Zum Hauptinhalt springen

Annette Gerok-Reiter / Anna Sara Lahr / Simone Leidinger (Hgg.), Raum und Zeit im Minnesang. Ansätze – Spielarten – Funktionen. (Studien zur historischen Poetik 29) Winter, Heidelberg 2020. 398 S., € 45,–.

Kellner, Beate
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 291-295
Online review

Annette Gerok-Reiter / Anna Sara Lahr / Simone Leidinger (Hgg.), Raum und Zeit im Minnesang. Ansätze – Spielarten – Funktionen. (Studien zur historischen Poetik 29) Winter, Heidelberg 2020. 398 S., € 45,– 

Annette Gerok-Reiter / Anna Sara Lahr / Simone Leidinger (Hgg.), R aum und Zeit im Minnesang. Ansätze – Spielarten – Funktionen. (Studien zur historischen Poetik 29) Winter, Heidelberg 2020. 398 S., € 45,–.

Die Beiträge des Bandes explorieren, welche Erträge die Analyse von Raum und Zeit für den Minnesang erbringen. Besonders nach der Aufwertung der Kategorie des Raumes im Zusammenhang mit dem sogenannten spatial turn seit den 1990er Jahren wurden Raum und Zeit in den Literaturwissenschaften intensiv als Analysekategorien für narrative Texte genutzt und auch in der Mediävistik erprobt. Obgleich es an Studien zu Raum und Zeit in der mittelalterlichen Lyrik nicht mangelt, unterblieb doch eine systematische Betrachtung und Bewertung der analytischen Leistung dieser Kategorien für die Lyrik. Diesem Desiderat begegnet der vorliegende Band.

Eine erste Gruppe von Beiträgen ordnet sich der Frage nach „Elementareinheiten – Elementarordnungen" von Raum und Zeit im Minnesang zu. Mit der Betrachtung der frühen Sangspruchdichtung bringt Claudia Lauer eine Vergleichsperspektive zur Analyse des Minnesangs in den Band ein und zeigt, wie Raum- und Zeitkonzepte hier in der Relation zu verschiedenen Themen gestaltet sind. Sie differenziert die Vergegenwärtigung von christlichen Raum- und Zeitvorstellungen im religiösen Spruch von Tendenzen zur Objektivierung der dargestellten Raumzeitlichkeit im weltlich lehrhaften Spruch und von Strategien der Subjektivierung von Zeit in Sprüchen, in denen es um die Sängerexistenz geht. Der Beitrag von Diana Roever geht von der Zinne als konkretem baulichen Bestandteil der Burgarchitektur aus. Roever macht deutlich, wie aus der Zinne ein literarischer semiotisch aufgeladener Topos wird, und versucht, einen topisch-diagrammatischen Analyseansatz zu entwickeln, wobei der Rückgriff auf die Diagrammatik und die Vorstellung, die Rezipienten würden sich ein „Arbeitsdiagramm" (S. 53) der Raumbeziehungen anlegen, spekulativ bleibt. Der Frage nach dem Verhältnis von Reimsemantik und Raumsemantik ist der perspektivenreiche Beitrag von Uta Störmer-Caysa gewidmet. Über Reim- und Klangstrukturen, die Wörter jenseits verwandter Bedeutungen verknüpfen können, bilden sich häufig paradigmatische Beziehungsnetze in den Minneliedern aus, was am Beispiel der topischen Begriffe linde, zinne und Rîn (Rhein) durchgespielt wird. Der Reim hat zudem das Potential zur Verkürzung von Kommunikation und lässt über die mit den Reimwörtern aufgerufenen Personen, Orte und Handlungen Plots en miniature aufblitzen. Mittels oft wiederholter und daher wahrscheinlich eingeübter Reime haben die Rezipienten die dazugehörigen Wörter wahrscheinlich schon mitgehört und antizipiert, was die lineare Abfolge des Hörens durchkreuzen konnte.

