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Christian Kracht, Eurotrash. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 224 S., € 22,‒.

Jürgensen, Christoph
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 396-400
Online review

Christian Kracht, Eurotrash. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 224 S., € 22,‒ 

Christian Kracht, Eurotrash. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 224 S., € 22,‒.

Im Frühjahr 2021 wurde ein besonderes literarisches ‚Dienstjubiläum' gefeiert, und zwar vom Autor, seinen Freunden beziehungsweise Kollegen und den einschlägigen Literaturkritikern gemeinsam: Christian Kracht beging ein Vierteljahrhundert Faserland, indem er mit Eurotrash eine Fortsetzung schrieb, die Freunde reagierten enthusiastisch auf die via Instagram lancierte Ankündigung des Romans („Endlich. Can't wait", gab der literaturpolitische Verbündete von einst, Benjamin von Stuckrad-Barre, den Ton vor, dem über 1000 Likes folgten), und die Literaturkritik sekundierte mit der sofortigen Kanonisierung als Meisterwerk, das bleiben würde (Dennis Scheck etwa war sich ganz sicher). Bemerkenswert ist dabei nicht, dass der Inszenierungsvirtuose Kracht das Erscheinen des Romans medienwirksam vorbereitete, und auch nicht, dass er dabei auf sein Netzwerk zählen konnte. Aber erstaunlich mag doch erscheinen, dass die Kritik sich mehr oder minder einstimmig auf das Urteil ‚Meisterwerk' einigen konnte, zumal in der Erinnerung daran, dass Faserland bei Erscheinen fast ebenso einhellig verrissen wie Eurotrash jetzt gefeiert wurde – und dabei der ‚Vorgänger' gleich mit. Erkennen lässt sich hier eine die Handlungsrollen verunklarende Annäherung von Selbst- und Fremdinszenierung, die zuvor schon eingesetzt hatte, spätestens mit Imperium (2012), und noch einmal kategorial gesteigert wurde durch den Authentifizierungsgestus von Krachts – bezeichnenderweise unpubliziert gebliebener – Frankfurter Poetik-Vorlesung 2018, in der ein sonst sphinxhaft auftretender Autor von jugendlichen Missbrauchserfahrungen berichtet und von dort Spuren ins Werk angedeutet hatte – eine Annäherung, die mittlerweile fast zur Deckung der Positionen von Autor und Kritikern geführt hat. Insofern kann sich eine Besprechung des Werkes nicht allein auf dessen ästhetische Faktur konzentrieren, sondern muss sein feldstrukturelles Umfeld mitbedenken. Doch der Reihe nach.

Werbewirksam ausgeflaggt wurde Eurotrash also vom Autor wie seinem Verlag als Fortsetzung des längst legendären Debüts, aber ist es das überhaupt? Bejahen lässt sich diese Frage, insofern der Roman auf eine Weise an sein ‚Vorbild' anknüpft, die mit Genette als Form der Hypertextualität erkennbar wird, insofern er Nachahmung und Transformation des Originals zugleich vollzieht. So beginnen beide Romane, um mit der auffälligsten Strukturparallele zu beginnen, mit dem Wort „Also" und enden mit „bald". Zwischen diesem autoreferentiellen Rahmen folgen zudem beide Texte dem Muster der Roadnovel, der eine bekanntermaßen, indem er von Sylt nach Zürich führt, der andere, indem er seine Figuren kreisförmig von Zürich aus über verschiedene Stationen nach Zürich zurückfahren lässt. Mehr noch, über den generischen Rückbezug hinaus ahmt Eurotrash den mündlichen, kolloquialen Stil von Faserland nach, eine Sprechweise, die Kracht seither nicht mehr verwendet hat, genauer gesagt: Zum Stil-Pastiche tendieren alle seine Romane, sie imitieren Schreibweisen, aber mit Eurotrash spricht er sich erstmals selbst nach. Auch lassen sich Parallelen in der Figurenzeichnung erkennen, so wenn der Erzähler von Eurotrash ständig raucht, und überhaupt in der (auch) parodistischen Wiederaufnahme der Welthaltung. Erneut werden beispielsweise ständig Markennamen genannt, aber nun nicht mehr distinktionsstrategisch vom Protagonisten, um sich von der Umwelt abzugrenzen, stattdessen vielmehr vom ‚neuen' Erzähler, um sich von seinem Vorläufer zu unterscheiden. Um nur die auffälligste Verschiebung zu nennen: Der autodiegetische Erzähler von Eurotrash wirft sich nicht noch einmal die berühmteste Barbourjacke der deutschen Literaturgeschichte um, wie Schimanski einst in der Wiederaufnahme seiner Rolle den verschlissenen Parka, sondern „einen dunkelbraunen, etwas groben Wollpullover" (S. 11). Auch geht es wieder um Fisch, doch statt um Fisch-Gosch nun um das Rössli und seine berühmten Forellen, wiederum wird viel Taxi gefahren, und es geht ein zweites Mal an ein Grab, strukturanalog erneut die finale Station der Suche in den Roadnovels markierend: Führte Faserland noch an das Grab Thomas Manns und rückte den Text dergestalt in die Richtung einer Camouflage-Literatur, so wird jetzt die Ruhestätte von Borges besucht, einem der großen Trickser der Literaturgeschichte, für den ‚eins zu eins' nie galt.

