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Isabelle Lehn / Sascha Macht / Katja Stopka, Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher". Wallstein, Göttingen 2018. 600 S., € 34,90. Sebastian Weirauch (Hg.), Experimentierfeld Schreibschule. Texte aus dem Literaturinstitut der DDR „Johannes R. Becher" 1955–1993. Wallstein, Göttingen 2020. 378 S., € 29,90

Röhnert, Jan
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 377-380
Online review

Isabelle Lehn / Sascha Macht / Katja Stopka, Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher". Wallstein, Göttingen 2018. 600 S., € 34,90. Sebastian Weirauch (Hg.), Experimentierfeld Schreibschule. Texte aus dem Literaturinstitut der DDR „Johannes R. Becher" 1955–1993. Wallstein, Göttingen 2020. 378 S., € 29,90 

Sebastian Weirauch (Hg.), Experimentierfeld Schreibschule. Texte aus dem Literaturinstitut der DDR „Johannes R. Becher" 1955–1993. Wallstein, Göttingen 2020. 378 S., € 29,90.

Isabelle Lehn / Sascha Macht / Katja Stopka, Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher". Wallstein, Göttingen 2018. 600 S., € 34,90.

Nachdem es mit dem Systemwechsel 1990 im sozialistischen deutschen Staat und dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes so aussah, als solle mit der im Osten während der vergangenen 40 Jahre entstandenen Literatur dasselbe geschehen, was mit weiten Teilen des Wirtschafts-, Kultur- und Universitätslebens der DDR geschah: nämlich dessen sogenannte Abwicklung unter den Fittichen bundesdeutscher Funktionseliten, während also die neunziger Jahre in der Diskussion um DDR-Literatur sich in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend beschränkten auf die bisweilen rufmordartige Entthronung einstiger Größen und Funktionsträger einerseits und die Inthronisierung einzelner der DDR entwachsener Autorinnen und Autoren als vom Feuilleton gefeierten Kandidaten für den ‚Wenderoman' und Erben der klassischen Moderne andererseits, so beginnt sich zumindest in der Forschung seit einiger Zeit ein differenziertes Bild der bereits totgesagten Literatur des realsozialistischen Deutschland zwischen 1949 und 1989 durchzusetzen. Dies mag, ähnlich zur aktuellen Renaissance der DDR in der Kunstgeschichte, seine Gründe nicht einfach nur in der historischen Aufarbeitung eines umfangreichen ‚Archivs' an Geschriebenem und Dokumentiertem haben, sondern auch in der Entdeckung, dass Diskurse, Themen, Stoffe und Poetiken in der alten Bundesrepublik und der DDR nicht grundsätzlich voneinander geschieden waren und sich vielfältig miteinander berührten, aufeinander reagierten und voneinander partizipierten – trotz des verschiedenen gesellschaftlichen Rahmens war die Schnittmenge und ‚Anschlussfähigkeit' stets groß, wie beispielsweise die frühe ideologieresistente Fixierung auf Landschaft, Umwelt, Ökologie bei Autoren wie Sarah Kirsch, Wulf Kirsten oder Hanns Cibulka zeigt, die damit auch gesamtdeutsch reüssieren konnten. Zugleich ist die Innovation und Eigenständigkeit bestimmter Entwicklungen hervorzuheben, die zunächst auf die DDR beschränkt blieben, sich dann jedoch als origineller Beitrag zum gesamtdeutschen Literaturkonzert erwiesen – wie etwa das heute von drei Professorinnen und Professoren ohne spezifische ostdeutsche Herkunft geleitete Deutsche Literaturinstitut Leipzig, welches auf das 1955 gegründete Institut für Literatur „Johannes R. Becher" zurückgeht, ein Novum in der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte insofern, als an diesem Ort zum ersten Mal das kreative Schreiben akademisch gelehrt werden sollte. Die Autorinnen und Autoren des Bandes Schreiben lernen im Sozialismus streichen denn auch genau dieses Faktum als konstitutiv für das Selbstverständnis des Literaturinstituts und dessen singuläre Rolle im Literaturbetrieb der DDR (und dessen Ausstrahlung in die alte BRD) heraus, nicht ohne dabei auf die Pointe zu verweisen, dass der post-mortem-Namenspatron und erste DDR-Kulturminister Johannes R. Becher ein Intimfeind des Gründungsdirektors und Chefideologen Alfred Kurella war und im Gegensatz zu diesem poetisches Schreiben gerade nicht als lehrbar, sondern in der Tradition der Genieästhetik als Gabe von Inspiration und Talent verstand.