Natureingang und Jahreszeitentopos bilden eines der häufigsten Raum-Zeit-Gefüge im Minnesang aus. Daher ist eine Reihe von Beiträgen dieser oft, aber nicht abschließend untersuchten Konstellation gewidmet. Anna Kathrin Bleuler untersucht die Darstellung des Jahreszeitenwechsels in den Sommerliedern bei Neidhart und macht deutlich, dass es hier zwei gegenläufige Arten der Darstellung gibt: zum einen die Entgegensetzung von Sommer und Winter, zum anderen die Betonung der Wiederholung vorgängiger Sommer. Daraus wird gefolgert, dass Typus II Beständigkeit evoziere und eine Haltung der uneingeschränkten Freude zeigen will, während Typus I dem Hohen Minnesang mit seiner Betonung des Leids näherstehe. Etwas unklar bleibt hier, ob die Entgegensetzung der beiden Typen derart schematisch gehandhabt wird und stabil ist, wie hier angenommen wird, und man ausgehend davon auf unterschiedliche zugrunde liegende poetische Traditionen schließen kann. Mit dem Begriff des Chronotopos arbeitet Maximilian Benz. Gerade die Raum-Zeit-Konstellation des Natureingangs eröffne den Sängern – so Benz – die Möglichkeit, intensive Aussagen über die minne zu machen und dennoch im Rahmen dessen, was im Minnesang sagbar ist und als decorum gilt, zu bleiben. Bei Heinrich von Veldeke und Heinrich von Rugge diene der Jahreszeitentopos insofern als Folie, um die ‚Stimmung' und ‚Gestimmtheit' der Minne zu evozieren und – bemäntelt von Bescheidenheitsgesten – eine „erotische Verheißung" (S. 119) und selbst „ein Vereinigungsphantasma" (ebd.) etwa über kosmische Metaphorik anzudeuten. Auf diese Weise zeigt Benz, wie der Jahreszeitentopos als Ermöglichungsstrategie genutzt wird, auch über Intensitäten der Minne zu sprechen, die eigentlich tabuisiert sind. Burghart Wachinger arbeitet bei seiner Analyse von Tannhäusers drittem Tanzleich heraus, dass der Natureingang hier genutzt wird, um eine höfisch überschriebene Natur mit einer im Stile Neidharts als bäuerlich gekennzeichneten Hofgesellschaft zu kontrastieren. Zwischen den so entfalteten Umschlagspunkten wird Liebe zum einen als höfisch und als „etwas harmlos Vergnügliches" (S. 136) dargestellt, zum anderen aber als in der sexuellen Verwirklichung als folgenreich und problematisch gezeigt, wenn es etwa zu Schwangerschaft und Ausgrenzung kommt.

In den folgenden Beiträgen wird differenziert ausgearbeitet, inwiefern die Kategorien Zeit und Raum im Minnesang zur Modellierung der Minnekonstellation dienen. Luzide zeigt Ricarda Bauschke, wie staete und verne als wesentliche Elemente der Hohen Minne über Strukturen und Metaphoriken von Raum und Zeit bestimmt werden. Indem der beständige Dienst an einer und nur dieser einen Dame auf der Zeitachse über staete demonstriert wird und gleichzeitig Raummetaphern und topographische Vergleiche genutzt werden, um das Verhältnis von innerer Nähe und äußerer Distanz zwischen den Liebenden je neu zu verhandeln, ergeben sich eben jene Spannungen und Dynamiken, welche die Varianz des Minnesangs ganz maßgeblich bestimmen. Die Distanz zwischen den Liebenden, die häufig als Relation der räumlichen Ferne, aber auch als eine der sozialen Differenz gedacht wird, löst gerade eine Dynamik der versuchten Annäherung an die Dame aus, die in vielen Liedern zentral ist. Christoph Huber geht den Zeitachsen im Minnelied bei Reinmar und Heinrich von Mügeln nach. Bezogen auf Reinmar deutet er das sprachliche Inventar temporaler Angaben bei diesem Sänger an und zeigt, wie Zeitdauer auch als Zeitraum realisiert werden kann. Zugleich wird beleuchtet, wie die Vorstellung von einer einsinnig linearen Geschehensabfolge als klar konturierte Zeitstruktur bei Reinmar durch Rückblicke und Ausblicke ‚untergraben' wird, so dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewissermaßen in einem „labilen Jetzt" (S. 159) zusammenfallen. Demgegenüber konturiert Heinrich von Mügeln in seinem Minnelied III, religiöse Vorstellungen von Liebe aufgreifend und transformierend, eine fortwährende „Heilszeit der Liebe" (S. 168).

