Monika Fick, Lessing und das Drama der anthropozentrischen Wende. (Wolfenbütteler Lessing-Studien 2) Wehrhahn, Hannover 2020. 320 S., € 29,50.
Der Zugriff von Monika Ficks Lessing und das Drama der anthropozentrischen Wende ist streng systematisch, obgleich das Buch aus elf Einzelstudien besteht, die über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten entstanden und eine Vielzahl unterschiedlicher Texte in den Blick nehmen. Ficks Deutungen der Dramen Der Freygeist, Miß Sara Sampson, Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise, des frühen Gedichtfragments An den Herrn M**, der Laokoon-Abhandlung sowie verschiedener religionsphilosophischer Essays der 1770er Jahre werden nämlich fest zusammengehalten durch den Begriff der „anthropozentrischen Wende".
Anthropocentric turn ist das Bild, mit dem Charles Taylor in seinen berühmten Gifford Lectures Living in a Secular Age (1998/1999) die tiefgreifende Veränderung der Selbstwahrnehmung und Welterfahrung umschreibt, die einen Menschen, der im Jahr 1500 geboren wurde, von einem Menschen trennen soll, der im Jahr 2000 zur Welt kommt: Im Unterschied zum früheren porous self, das sich als „porös" erlebte, das heißt als eingebunden in, offen für und bestimmt durch kosmische Kräfte und Mächte, soll sich das Ich nach dieser Wende als autonomes buffered self begreifen, das „abgepuffert" als vereinzeltes Individuum im Zentrum einer disenchanted world steht. In der Moderne ersetzte, so kann man Taylors These zu den anthropologischen Spätfolgen des Säkularisationsprozesses auf den Punkt bringen, entmythologisierte Selbstreferenzialität nach und nach religiöse Jenseitsorientierung.
Monika Fick zieht Taylors Narrativ von einer sich im 18. Jahrhundert vollziehenden „anthropozentrischen Wende" bei ihrer Lessing-Interpretation fast durchgängig als „Modell" (S. 18, vgl. S. 21f.), „Hintergrundbild" (S. 18), „Bezugsrahmen" (S. 194), „Rahmenerzählung" (S. 199 und 206) oder „Perspektive" (S. 199) heran. Dabei ist für sie entscheidend, dass der folgenschwere Bruch, der dem Individuum eine neue Stellung in und ein neues Verhältnis zu der „entzauberten Welt" verschafft hat, nicht zu verstehen ist, solange er allein als „notwendige Folge" des Siegeszugs der modernen Naturwissenschaften angesehen wird: „Vielmehr handelt es sich um eine Umwandlung der Denk- und Wahrnehmungsformen, um eine Veränderung der Bedingungen, die jegliche Erfahrung von Wirklichkeit allererst und a priori prägen" (S. 223, vgl. S. 11 f. und S. 199).Andere kulturwissenschaftliche Narrative, auf die Fick bei ihrer Analyse von Lessings Modernität – weniger affirmativ – verweist, stammen von Panajotis Kondylis (S. 9–11, 52, 69, 130), Wolfgang Riedel (S. 52 und S. 72), Hans Blumenberg (S. 95f.), Michel Foucault (S. 199, Anm. 13), François Jullien (S. 223f.) und Kurt Hübner (S. 224).
Lessing ist für Fick ein „einflussreicher Repräsentant und Verteidiger" dieser „anthropozentrischen Wende" (S. 23), weil und insofern er sie „bewusst forcierte und radikalisierte" (S. 194f., vgl. S. 14 und S. 208). Sein epochaler Beitrag zum Aufstieg des modernen Anthropozentrismus bestehe in „gedanklichen Experimenten", mit deren Hilfe er „zu einem immanenten Humanismus vorstößt" (S. 208, vgl. S. 199 und S. 223). Dieser immanente – auch „exklusive" (S. 12), „ethische" (S. 190) oder „aufgeklärte" (S. 281) – Humanismus zeichne sich dadurch aus, dass Lessing die Ethik der christlichen Tradition einer konsequenten „Universalisierung" und „Humanisierung" unterziehe, indem er die religiöse Forderung nach „Selbsttranszendierung und -verwandlung" durch die Aufforderung zu einer autarken „Selbstverwirklichung" ersetze (S. 278, vgl. S. 15, 52, 262).Wenn Taylor jenen Humanismus beschreibt, „that makes no reference to something higher which humans should reverence or love or acknowledge" (A Secular Age, S. 245), dann spricht er meist von „self-sufficing or exclusive humanism" (S. 19 u. ö.) und nur gelegentlich von „immanent humanism" (z. B. S. 250). Er erkennt in Lukrez den wichtigsten Vorläufer (S. 27, 247 u. ö.) und in Descartes den wichtigsten Wegbereiter dieser modernen Spielart des Humanismus (etwa S. 134 und S. 249). Lessing – im Unterschied zu Kant (etwa S. 134 und S. 312) – tritt bei Taylor dabei lediglich als Komparse auf (S. 363). Vgl. auch Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of Modern Identity. Cambridge 1989, S. 273f. Das, negativ gewendet, „entbettete Selbst" des modernen Menschen, von dem Fick im Anschluss an Taylor spricht, ist, positiv gesehen, ein „moralisch kompetentes Selbst" (S. 11, vgl. S. 202f., 279, 282, 288).