Es waren dann in der Geschichte des Instituts jedoch weniger solch grundsätzliche Debatten, die den Alltag und das Miteinander von Studierenden und Dozenten prägten – obwohl sie sich etwa im problematischen Mix der Aufnahme einerseits talentierter (aber nicht zwangsläufig systemkonformer) ‚Jungstars' wie Sarah und Rainer Kirsch, Heinz Czechowski oder Helga M. Novak und andererseits poesiewilliger systemkonformer (aber nicht zwangsläufig talentierter) Arbeiter oder Armeeangehöriger implizit manifestierten –, als das Austarieren zwischen ideologischem, realsozialistisch oder „klassizistisch" (Sebastian Weirauch) vorgegebenem Rahmen mit seinem zum Teil tagesaktuell wechselnden Korsett und ästhetischem Eigensinn oder gar Subversion in je individueller Schreib- und Lehrpraxis. Diese Konstellation, so das von den Autorinnen und Autoren des Bandes aus Akten, Archivbeständen, Interviews und Publikationen des Instituts und seiner Absolventinnen und Absolventen zusammengetragene Narrativ, prägte das Literaturinstitut über verschiedene Perioden seiner Existenz hinweg. Dessen Geschichte wird von den Anfängen in den 1950ern bis zur Abwicklung 1993 im wesentlichen als Abfolge markanter Jahrzehnte erzählt, die sich entsprechend zeithistorischer Einschnitte nicht als starre Dekaden, sondern signifikante Zeiträume darstellen – so werden etwa die 1980er Jahre als ‚langes', bereits mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 beginnendes Jahrzehnt vorgestellt, das die Abkehr der Studierenden vom ideologischen Fundament des Staates eingeleitet habe, mit dem die 50er Jahre als der raison d'être sowohl der DDR als auch ihres Literaturinstitutes einst begonnen hatten. Der frühen Fixierung auf einen im Schreibprogramm des ‚sozialistischen Realismus' gründenden Antifaschismus, der faktisch jedoch seinerseits oft genug als stalinistisches Dogma praktiziert wurde, hauchten in den 60er Jahren DDR-spezifisch die Proklamierung des ‚Bitterfeld Weges' oder der mit dem XI. SED-Plenum verbundene kulturelle Kahlschlag Leben beziehungsweise Linientreue ein, während die mit Erich Honeckers Machtantritt 1971 bis zur Biermann-Ausbürgerung 1976 verbundene Periode als entideologisierender Hoffnungsschimmer, Öffnung und Horizonterweiterung verstanden wurde.

