine Gretchenfrage der Textphilologie. Brisant wird sie bei Gedichten, die als nicht leicht verständlich, als dunkel, ja hermetisch gelten. Das ist zweifellos der Fall bei Paul Celan. Unbestritten gehört sein dichterisches Werk zur Weltliteratur. Es ist in Einzel- und Gesamtausgaben differenziert ediert, vielfach übersetzt, aber so verzweigt erforscht, dass selbst Experten Mühe haben dürften, allen Wegen der Interpretation nachzugehen. Immerhin bieten das Celan-Handbuch (2008), Hans Michael Speiers Celan Jahrbuch (seit 1987) und die neuerdings erscheinenden Celan-Perspektiven (2019) gute Orientierungshilfen.

Im doppelten Jubiläumsjahr 2020, in dem des 100. Geburtstages und 50. Todestages von Paul Celan gedacht wurde, ist die Biographie – wieder – in den Mittelpunkt gerückt. Helmut Böttiger und Wolfgang Emmerich haben sich Celan aus der Perspektive der Wirkungsgeschichte angenähert und die besondere deutsch-jüdische Konstellation von Leben und Werk beleuchtet. Doch sie scheuen vor der Konsistenz einer Biographie zurück. „Je weniger man über Celan wusste, desto mehr wurde er zu einer Ikone. Doch je mehr man seitdem über Celans Leben erfahren hat, desto verwirrender werden die Versuche, ihm gerecht zu werden", resümiert Böttiger etwas ratlos.

Theo Bucks Celan-Buch schließt diese Lücke. Es verfolgt das Leben Celans von der Kindheit und Jugend in Czernowitz über die Stationen in Frankreich (1938/39), Bukarest (1945–1947), Wien (1947/48) und die Jahrzehnte in Paris bis zum Freitod des Dichters (1970). Das geschieht in wohlbedachter Nähe zu den poetischen und autobiographischen Zeugnissen Celans. Die Forschung wird in entscheidenden Fällen, aber generell nur partiell zu Rate gezogen; das Verzeichnis der Sekundärliteratur ist wenig länger als eine Seite. Das kommt der Lesbarkeit des Buches sehr zugute und liegt womöglich auch darin begründet, dass Theo Buck dieses Buch kurz vor seinem Tod am 25. Oktober 2019 hat abschließen können; sein Sohn Bertolt hat es verdienstvollerweise aus dem Nachlass geholt und erstlektoriert. Es ist die Summe einer jahrzehntelangen intensiven Auseinandersetzung mit Celans Werk, die in den sieben Bänden der Celan-Studien (1993–2005) und in zwei exzellenten Text-Kommentaren dokumentiert ist.

In einer Vorbemerkung bezeichnet Theo Buck sein Buch als eine Werkbiographie. Damit ist der Versuch gemeint, dem „engen Zusammenhang von Leben und poetischem Schaffen" (S. 11) nachzuforschen. Buck widersteht der Versuchung, biographische Details als Generalschlüssel zu verwenden, und fern liegt ihm auch eine allzu freihändige Textinterpretation. Damit steht er sozusagen zwischen Szondis biographisch-historischen Überlegungen und Gadamers textisolierender Hermeneutik. Es wäre Theo Buck zufolge aber ebenso unbefriedigend, wenn man „nichts Privates und Ephemeres" wissen wollte, wie wenn man versuchte, die „Fremdbestimmung" des Gedichts durch reale Bezüge gegen dessen innere Logik auszuspielen. „Der literarische Text ist das, worauf es dem Lesepublikum ankommt", heißt es programmatisch in einer anderen Werkbiographie von Theo Buck. Damit wahrt er eine Haltung des entfernten Verstehens: Der Dichter steht auf einer anderen Raum- und Zeitebene als der Leser; dazwischen sind – mit einem Wort von Celan – „Sprachgitter", durch welche die deutende Darstellung auf den Text und seinen Sitz im Leben des Dichters zu blicken hat. Mit anderen Worten: In der Herausforderung des Lesers durch den Text liegt die Methode (vgl. S. 76), nicht in einer harmonisierenden Empathie.

Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina: So lautet der Untertitel von Theo Bucks Buch. Damit sind prägende Konstanten benannt, die vom Leben ins Werk reichen: die Überwältigung vom jüdischen Opfergedächtnis, das „schicksalhaft Einmalige" (GW 3, S. 175) der deutschen Muttersprache als Mördersprache, die Bedeutung der Herkunft.