Das insgesamt sehr überzeugende Lessingbild, das Fick im Rückgriff auf ihre exzellenten Werk- und Wirkungskenntnisse zeichnet, ist ebenso klar konturiert wie vielschichtig: Der Lessing, dessen eigentümliches Profil sich sukzessive aus Ficks imponierenden Einzelstudien ergibt, ist ein Aufklärer, der – trotz mancher Vorbehalte (vgl. S. 14, 83 f., 121) – auf unterschiedlichen Wegen zielsicher eine neuartige, weil „optimistische" Bestimmung des Menschen vornimmt (vgl. S. 84, 177, 179, 219, 224f., 243 f., 282f.). Wenn Lessing in den intellektuellen Debatten des 18. Jahrhunderts Position bezieht – ganz gleich, ob er im Freygeist und in Miß Sara Sampson für eine emanzipierte Sinnlichkeit wirbt (S. 47–85, vgl. S. 9f., 19–21, 88, 133–135) oder ob er im Laokoon gegen eine auf die Zentralperspektive verengte Ästhetik eintritt (S. 87–100) –, dann tut er dies, so Fick, stets im Namen einer Anthropologie, die jedem Einzelnen die (durch Erziehung bzw. Aufklärung zu erlangende) Fähigkeit zuspricht, selbstständig das Gute, Wahre und Schöne zu erkennen, zu verwirklichen und im gesellschaftlichen Zusammenleben dauerhaft zu befestigen. Infolge dieser „optimistischen" Grundhaltung gerät Lessing, wie Fick herausstellt, in Konflikt mit der christlichen Theologie, die ihrerseits eine „skeptische Anthropologie" (S. 183) vertritt, indem sie behauptet, der postlapsarische Mensch sei „von sich aus unverbesserlich ichzentriert" (S. 179), „von sich aus verloren an sein selbstsüchtiges Begehren" (S. 183, vgl. S. 84) und deshalb grundsätzlich und immer „auf die göttliche Gnade angewiesen" (S. 200, vgl. S. 183f.). Die im Titel der Aufsatzsammlung genannte „Wende" ist dementsprechend eine radikale „Gegenwendung" (S. 9): Lessings Anthropozentrismus steht quer zur christlichen Theozentrik und sein autonomer Humanismus negiert das Heilsversprechen der Offenbarungsreligion.
Als Beispiel für Lessings charakteristisch modernen Humanismus, der auf Transzendenz verzichtet und Immanenz absolut setzt, führt Fick wiederholt eine Szene aus Nathan der Weise an, die sie – in unausgesprochener Abgrenzung zur Standardlesart, die in der Ringparabel (III/7) die Schlüsselszene erkennt – als den „ethischen Höhepunkt" (S. 278) des Dramatischen Gedichts ausmacht: Nathans Adoption von Recha (IV/7). Zwar schildert Nathan die Adoption des christlichen Findelkinds, die kurz nach einem antijüdischen Pogrom statthatte, bei dem ein christlicher Mob Nathans Frau und seine sieben Söhne ermordete, als einen Akt, den er sich nur als „gottergebner" Mensch „abgewinnen" konnte (IV/7, V. 656f.). Doch gemäß Ficks Auslegung ist diese Adoption eine „Handlung", die der Autor Lessing bewusst so eingerichtet habe, „dass Nathan mit dieser Selbstüberwindung lediglich das ‚Billige' und ‚Vernünftige' realisiert", insofern er die einzige Tochter eines Freundes und Lebensretters bei sich aufnimmt (S. 278, vgl. S. 17, 177 und 243f.). Nathans Tat stelle kein „transzendierendes Selbstopfer" dar (S. 278), das der „Feindesliebe" einer „jesuanischen, grenzüberschreitenden Ethik" zur „Bewährungsprobe" gereiche (S. 17, vgl. S. 15 f. und S. 182), sondern sei, so Fick, ein Akt der „natürlichen Billigkeit" (S. 243, vgl. S. 177). Die Art und Weise, wie Lessing die Tat Nathans psychologisch motiviert, erscheint Fick somit als strategischer „Gegenentwurf zu der Sünde-Gnade-Erfahrung, welche die lutherische Orthodoxie kodifizierte" (S. 243, vgl. S. 13). Aus der „sorgfältig konstruierten Handlung" des Nathan tilgt Lessing, nach Ficks Interpretation, wegen des von ihm propagierten immanenten Humanismus mit voller Absicht „die Innensicht der Religionen" (S. 244).