Ein lebendiges Porträt des Literaturinstituts und seiner widerspruchsvollen Geschichte durch die Dekaden gelingt den Autorinnen und Autoren vor allem durch die Konzentration auf wesentliche schreibende oder lehrende Protagonistinnen und Protagonisten, etwa die eindringlich von Isabelle Lehn als exemplarisch für die 60er Jahre geschilderte Zerrissenheit Werner Bräunigs zwischen Staatstreue, Wahrheits- und Kunstanspruch, eine Zerrissenheit, an welcher der Autor und Dozent des „Instituts für Literatur" wie auch die Publikationsabsichten seines Hauptwerks Rummelplatz zerbrachen. Dass bei der Auswahl der Porträtierten und ihrer Konflikte mit beziehungsweise am Literaturinstitut selektiv vorgegangen werden musste, liegt in der Natur einer nachträglich aus noch vorhandenen Unterlagen und dem gegenwärtigen historischen wie poetologischen, zudem höchst subjektiven Interesse der Interpreten rekonstruierten Geschichte des Literaturinstituts. Dieser Einschränkung zum Trotz wird hier ein höchst facettenreiches und anregendes Bild einer Institution des DDR-Literaturbetriebs gezeichnet, das den Blick für die enorme Vielfalt an Stimmen, die unter der Direktive angeleiteten Schreibens zu eigenen Ausdrucksformen fanden, sowie für die Problematik einer akademischen Schreibschule generell öffnet, auch wenn sich deren Methoden und Poetiken heute in einem vermeintlich ideologie- und wertfreien Raum bewegen mögen. Die Schlussfolgerung, „dass am IfL jenseits seiner normativen und ideologischen Verpflichtungen trotzdem Lehrverfahren und künstlerische Ausbildungsziele entwickelt wurden, die der heutigen Ausbildungspraxis durchaus vergleichbar sind" (Lehn / Macht / Stopka, S. 549), unterstreicht das. So möchte man noch mehr über jene unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen weiterwirkenden Absolventinnen und Absolventen erfahren, welche auch diese ‚kurze' Geschichte des Literaturinstituts nur unzureichend erwähnt, beispielsweise Annerose Kirchner und ihre Abschlussarbeit zur jüdischen Lyrikerin Gertrud Kolmar oder den Dichter Peter Gosse, der als Dozent in den 70ern die Nachfolge des legendären Georg Maurer angetreten und 1993 die Abwicklung des Literaturinstituts durchzuführen hatte.

Einen leider begrenzten Raum für Entdeckungen bietet allerdings die von Sebastian Weirauch flankierend herausgegebene Anthologie von 32 ausgewählten IfL-Abschlussarbeiten, die weitgehend der Dekaden-Erzählung von Lehn, Macht und Stopka folgt, allerdings starke Akzente insbesondere in den 80er und 90er Jahren, also der am wenigsten ideologisch und am meisten poetologisch aufgeladenen Zeit des Literaturinstituts setzt. Hier zeigt beispielsweise die Lyrik eines Kurt Drawert Kontinuitäten an, die in den Literaturbetrieb der Gegenwart führen, während Angela Krauß' Erzählung Frühschicht sich nachgerade wie eine Parabel auf die Widersprüche liest, an denen DDR wie Literaturinstitut zerbrechen sollten, die aber unter ökologischen Vorzeichen auch heute noch andauern, und Rainer Hohbergs Erzählung Das beste Bier der Welt von einer Tramptour in die Museumsbrauerei Singen in der Thüringer Provinz eine Jugendkultur porträtiert, die in ihrem Erlebnishunger ironisch an romantische Traditionen anknüpft. Für eine Anthologie mit dem Anspruch einer möglichst vielstimmigen Parade einstiger Absolventinnen und Absolventen präsentiert Texte aus dem Literaturinstitut Johannes R. Becher letztlich zu wenige Namen und Texte. Was leider beiden Kompendien fehlt, ist eine durchgehende Systematik in der Darstellung, Zusammenführung und Aufbereitung des gesichteten Materials; denn faktenbasierter Positivismus mag zwar nicht unbedingt zu gut lesbaren Narrativen führen, sollte aber bei der Arbeit mit umfangreichen Archivbeständen stets hinzugedacht werden.

Footnotes 1 Vgl. Karl Corino, Außen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin. Düsseldorf 1996. 2 Dazu Stephan Pabst, Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR. Göttingen 2016.

By Jan Röhnert

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Titel:
Isabelle Lehn / Sascha Macht / Katja Stopka, Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher". Wallstein, Göttingen 2018. 600 S., € 34,90. Sebastian Weirauch (Hg.), Experimentierfeld Schreibschule. Texte aus dem Literaturinstitut der DDR „Johannes R. Becher" 1955–1993. Wallstein, Göttingen 2020. 378 S., € 29,90
Autor/in / Beteiligte Person: Röhnert, Jan
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 377-380
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0066
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Technische Universität Braunschweig, Institut für Germanistik, Bienroder Weg 80, D-38106 Braunschweig, Germany

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