Diese Wurzeln können gar nicht genug betont werden, wenngleich Theo Buck Celan letztlich nicht von der jüdischen Tradition zum Juden gemacht sieht. Er macht für Celans jüdisches Selbstverständnis dessen Erfahrungen als Jude in der antisemitismusanfälligen Gesellschaft seiner Zeit verantwortlich (vgl. S. 46 u. ö.). Celan war ja kein gebürtiger Deutscher. Als deutschsprachiger Jude aus Czernowitz in der Bukowina, „der nie in Deutschland hätte leben wollen" (S. 14), kam er dennoch mit seinen Gedichten in Deutschland an. Das macht Theo Buck in einlässlichen Kapiteln über den – Celan allerdings bald verleideten – Erfolgsweg der Todesfuge deutlich (S. 70–77, S. 108–113). Das Gedicht entstand 1945 (Buck bevorzugt mit Celans Selbstzeugnis die Spätdatierung), es wurde zum meistgelesenen Text der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, 1988 im Deutschen Bundestag rezitiert und ist aus dem öffentlichen Bewusstsein „nicht mehr wegzudenken" (S. 77). Bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf wurde es im Frühjahr 1952 auf groteske Weise missverstanden, weil Celans rhythmisch-singende Vortragsweise und das damals verdrängte jüdische Opfer-Gedächtnis nicht zu dem „Deutschlanddeutsch" der tonangebenden Autoren der Gruppe 47 passten. Gleichwohl knüpfte er in Niendorf erfolgversprechende Verlagskontakte.

Folgerichtig und subtil trägt Theo Bucks werkbiographische Darstellung Celans poetischer Entwicklung Rechnung, die angesichts eines „wirklichkeitswunden" (GW 3, S. 186) Lebenslaufes zusehends komplexer und zugleich sprachlich immer „nüchterner, faktischer" (GW 3, S. 167) wurde.

Neben der Todesfuge, die als poetologischer Text durch „Themenkopf und parallele Durchführungen", „verfremdende rhythmische Abfolgen" und „polyphone Mehrstimmigkeit" hervortritt (S. 73), wird vor allem das Langgedicht Engführung (1958) als werkbiographische Zäsur herausgestellt (S. 157–167). In den 171 Versen dieses Textes, so Buck, führe Celan den Leser in eine Sprachlandschaft, die strukturiert ist durch intensive Wiederholungen, gebrochene Sätze, Worte, Lautungen und durch den Stimmwechsel zwischen ausgelöschten Menschen und mitleidenden Nachgeborenen. Es gehe, über den Holocaust hinaus, um „jeden Verrat und jedes Verbrechen am Menschen in der Geschichte" (S. 165). So habe Celan „mit diesem Gedicht durch die konsequent praktizierte Zeilenstruktur, die fragmentierende Wort- und Satzbrechung und die generelle Reduktion und Konzentration des Ausdrucks die poetische und poetologische Grundlage geschaffen für seine weitere Arbeit" (S. 167).

In diesem Sinne gibt Theo Buck, der in Tübingen über die Entwicklung des deutschen Alexandriners promoviert hat, einen wichtigen Anstoß für eine formgeschichtliche Betrachtung von Celans dichterischem Weg. Der führt von dem frühen Gedicht Nähe der Gräber, wo „daheim" noch auf den „schmerzlichen" deutschen „Reim" gereimt wird, über die Schieflage des Reims in der Bukarester Zeit, wo „Stickerein" auf „Adler schrein" gereimt wird, bis zur radikalen Abkehr von romantischen, symbolistischen und modernistischen Traditionen, zum Pathosverzicht und zur späten „Lyrik der Wortreste" (S. 214). Die „Musikalität" (GW 3, S. 167) von Wohlklang und Sprachmagie der Werkphase der 1940er und 1950er Jahre migriert spätestens seit Celans Band Sprachgitter (1959) in die Abgründe der Worte, in den poetischen „Neigungswinkel" (GW 3, S. 168) einer zutiefst empfindlichen, eben „wirklichkeitswunden" Existenz. Dazu gehören auch die schweren depressiven Schübe, die Celan in seinen letzten Lebensjahren in psychiatrische Behandlung und zu einer Irrfahrt durch Südfrankreich im Oktober 1965 (S. 190–206) brachten. Die Schlusskapitel von Theo Bucks Buch führen aus zugeneigter Distanz und mit präziser Textauslegung diese poetisch produktive, aber existentiell zerrüttende Phase vor Augen: „Fraglos war der Schreibakt für ihn ein hinhaltender Überlebensakt" (S. 206).