Die Szene IV/7 zeigt dabei exemplarisch, worin Fick nicht allein die Größe von Lessings Anthropologie, sondern auch die Grenzen seiner Religionsphilosophie erkennt: Das titelgebende „Drama", das die „anthropozentrische Wende" impliziert, besteht, Fick zufolge, nämlich darin, dass Lessing sich den „theozentrischen Denkformen" methodisch „verschließt" (S. 23, vgl. S. 243), indem er die „transzendente Dimension", insbesondere die „Erfahrung des Numinosen", gezielt ausklammert und somit von vornherein „nur den Gott der Philosophen, nicht den der Propheten gelten lässt" (S. 242, vgl. S. 233f.). Lessings bewusste – oder halbbewusste (vgl. S. 16, 83, 194 f., 208)? – Selbstbeschränkung auf eine bloß menschliche Immanenz gründet demnach auf seiner axiomatisch postulierten, das heißt rational nicht eingeholten Absage an die Möglichkeit der göttlichen Transzendenz. Das Fundament von Lessings Anthropologie und von seinem Humanismus soll also nicht vernünftige Einsicht, sondern ein absoluter Willensakt sein: Es handele sich, so Fick, nicht um „die Erkenntnis eines wahren Zusammenhangs", sondern um „das Ergebnis einer Sichtweise, die ihrerseits auf axiomatischen Setzungen beruht" (S. 206, vgl. S. 17, 22, 206, 219, 224, 233 f., 237). Wie der Offenbarungsglaube, so vollzieht sich, Fick zufolge, auch die vorgeblich vernünftige Abwendung von diesem Glauben als eine Art Sprung ins Ungewisse. „Als Theorie" ist Lessings humanistische Religionsphilosophie deshalb – so lautet Ficks hartes Urteil – „bloße Spekulation" (S. 219f.).
An dem Beispiel von Ficks Interpretation der Nathan-Szene IV/7 zeigt sich indessen eine hermeneutische Schwachstelle in der systematisch starken Argumentationskette ihrer eindrucksvollen Lessingdeutung. Denn Fick kann die Behauptung, dass Lessing „sämtliche theozentrischen Motive anthropozentrisch umdeutet, umdreht und weiterentwickelt" (S. 232) und mithin „die Begegnung mit dem Göttlichen, die Erfahrung von Transzendenz" durchgängig „subjektiviert" und „psychologisiert" (S. 233f., vgl. S. 242f.), bei ihrer Interpretation von IV/7 nur aufrechterhalten, weil sie Nathans Handlungsmotivation unter Absehung von seinem Selbstverständnis deutet. Die „theozentrischen Denkformen", die Fick in Lessings Religionsphilosophie vermisst, – die „Denkformen, in denen eine die menschlichen Möglichkeiten übersteigende Fülle des Lebens und eine entsprechende Transformation des menschlichen Willens artikulierbar sind" (S. 23) – finden nämlich in Nathans eigenem Bericht jener Tat, die er sich als „gottergebner" Mensch „abzugewinnen" vermochte, einen einzigartigen poetischen Ausdruck: Unmittelbar vor der Adoption Rechas hatte Nathan, wie er in einem an Hiobs Klagelieder erinnernden Bericht schildert, „drei Tag' und Nächt' in Asch' und Staub vor Gott gelegen, und geweint, [...] mit Gott auch wohl gerechtet, gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht", bis er lernte, sein Schicksal als „Gottes Ratschluß" anzunehmen und damit als Theodizee zu bejahen („Und doch ist Gott!"), um sodann, „zu Gott" gewandt, auszurufen: „Ich will! Willst du nur, daß ich will!" (IV/7, V. 667–671, 675 und 680f.) Nathans Ausruf, den Franz Rosenzweig als Fast-Übersetzung von Augustinus' da quod iubes et iube quod vis deutet, wird von Fick an keiner Stelle erwähnt. Es muss deshalb offen bleiben, weshalb das von Nathan dieserart artikulierte Erlebnis nicht als Begegnung mit dem Göttlichen oder als Erfahrung von Transzendenz gelten soll.
Die übergreifende Leistung von Lessing und das Drama der anthropozentrischen Wende wird freilich durch solche kritischen Rückfragen kaum geschmälert: Monika Fick hat Lessings Projekt der Aufklärung prägnant als entscheidendes Moment der „anthropozentrischen Wende" beschrieben und dabei mit großer exegetischer Klarheit und bemerkenswerter systematischer Schärfe die Frage neu aufgeworfen, ob Lessings Abwendung vom Offenbarungsglauben theoretisch überhaupt gerechtfertigt sei. Dass Fick ihre eigene, abschlägige Antwort bereits in der Einleitung zur Diskussion stellt (vgl. S. 23), ist ein Zeugnis der außergewöhnlichen Neugierde, die sie als Lessing-Interpretin seit Jahrzehnten auszeichnet. Indem Fick die künftige Forschung ausdrücklich dazu auffordert, den „Denkraum" nochmals zu vermessen, den Lessing eröffnete, als er in dem (von ihr nicht untersuchten) Fragmentenstreit den Versuch unternahm, „die voraufklärerische Orthodoxie als Gesprächspartnerin der autonom gewordenen Philosophie wiederherzustellen" (S. 23), verweist sie auf den Ort, an dem sich zeigen muss, ob Lessing die Herausforderung des Christentums blindlings beiseitegeschoben hat oder ob er diese Herausforderung anzunehmen wusste.
By Hannes Kerber
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