Insbesondere in Sicht auf den Erzähler ist Eurotrash jedoch gerade keine Fortsetzung von Faserland. Denn der autodiegetische Erzähler von Faserland blieb ja aus guten Gründen namenlos, gleich zum Auftakt der ‚Fortsetzung' informiert der Erzähler hingegen: „Dazu muß ich [...] sagen, daß ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun leider nicht mehr einfällt, Faserland genannt hatte" (S. 11; der Anfang prangt übrigens auch verkaufsfördernd auf der Umschlagrückseite). Folgerichtig heißt dieser Erzähler nun Christian Kracht und er nennt immer wieder Stationen aus der Biographie seines ‚Erfinders', familiäre Konstellationen etwa (die interviewweise bestätigte Nazi-Vergangenheit des Großvaters sowie dessen abseitige sexuelle Neigungen, das soziale Profil des Vaters, eines profilneurotischen Aufsteigers) oder die in Frankfurt öffentlich bekannt gemachte Missbrauchserfahrung – alles gestellt allerdings unter die Gattungsangabe ‚Roman', womit der Wahrheitswert behauptet und zugleich dementiert wird, eine geradezu ‚klassische' Form der Autofiktion.

Wenn man so will, kommt Kracht damit nun bei derjenigen literarischen Form an, die ihm kritikerseits von Anfang an zugeschrieben wurde. Denn sicher, Faserland spielt mit Krachts biographischem Hintergrund, mit den bekannten Realien aus seinem Leben wie der „wohlstandsverwahrlosten" (S. 64) Zeit im Internat. Und sicher, Kracht hat die interpretatorischen Nachstellungen, das heißt den Versuch, Autor und Erzähler miteinander zu identifizieren, nicht zurückgewiesen, sondern dazu lächelnd geschwiegen. Aber im strengen Sinne autofiktional ist Faserland dennoch nicht, wenn der Begriff nicht aufgelöst und auf alle Texte angewendet werden soll, die in irgendeiner Weise die Biographie des Autors ins Literarische transformieren – dann wären ja auch die Buddenbrooks autofiktional. Oder noch einmal anders: Die Frage nach dem Verhältnis von Verfasser und Figur wurde im Fall von Faserland vorrangig textextern diskutiert, anstatt ein diegetischer Problemfall zu sein.

Eurotrash also nimmt diese Fremdzuschreibung gewissermaßen auf und realisiert sie innerhalb des Textes. Schon das erste Motto warnt, als wollte es Krachts bisheriges Schaffen summieren, „What is fully, completely understood leaves no trace as memory". Nicht ganz verstanden werden kann, übersetzen wir dieses Motto, eine Romanhandlung, die einerseits über eindeutig erkennbare Realitätssignale eine Überprüfbarkeit der Textdaten in der wirklich wahren Wirklichkeit anbietet oder sogar provoziert (nicht wenige Rezensenten haben eingestanden, textinterne Behauptungen gegoogelt zu haben), und andererseits viele Störsignale einstreut, angefangen mit der Gattungsangabe. Der fiktionale wie der autobiographische Pakt gelten folglich beide und paradoxer Weise zugleich, wie es sich für eine Autofiktion gehört. Und ebenfalls typisch für einen autofiktionalen Text ist, dass er sich über diese Grundstruktur hinaus dominant selbstreferenziell organisiert, sprich: sich mit sich selbst beschäftigt, mit seinem Verfasser und Werk. In diesen Zusammenhang einzuordnen ist beispielsweise die Distanzierung des Erzählers vom Faschismus, die innerhalb des Textes auf die Familiengeschichte bezogen ist und zugleich auf die textexterne Werkbiographie Krachts referiert.

Dieses unentscheidbare Oszillieren von Autor und Erzähler, von Text und Kontext ist von der Kritik als meisterhaft und „perfekte Trennung von Autor und Autor" (so Tobias Rüther in der FAZ) bewertet worden. Verwundern kann diese Begeisterung, weil Kracht hier einen vergleichsweise hochkonjunkturellen und ästhetisch hochrangigen Diskurs innerhalb der Gegenwartsliteratur aufnimmt, nennen lassen sich hier etwa Thomas Glavinic' Das bin doch ich (2007), Felicitas Hoppes Hoppe (2012) oder Jan Brandts Tod in Turin (2015) – und diesem Diskurs keine originelle Variante hinzuzufügen vermag, ja eher sogar hinter den ästhetischen Standard zurückfällt, der von den genannten und vielen weiteren Texten etabliert wurde.