Im Mittelpunkt von Theo Bucks Werkbiographie stehen stets die Gedichte. Sie sind Modelle für die „ästhetisch stimmige Verinnerlichung bestimmter Lebensstrukturen im Sinne freier schöpferischer Umsetzung" (S. 31). Besonders deutlich wird dies an Celans Übertragung von Rimbauds Gedicht Le bateau ivre (1871) in eine deutsche Fassung, die gerade durch Celans muttersprachliche Eigenschöpfung dem Urhebertext auf Augenhöhe begegnet (S. 129–143). Auch damit dominiert – und überlebt – das Werk die Biographie. Gegenüber dem „Geheimnis der Begegnung" (S. 81) Celans mit Frauen, den frühen Geliebten Ruth Lackner und Ingeborg Bachmann und Celans Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange, wahrt die Werkbiographie eine Zurückhaltung, die angesichts der andernorts erschienenen Briefwechsel und Lebenszeugnisse als vernünftig, ja auch nobel bezeichnet werden kann.

Theo Bucks Celan-Buch wirbt für ein genaues Lesen und Wiederlesen der Gedichte. Es ist ein Streifzug durch eine Dichtung, die exemplarisch berührt, weil man – wie Ulrike Draesner schreibt – „nicht ‚alles'" verstehen muss, „aber immer nachdenken/nachhören" kann. Theo Bucks Interpretationen legen die Grundlage dafür, dass dieses Nachdenken und Nachhören von Celans Gedichten produktiv einsetzen kann: poetologisch, formgeschichtlich, auf Celans Lesens- und Lebensspuren. „Lesen lernen" ist deshalb die würdige Botschaft dieser exzellenten Werkbiographie.

Footnotes 1 Markus May / Peter Goßens / Jürgen Lehmann (Hgg.), Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart – Weimar 2008; Hans Michael Speier (Hg.), Celan Jahrbuch. Bd. 11. Würzburg 2020; Bernd Auerochs / Friederike Felicitas Günther / Markus May (Hgg.), Celan-Perspektiven. Heidelberg 2019. – Celans Werke werden mit der Sigle GW zitiert nach der Ausgabe: Paul Celan, Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt/M. 1983. 2 Wolfgang Emmerich, Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Göttingen 2020. 3 Helmut Böttiger, Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Köln 2020, S. 8. 4 Theo Buck, Todesfuge. Mit einem Kommentar. Aachen 1999; ders., Gespräch im Gebirg. Mit einem Kommentar. Aachen 2002. 5 Hans-Georg Gadamer, Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans ‚Atemkristall'. Frankfurt/M. 1973, S. 130. 6 Peter Szondi, „Celan-Studien". In: ders., Schriften II. Hg. von Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 395. 7 Theo Buck, Hans Joachim Schädlich. Leben zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Köln – Weimar – Wien 2015, S. 9. 8 Vgl. zur Frühdatierung des Gedichts auf 1944 Thomas Sparr, Todesfuge. Biographie eines Gedichts. Stuttgart 2020, S. 64f. 9 Herta Müller, zitiert S. 112 (ohne Quellenbeleg). Vgl. zuletzt Peter Rychlo (Hg.), Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan. Berlin 2020. Ulrike Draesner, „Die Poesie reizt das Extrem". In: Michael Eskin, „Schwerer werden. Leichter sein". Gespräche um Paul Celan mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner. Göttingen 2020, S. 113–170, hier S. 135. Theo Buck, „Auf Atemwegen". Celan-Studien VI. Aachen 2004, S. 9.

By Michael Braun

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Titel:
Theo Buck, Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie. Böhlau, Köln – Wien – Weimar 2020. 253 S., € 35,–.
Autor/in / Beteiligte Person: Braun, Michael
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 367-371
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0045
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Classen-Kappelmann-Straße 24, D-50931 Köln, Germany

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