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Robert Hermann, Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf). (Literatur Kultur Theorie 26) Ergon, Baden-Baden 2019. 417 S., € 58,–.

Lenz, Anna
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 390-393
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Robert Hermann, Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf). (Literatur Kultur Theorie 26) Ergon, Baden-Baden 2019. 417 S., € 58,– 

Robert Hermann, Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf). (Literatur Kultur Theorie 26) Ergon, Baden-Baden 2019. 417 S., € 58,–.

Kunst, das wissen wir seit Kant, muss erfahren werden; nur wahrnehmende Subjekte können ästhetische Urteile formulieren. Literatur, wie auch bildende Kunst und Musik, bedeuten nichts aus sich allein heraus, sondern ihr Sinn entfaltet sich erst in der Erfahrung durch den Rezipierenden. Wie dieses Erleben, das Wirken der Kunst, die ästhetische Wahrnehmung, die ästhetische Urteilsbildung sich vollziehen, ist eine der großen Fragen der Literaturwissenschaft und wird es wohl immer bleiben. Robert Hermann versucht diesem Problem beizukommen, indem er eine Präsenztheorie entwickelt, mit der diese Grundfrage systematisch diskutiert werden könnte. Die Gefahr bei einem solch anspruchsvollen Unterfangen, der eigenen Wissenschaft eine neue Herangehensweise zu erschließen, ist immer, bloß einen weiteren ‚Ismus' hinzuzufügen, der keinen oder nur einen spärlich begangenen Weg in die Forschungspraxis findet. Diese Gefahr sieht Hermann selbst, wie er einführend zu bedenken gibt. Dank sorgfältigster methodischer Studien und umsichtiger Textlektüre offenbaren sich letztlich zwar eine Vielzahl an Analysekategorien und -praradigmen; welchen Mehrwert die Theorie außer eben dieser Begriffs- und Konzeptvielfalt der Literaturwissenschaft bringen soll und kann, muss sich jedoch noch zeigen.

Zunächst liefert Hermann eine Definition der Begriffe: Präsenz meine „die ästhetische Wahrnehmung einer Performanz, die sich der Repräsentation entzieht und die eine temporäre Auflösung des Subjekt-Objekt-Denkens sowie ein intensives Erleben von Raum bewirkt" (S. 217). Die „Präsenztheorie" bezeichne „eine Theorie zur Analyse artistischer Phänomene, die sowohl die sinnhaft-semiotische als auch die präsentisch-rezeptionsästhetische Dimension von Kunstwerken berücksichtigt und dabei von einer phänomenologischen Einheit der Differenz beider Dimensionen" ausgehe (S. 222). Hermann steht mit dem Versuch, die Kategorie der Präsenz wieder in die Forschungsdiskussion einzubringen, nicht allein. In den vergangenen Jahren sind einige Sammelbände dazu erschienen.U. a.: Bent Gebert / Uwe Mayer (Hgg.), Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen. Berlin – Boston 2014; Christiane Schildknecht / Irina Wutsdorff (Hgg.), Präsenz und Text. Strategien des Transfers in Literatur und Philosophie. Paderborn 2016; Tanja Prokic / Anne Kolb / Oliver Jahraus (Hgg.), Wider die Repräsentation. Präsens/z Erzählen in Literatur, Film und Bildender Kunst. Frankfurt/M. u. a. 2011. Weitere Arbeiten werden vom Autor auf S. 261 genannt. Hermann kann demnach auf eine ausführliche und namhafte Forschungsgeschichte bauen. Er geht deshalb zunächst auf die verschiedenen diskursbegründenden Theorien ein und macht einen umsichtigen, sorgfältigen und ausführlichen Durchgang durch die Geschichte der Präsenztheorien von Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger über George Steiner, Jean-Luc Nancy, Karl Heinz Bohrer und Martin Seel bis zu Dieter Mersch und Hans Ulrich Gumbrecht. Dabei zeigt er, dass die Präsenztheorie nicht als Antithese einer herkömmlichen Hermeneutik zu verstehen ist, sondern vielmehr „Präsenz-Dimension" und „Sinn-Dimension" gleichermaßen beachten kann (S. 221). Aufbauend auf der Studie Thomas Rentschs zu Heidegger und Wittgenstein (2003) arbeitet Hermann Gemeinsamkeiten heraus, auf die die Präsenztheorie sich berufen kann, „da sowohl Wittgensteins Begriff der Grenze als auch Heideggers Begriff des Seins semantische Platzhalter für ein Ereignis darstellen, das mit einer phänomenologischen Auflösung des Subjekt-Objekt-Denkens einhergeht" (S. 78). Erste grundlegende präsenztheoretische Entwürfe findet er bei George Steiner, der mit seiner Monographie Real Presences (1986) Namensgeber der heutigen Präsenztheorie sei (S. 79). Während Steiners Thesen noch ohne Beispielanalysen auskommen, biete Jean-Luc Nancy (The Birth to Presence, 1993) eine erste Analyse zu Baudelaire, auch wenn hier die Definition der Präsenz als „phänomenologische Verschmelzung von Immanenz und Transzendenz zu einer säkularen Mystik" (S. 101) verhältnismäßig abstrakt bleibe und sich eher eine „Hybridisierung[] von Philosophie und Literatur" vollziehe (S. 112). Mit Karl Heinz Bohrer (Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Seins, 1981, und Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, 1994) behandelt Hermann den ersten „systematischen Beitrag zum Präsenzdiskurs" (S. 116). Bohrer gehe aber zunächst nur textimmanent vor, lege also keine „Erzählperspektiven, syntaktischen Besonderheiten, wiederkehrenden Tropen, ironische Brechungen oder auffällige konzeptionelle Strukturen" offen (S. 134). Martin Seel erweitere dann den Präsenzbegriff nicht nur semantisch (Ästhetik des Erscheinens, 2000), sondern auch intermedial. „Aus präsenzmethodologischer Sicht", so hebt Hermann für seine eigenen Analysen hervor, „lässt sich sagen, dass die wichtigste Leistung all dieser textanalytischen Überlegungen darin besteht, dass sie stilistische, sprachlich-konzeptionelle und erzähltheoretische Aspekte erstmals ausführlich in den Vordergrund einer präsenztheoretischen Betrachtung stellen" (S. 155). Er gehe damit, im Gegensatz zu Bohrer, auf die „sprachlich-formelle Gestaltung" (ebd.) der Texte ein. Die Verschiebung der Präsenztheorie zu Performativitätskonzepten durch Dieter Mersch schließt sich an (Was sich zeigt. Materialität – Präsenz – Ereignis, 2002; Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, 2002; Posthermeneutik, 2010), bevor die Arbeiten zur Präsenz von Hans Ulrich Gumbrecht (u. a. Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, 2004; Präsenz, 2009; Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, 2012) diskutiert werden. Gumbrecht hat auf einen Mangel der hermeneutischen Literaturwissenschaft hinsichtlich der Erfahrung von Kunst hingewiesen.

Die Stärke der Arbeit Hermanns liegt darin, die Vielfalt und Komplexität des Präsenzbegriffs, der „textimmanent", „rezeptionsästhetisch", „produktionsästhetisch" (S. 207) verstanden wird, zu ‚ordnen' (S. 391) und so einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte der Präsenztheorie zu geben. Dies zeigt sich besonders im Vergleich der ‚Denkfiguren' in den von ihm zuvor ausführlich behandelten Publikationen (S. 217–220) sowie in seiner Übersicht zum aktuellen Forschungsumfeld, in dem er sich mit dem Präsenzbegriff unter verschiedensten Aspekten literarischen Texten aus unterschiedlichen Epochen nähert (S. 269–272).

Es bleibt aber bis zur Analyse des ersten Primärtextes (Rainald Goetz' Rave) unklar, mit welcher Fragestellung die Texte konkret konfrontiert werden sollen. Hermann begründet das später so: „Präsenztheoretisch betrachtet bildet jedoch jedes Teilkapitel der jeweiligen Analyse ein eigenständiges Zentrum, das dabei immer das gleiche heuristische Ziel verfolgt: den Nachweis und die Explikation von Präsenzpotenzialen" (S. 391f.). Doch schon der Anspruch, den Texten mit einer genauen interpretativen Fragestellung zu begegnen, scheint der Präsenztheorie fremd: „Denn der Präsenztheorie geht es primär nicht darum, einen Sinn, oder eine Sinndekonstruktion und damit eine Quelle der Präsenz zu (re-)konstruieren, sondern verschiedene Strategien zur Produktion von Präsenz in einem bestimmten Kontext aufzuzeigen" (S. 392). Hermann konzentriert sich bei der Deutung von Rave auf das „komplexe Verhältnis zwischen Sprachreflexion und Präsenzerleben" (S. 275) und will zeigen, „mit welchen literarischen Strategien der Text Präsenz-Augenblicke zu generieren vermag" (S. 276). Er wendet dann die im Theorieteil erarbeiteten Begriffe auf den Text an. Wie vielseitig der Präsenzbegriff ist, wird überzeugend deutlich. Besonders die Überlegungen zur Autorschaft (S. 306–310) sind anregend. Für Helmut Kraussers UC will Hermann sogar einen „poststrukturalistischen Meta-Text [...], der eher für dekonstruktivistische Lektüren prädestiniert scheint", der Präsenztheorie öffnen (S. 319). Während er für Goetz die Sprachkritik ins Auge fasst, stellt er hier eher den ‚mystischen' Aspekt der Präsenzanalyse heraus, indem er mit Begriffen wie ‚Transzendenz', ‚Schöpfung' und ‚Schizophrenie' als Analysekategorien arbeitet (S. 317–349). Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick wird abschließend auch wegen seiner Popularität ausgewählt; er soll „narratologisch, motivisch und philosophisch" untersucht und dabei seine „faszinierende Gratwanderung zwischen Simplizität und Komplexität" (S. 352) gezeigt werden.

Hermann sieht die Stärke des Präsenzbegriffs in der Variationsbreite und in den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten bei der Analyse (S. 395). Das ist sicherlich richtig. Nur bleibt dennoch offen, wie man bei allem Aufweis präsentischer Dimensionen von Kunstwerken einer verstehenden Rekonstruktion entgehen oder diese befördern kann. So lohnt ein Blick, der die Präsenz in ihrer Dimensionsvielfalt fokussiert, durchaus; nur wird – wenn wir tatsächlich etwas über die Texte, denen wir als Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler begegnen, sagen möchten – die hermeneutische Brille den Blick auf Präsenz auch weiterhin schärfen müssen.

By Anna Lenz

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Titel:
Robert Hermann, Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf). (Literatur Kultur Theorie 26) Ergon, Baden-Baden 2019. 417 S., € 58,–.
Autor/in / Beteiligte Person: Lenz, Anna
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 390-393
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0060
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld, Germany

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