Sonja Glauchs Beitrag zielt auf die Erschließung einer „Zeit-Poetik" Reinmars. Ihren detailreichen Analysen liegt unter anderem folgende Prämisse zugrunde: Die Hohe Minne zielt auf ‚Entzeitlichung' der Liebe, muss aber temporale Angaben und Denkmuster nutzen, um sie negieren zu können. Auf diese Weise ergibt sich, so folgert Glauch, ein für Reinmar und die Gattung Minnekanzone als ganze konstitutives „Spiel zwischen Verzeitlichung und Entzeitlichung" (S. 178). Harald Haferland kommt es darauf an, „Raumsprünge und Zeitblasen" (S. 201) bei Morungen herauszustellen. Der Ausgangspunkt des Hier und Jetzt des Sängers, von dem aus alle Referenzen im Liedcorpus zu denken sind, werde – so Haferland – durch die ‚Konzeptzeit' überlagert, die den Verlauf der Minnebeziehung von ihrem Beginn über die Gegenwart in die Zukunft hinein umfasst. Diese Zeitformen seien bei Morungen häufig auch durch Imaginationen und Träume gebrochen, was es dem Sänger ermögliche, emotionale Zustände in gedachte Räume und Zeiten zu versetzen. Anders gesagt seien die so entstandenen „Raum-Zeit-Sprünge" (S. 237) gerade die poetische Strategie Morungens, um extreme psychische Zustände darzustellen.

Den Raum- und Zeitvorstellungen in Walthers ‚Lindenlied' (L 39,11) widmet sich Franz-Josef Holznagel. Er geht von der Beobachtung aus, dass es in diesem Lied eine signifikante Spannung zwischen den scheinbar detaillierten Angaben zum Raum der Begegnung zwischen den Liebenden und der Unbestimmtheit des Ortes der Sprecherin gebe. Im Lichte einer erneuten detaillierten Untersuchung des ‚Lindenliedes' kommt Holznagel zu dem Schluss, dass es am Ende offenbleibt, ob die Sprecherin die Regeln der Dezenz beim Reden über Intimität verletzt. Dies werde auch darin deutlich, dass die Liebesvereinigung den Rezipienten nur als Spur und Abdruck in der Natur vor Augen gestellt wird und dass das Lied insgesamt von „einer kalkulierten Unschärfe" (S. 263) gekennzeichnet ist. Katharina Mertens-Fleury stellt die Frage nach allegorischen Räumen und Zeiten im Minnesang am Beispiel des Wilden Alexander. Indem sie sich auf die Analyse der Raumkonstellationen im Leich Mîn trûreclîchez klagen (KLD VII) und der Zeitvorstellungen im Lied Hie vor dô wir kinder wâren (KLD V) konzentriert, erschließt sie Umbesetzungen zwischen geistlicher und weltlicher Semantik. Die Verfasserin bearbeitet damit ein Feld, das in der Minnesangforschung bislang eher vernachlässigt worden ist.

Um die Frage der ‚Aufhebungen' von Raum und Zeit und um mögliche ‚Präsenzeffekte' des Minnesangs kreisen weitere Beiträge des Bandes. Gemeint sind zum einen Phänomene wie Inszenierungen von Stillstand der Zeit oder Bewegungslosigkeit im Raum. Zum anderen soll im Anschluss an Hans Ulrich Gumbrechts Vorstellung von Präsenz in einem a-hermeneutischen Sinne (S. 19 mit Anm. 42) untersucht werden, wie die Lieder etwa über Klangphänomene jenseits ihrer Sinndimensionen Nähe zu den Rezipienten, Unmittelbarkeit und Präsenz erzeugen. Bei dieser Problemstellung bleibt zweierlei unklar: In welchem Verhältnis stehen die postulierten ‚Präsenzeffekte' zu den ‚Aufhebungen' von Raum und Zeit? Und wie will man mögliche ‚Präsenzeffekte' angesichts der Tatsache, dass wir keine Zeugnisse von Rezipienten haben, methodisch kontrolliert erfassen?