Origineller und, überraschend für Kracht, sogar berührend ist die Mutter des Erzählers gelungen, mit der zusammen er auf Reisen geht. Zwar wird sie gelegentlich zur Stichwortgeberin der selbstreferenziellen Faktur degradiert, etwa wenn sie ‚Christian Kracht' Das blindgeweinte Jahrhundert vorhält: „Solche Sachen solltest Du mal schreiben, wie Marcel Beyer. Das ist ein guter Schriftsteller. Nicht so einen belanglosen Unsinn, wie Du ihn schreibst, den ohnehin keiner lesen will" (S. 154) – und sie dann mit einer Reihe von Beispielautoren nachsetzt, mit Knausgård, Houellebecq, Ransmayr und Kehlmann. Ebenso überdeutlich selbstbezüglich ist ihr Bedürfnis, sich vom Sohn Geschichten erzählen zu lassen. „Erzähl mir doch etwas." – „Wahrheit oder Fiktion?" – „Das ist mir egal. Entscheide Du" (S. 74). Aber wenn man so will, gewinnt sie gegen diese funktional bedingte Erstarrung ein erstaunliches Eigenleben. Alt und todkrank, tabletten- und alkoholsüchtig, überdies gehandicapt durch einen künstlichen Darmausgang, ist sie dennoch ungeheuer vital geraten, mit ihr gewinnt ein psychologischer Realismus Kontur, der nie zu lebensecht ist und doch menschlich anmutet. Mehr noch, sie ist gegen ihre körperliche Verfallenheit ausdrücklich als starke Person der Handlung konzipiert, die zum Aufbruch mahnt, die in einer großen Szene 600.000 Franken schmutzigen Geldes abhebt, um sie an wen auch immer zu verschenken, die sich in einer steckenbleibenden Gondel ohne Verlust ihrer Würde vom Sohn den Stoma-Beutel wechseln lässt.

Im Finale kommen psychologischer Realismus und fiktionsspielerische Autofiktion dann tatsächlich noch auf grandiose Weise zusammen, hier reiben sich der auf Ironie gestellte erzählerische Gestus und die empfindsame Reise durch die Schweiz nicht mehr – weil die Autofiktion nicht mehr als Behauptung über den Textstatus läuft, sondern ganz in das Verhältnis der beiden Figuren verlagert ist. Die Szene müsste eigentlich ungekürzt geschildert werden, damit keine Nuancen verloren gehen, aber notgedrungen raffen wir: Im Glauben, Richtung Flughafen und von dort nach Afrika unterwegs zu sein, schläft die Mutter im Taxi ein, der Sohn jedoch weist den Fahrer an, zurück nach Winterthur zu fahren, in jene psychiatrische Klinik, von der die Handlung ihren Ausgang genommen hat. Mit der Ankunft in Winterthur erwacht die Mutter, und statt ihrem wortbrüchigen Sohn Vorwürfe zu machen, geht sie auf sein Spiel ein, den Flug nach Afrika verschlafen zu haben und nun eben dort angekommen zu sein. Oder tut sie nur so? Im Rahmen der Autofiktion lässt sich das nicht entscheiden. Wie auch immer: Die zum Empfang herbeieilende schwarze Pflegerin wird ihr zur Jägerin, der Krankenhausflur zur Olduvai-Schlucht, und mit dem Rollator geht sie zu den Zebras. Und natürlich gebührt ihr das letzte Wort des Textes.

Alles in allem scheint der Roman daher in der psychologisch emphatischen Figurenzeichnung einen neuen Aspekt in Krachts Werk einzuführen, lesenswert, unterhaltsam und immer wieder komisch ist das allemal. Spannender erscheint allerdings die werkpolitische Dimension, die mit ihm aufscheint, und damit zusammenhängend das Verhältnis der Literaturkritik zu ‚ihrem' Gegenstand. Oder noch einmal anders: Dringend evaluiert werden sollte, wie Krachts Weg von der strikten De-Kanonisierung zur fast schon selbstverständlichen Verankerung im Kanon verlaufen ist. Aber das ist eine Aufgabe, die über diese Rezension hinausführt.

By Christoph Jürgensen

Reported by Author

Titel:
Christian Kracht, Eurotrash. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 224 S., € 22,‒.
Autor/in / Beteiligte Person: Jürgensen, Christoph
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 396-400
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0056
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Bamberg, An der Universität 5, D-96047 Bamberg, Germany

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