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Moritz Strohschneider, Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 94 [328]) De Gruyter, Berlin – Boston 2019. 386 S., € 102, 95.

Reitani, Luigi
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 349-351
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Moritz Strohschneider, Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 94 [<reflink idref="bib328" id="ref1">328</reflink>]) De Gruyter, Berlin – Boston 2019. 386 S., € 102, 95 

Moritz Strohschneider, Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 94 [328]) De Gruyter, Berlin – Boston 2019. 386 S., € 102, 95.

Seit jeher hat sich die Forschung mit der religiösen Problematik der Werke Hölderlins beschäftigt. Das in den vielfältigen ‚phänomenologischen' StudienVgl. Alessandro Pellegrini, Friedrich Hölderlin. Sein Bild in der Forschung. Berlin 1965, S. 164– 204. des 20. Jahrhunderts (Paul Böckmann, Walter F. Otto, Romano Guardini) oft behandelte Thema stand zuletzt im Mittelpunkt der Tagung, die die Internationale Hölderlin-Gesellschaft dem Dichter 2014 in Konstanz widmete.Vgl. die Beiträge in: Hölderlin-Jahrbuch 39 (2014–2015). Solch eine große Aufmerksamkeit hat ihre guten Gründe: Hölderlin war ein promovierter Theologe, der auf seine priesterliche Laufbahn verzichtet hatte; sein Gesamtwerk zeigt immer wieder eine pantheistisch gedeutete Natur; in den späten Gedichten hinterfragt er wiederholt die Bedeutung Christi für die Kulturgeschichte.

In seiner gut dokumentierten und an bibliographischen Nachweisen überaus reichen Monographie über Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik – eine im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs ‚Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)' entstandene Dissertation – schlägt nun Moritz Strohschneider einen Weg ein, der sich wesentlich von den herkömmlichen Forschungstendenzen unterscheidet. Sein Schwerpunkt liegt weniger auf einer das Gesamtwerk des Dichters durchziehenden Problemkonstante als auf der poetologischen Bestrebung Hölderlins, eine synkretistische Mythologie zu entwerfen. ‚Neue Religion' steht hier für ‚neue Mythologie' im Sinne jenes oft untersuchten ästhetisch-politischen Erneuerungsversuchs, der sowohl im Kreis der Frühromantiker als auch im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus zur programmatischen Parole wurde. Das mag zum Teil erklären, warum sich der Verfasser in seiner Arbeit ausschließlich auf fünf paradigmatische Gedichte konzentriert und zentrale ‚religiöse' lyrische Texte Hölderlins – wie Patmos, Brod und Wein oder auch Friedensfeier – nur am Rande betrachtet. Auch die fragmentarisch überlieferte Schrift Über die Religion (wie sie von Friedrich Beißner genannt wurde) spielt in der Untersuchung Strohschneiders kaum eine Rolle. Statt einer – wie oft in ähnlichen Recherchen – diffusen thematischen Spur im Gesamtwerk zu folgen, bevorzugt der Verfasser einen philologischen Zugang, der eng am Text bleibt, ohne dabei den Kontext aus den Augen zu verlieren.

Analysiert werden die Gedichte Der Nekar, Der Wanderer, Heimkunft an die Verwandten, Der Einzige und Germanien, und zwar in denjenigen Fassungen, die wahrscheinlich in den Jahren zwischen 1800 und 1803 niedergeschrieben wurden.Über die Schwierigkeit einer genauen Datierung informiert der Verfasser in den einzelnen Kapiteln. Während die ersten drei Texte zum Druck kamen, gibt es von Der Einzige und Germanien nur Reinschriften, neben Entwürfen und Bearbeitungen. Der Verfasser resümiert kurz die komplexe Entstehungsgeschichte und handschriftliche Lage der Gedichte und verzichtet darauf, auf einzelne Probleme ihrer Konstitution einzugehen; dennoch berücksichtigt er punktuell alternative Lesarten, die für seine Argumentation eine Rolle spielen und erkennt grundsätzlich die Pluralität der Textfassungen als Prinzip an, woran sich die Interpretation zu orientieren habe (S. 124). Auch zeigt er eine bemerkenswerte Sensibilität für den metrischen und rhetorischen Aufbau der Gedichte. Zweifellos gilt indes sein Interesse einer diskursorientierten Darstellung der behandelten Texte. Strohschneiders Hauptthese ist, dass Hölderlin in der Lyrik nach 1800 auf die durch die Wissenschaft verursachte ‚Entzauberung der Welt' mit einer Re-Mythologisierung der Natur und mit einem religiösen Narrativ reagiere. Das führe zu einer Geschichtsphilosophie, welche die Vergangenheit idealisiere, die Gegenwart als Zwischenzeit auffasse und sich von der Zukunft eine Erlösung erhoffe. Das Gedicht werde mithin zum performativen Akt, zum ästhetisch-religiösen Kult, der sowohl den Dichter als prophetischen Mittler (S. 151–158) als auch eine ‚gläubige' (d. h. politisch bewusste) Gemeinschaft voraussetze (S. 302). Dabei rekurriere Hölderlin auf wesentliche Elemente des Christentums, die er aber mit der antiken Götterlehre integriere und ‚ambig' verwandle. Hervorgehoben wird nämlich die Bedeutung von zwei miteinander verflochtenen poetischen Verfahrensweisen: „Zum einen die synkretistische Verbindung unterschiedlicher religiöser und (natur-)wissenschaftlicher Traditions- und Wissensbestände zur Deutung der vom Sprecher beobachteten Natur. Daraus resultiert zum anderen eine semantisch wie syntaktisch ambige Verweisstruktur, aufgrund derer die Aussagen einzelner Gedichte mehrere unterschiedliche Assoziationen zugleich ermöglichen" (S. 9). Eine solche Ambiguität – so Strohschneider – sei aber durchaus als „ästhetische Produktivkraft" zu „werten" (S. 19). Die Figur Christi erscheine zum Beispiel als „der letzte der antiken Götter" und markiere deshalb den „Abschluss einer historischen Phase, die durch die besonders enge Verbindung von Menschen und Göttern geprägt war" (S. 212), während der Äther als Naturkraft an der Schnittstelle zwischen naturwissenschaftlichen Diskursen und unterschiedlichen religiösen Traditionen (der griechische Zeus, das Pneuma der Vorsokratiker, der Heilige Geist des Christentums) stehe. Konzeptuell schwierig erweise sich allerdings der Versuch, eine tendenziell immanente Theologie, bei der die antiken Götter die Naturkräfte darstellen, mit dem transzendenten Anspruch des christlichen Monotheismus in Einklang zu bringen. Nach Strohschneider oszilliere deswegen Hölderlin zwischen einem kaum verhüllten Pantheismus und einer immer wieder auftauchenden Transzendenzlehre (S. 48–52, 96, 141–142, 150, 171, 183, 222, 234, 246, 262). Das ist aber gerade der Punkt, an dem sich die Diskussion über die Philosophie Fichtes entzündete; eine Diskussion, an welcher sich neben Friedrich Schlegel, Novalis und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling auch Hölderlin beteiligte, so dass hier eine Horizonterweiterung der Untersuchung (jenseits der obligaten Bezüge auf den Spinozismus, S. 31–38) erwünscht gewesen wäre.

Der ‚vertikalen' religiösen Achse zwischen Himmel und Erde entspreche in der Lyrik Hölderlins eine ‚horizontale' Achse, die Deutschland und Griechenland und später Hesperien und Orient zueinander in Beziehung bringe. In der Ode Der Nekar stelle diese Raumstruktur noch immer das Beispiel einer „kohärenten Welt" (S. 26–30) dar, in der das Subjekt zu Hause ist und sich nach einem in der Vergangenheit gelegenen idealen Ort sehne, während in den Gesängen Der Einzige und Germanien eine Dichotomie entstehe, die diese geographischen Pole der dichterischen Imagination in ein Spannungsverhältnis setze (S. 274). Die Schärfe, mit der Strohschneider die poetische Topographie Hölderlins untersucht, lässt erkennen, wie fruchtbar der spatial turn der Literaturwissenschaft bei diesem Dichter anwendbar ist. Der Verfasser weist darauf hin, dass verbreitete Topoi der europäischen Kultur um 1800 in Hölderlin zu bestimmten poetologisch-philosophischen Kategorien werden, so zum Beispiel Griechenland als melancholische Ruinenlandschaft (S. 55–62) – das heißt als Ort des Erhabenen – oder die Alpen als Ort einer „ununterbrochen Schöpfung" (S. 130–131) – das heißt als Ort des Aorgischen. Umso mehr ist zu bedauern, dass die vielfältigen Implikationen dieser Tendenz nur angedeutet werden.

Als besonders prägnant erweist sich das letzte Buchkapitel, das der Hymne Germanien gewidmet ist. Der Verfasser zeigt, wie sich Hölderlin von einem gerade entstehenden nationalistischen Bild Deutschlands distanziert und einen „mythischen und utopischen Ort [...] entwirft" (S. 271), wo sich die Wiederkehr der Götter und eine (Wieder-)Vereinigung von Himmel und Erde (hieros gamos) vorbereitet. Dabei verwende der Dichter einmal mehr ein pietistisch gefärbtes Vokabular und weise eine „antiklassizistische Haltung" (S. 289) auf. Dies rücke Hölderlin in die Nähe der Romantiker, worauf Strohschneider mehrmals anspielt (S. 179, 296, 322), ohne jedoch das Problem zu vertiefen. Gleichzeitig scheine sich Hölderlin in diesem Gedicht von einer Vorstellung des Dichters als poeta vates zu verabschieden, „denn die priesterliche Aufgabe ist kein Distinktionsmerkmal mehr zwischen dem Sprecher und seinen Zeitgenossen [...]. Dagegen geht in Germanien der Dichter in der Gesamtheit des Volkes auf" (S. 303). So bleiben die Texte notgedrungen „instabil und vorläufig [...], solange sich der Sprecher in einer [...] Zwischensituation befindet" (S. 337). Erst die erhoffte Zukunft könne die Bedingungen schaffen, in denen das dichterische Werk als abgeschlossen gelten kann.

Die detaillierte und erkenntnisreiche Arbeit Strohschneiders stellt insgesamt einen glücklichen und methodologisch gelungenen Versuch dar, durch solide philologische Einzelanalysen von paradigmatischen Texten die Komplexität der späten Lyrik Hölderlins diskursgeschichtlich zu verorten. Es ist zu hoffen, dass die mannigfachen Hinweise und Anregungen, die darin enthalten sind, bald wiederaufgenommen und weitergeführt werden.

By Luigi Reitani

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Titel:
Moritz Strohschneider, Neue Religion in Friedrich Hölderlins später Lyrik. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 94 [328]) De Gruyter, Berlin – Boston 2019. 386 S., € 102, 95.
Autor/in / Beteiligte Person: Reitani, Luigi
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 349-351
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0065
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Università degli Studi di Udine, DILL, Via Tarcisio Petracco 8, Palazzo Antonini, I-33110 Udine, Italy

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