Simone Leidinger stellt zwei einstrophige Lieder Dietmars von Aist ins Zentrum ihrer Untersuchung und möchte zeigen, dass diese trotz distanzierender Elemente über ihren Reichtum an Klängen in ihrer Wirkung eine Unmittelbarkeit hervorrufen, die sie als ‚lyrischen Präsenzeffekt' versteht. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass sprachliche Zeichen semantisch bestimmt, aber Distanzsignale seien, während Klang eine asemantische „Kontaktkategorie" (S. 313) sei, die körperlich unmittelbar berühre. In Bezug auf Hadlaubs Serena stellt auch Katharina Philipowski die Frage nach Präsenz und geht im Unterschied zu Leidinger von den Zeitstrukturen aus. Zwar wird in den meisten Tageliedern durch Diegese eine erzählte Welt aufgebaut, über die das Publikum keinen unmittelbaren Zugang zur dargestellten in der Vergangenheit liegenden Situation hat, doch gibt es Varianten der Vergegenwärtigung auch im Tagelied (z. B. in Morungens Tageliedwechsel). Hadlaub steigere diese Tendenz, indem er in seiner Serena Präsenz durch die konsequente Nutzung des Präsens erzeugt. Er führt auf diese Weise die im Tagelied in der Regel rückblickend erzählte Situation der Liebesvereinigung mit der Vortragssituation zusammen und präsentiert sie dem Publikum als ‚Jetzt'-Zeit.

Albrecht Hausmann erläutert, dass Sehnsucht im Minnesang stets als Sehnsucht nach dem Unverfügbaren gedacht ist. Er spricht weder im Hinblick auf Reinmar noch auf Walther von der Vogelweide von tatsächlichen Präsenzeffekten im Vortrag der Lieder. Die Suggestion von Präsenz stelle sich allerdings ein, wenn das Ich in der Gegenwart des Liedvortrags vom Singen und Lieben spreche, nicht jedoch, wenn es eine Frau sprechen lasse, denn ihr Handeln und Denken sei zum Zeitpunkt des Liedvortrags immer schon vorgängig und liege nicht in der Verfügungsmacht des Sängers.

Margreth Egidis Überlegungen zum Zusammenhang von „Zeit, Raum und Subjektivität bei Hartmann von Aue und Burkhard von Hohenfels" beschließen den Band. Am Beispiel von Hartmanns Lied Mîn dienst der ist alze lanc (MF 209,5) wird die endlose ‚Zerdehnung' von Zeit im Minnesang deutlich gemacht und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass keine Geschichte der Minne erzählt, sondern Narration geradezu verweigert wird. Im Blick auf die Raumdimension deute das Lied zwar Bewegung an, doch letztlich geht es gerade um deren „Stillstellung" (S. 385). An Burkhards von Hohenfels Diu süeze klâre wunder tuot (KLD 6,V) werden ebenfalls Zeit- und Raumindices analysiert und gezeigt, was sie im Hinblick auf die Konturierung von Subjektivität des Ich leisten.

In der Summe gelingt es den Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes, zentrale Problemkonstellationen des Minnesangs ausgehend von den Kategorien von Zeit und Raum auf innovative und perspektivenreiche Weise zu beleuchten.

By Beate Kellner

Reported by Author

Titel:
Annette Gerok-Reiter / Anna Sara Lahr / Simone Leidinger (Hgg.), Raum und Zeit im Minnesang. Ansätze – Spielarten – Funktionen. (Studien zur historischen Poetik 29) Winter, Heidelberg 2020. 398 S., € 45,–.
Autor/in / Beteiligte Person: Kellner, Beate
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 291-295
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0057
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, Germany

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -