Emmy Hennings, Gedichte. Hg. und kommentiert von Nicola Behrmann und Simone Sumpf. (Emmy Hennings, Werke und Briefe. Kommentierte Studienausgabe 3) Wallstein, Göttingen 2020. 698 S., € 38,–.
Verse wie Funken springen der Leserin immer wieder aus den auf 386 Seiten versammelten Gedichten von Emmy Hennings entgegen: „Jetzt muß ich aus der großen Kugel fallen" (S. 8), „Ich lebe im ‚Vielleicht', / Bin eine stumme Frage" (S. 28), „Mein Taschentuch hat grünen Saum. / Ein gelbes Feld ist in der Mitte" (S. 32), „Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten, / Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch..." (S. 53), „Ich bin ein Vogel Zeitvorbei / Ich kann nicht tanzen und nicht schweben" (S. 382).
Zwischen 1900 und 1948 sind die nun edierten Gedichte entstanden. Hält man den gewichtigen Band in der Hand, wird schon haptisch deutlich: Emmy Hennings hat ein lyrisches Werk hinterlassen. Sie selber nannte ihre zeitlebens geschriebenen Gedichte freilich bloß „kleine Reime", wohlwollende Kollegen und Kritiker nannten sie „die kleine Kabarettistin" oder „die kleine Dichterin".
- 1916 hatte sie in Zürich mit Hugo Ball, Tristan Tzara, Marcel Janco, Hans Arp und Richard Huelsenbeck das Cabaret Voltaire gegründet, jenes legendäre Geburtsetablissement des Dada, in dem sie monatelang fast jeden Abend als Sängerin und Performerin auftrat. Sie war mittendrin in der Dada-Community, war Teil jenes „Gesamtkunstwerks Cabaret-Aufführung" aus Künstlerhabitus, Auftrittsstrategie, Improvisationstechnik, Requisiten, ausgestaltetem Bühnen- und Zuschauerraum, Licht-Dramaturgie und schließlich Text. Die „Augenblickskunst" der Männer – die Lautgedicht-Auftritte von Hugo Ball, die Rhythmus-Sessions des „Dada-Trommlers" Richard Huelsenbeck – schrieben (Literatur)Geschichte, Emmy Hennings' Performances gerieten zur Fußnote der Avantgarde. „Sie war die Braut einer Junggesellenmaschine." Ihre „im Cabaret Voltaire vorgetragenen Texte haben bis heute kaum eine ‚Öffentlichkeit' erfahren und so gut wie keine Rezeptionsgeschichte motiviert", konstatiert Nicola Behrmann in ihrer 2018 erschienenen Hennings-Monographie.
- 1885 in Flensburg als Tochter eines Taklers geboren, wurde sie schon bald von der Jahrhundertwende-Unruhe erfasst. In Norddeutschland war sie mit Wanderbühnen getingelt, irgendwann im „Neopathetischen Cabaret" des expressionistischen „Neuen Clubs" in den Hackeschen Höfen in Berlin gelandet, mit der Szene nach München (wo sie ihren späteren Ehemann Hugo Ball kennenlernte) und zurück nach Berlin gezogen. Sie kannte sie alle: Jakob van Hoddis, Georg Heym, Erich Mühsam, Klabund, Else Lasker-Schüler, Johannes R. Becher, Kurt Wolff... Und sie kannte Armut, Hunger, Prostitution, Kindstod, Drogensucht. Sie lebte das wilde Leben der Bohème – aus Not und aus Neugier, erotische Abenteuerlust inklusive, was ihr widerwärtige Titulierungen namhafter Bohème-Freunde und Freundinnen eintrug. Mindestens dreimal kam sie ins Gefängnis, wegen „Beischlafdiebstahls", wie es hieß, schwerer wog aber wahrscheinlich die Beihilfe zur Fahnenflucht. Emmy Hennings hatte Mut: 1934 fährt sie aus dem Exil im Tessin nach Berlin, um Erich Mühsam im KZ Oranienburg zu besuchen, vergeblich versucht sie, seine Ausreise in die Schweiz zu organisieren. Und sie war zugewandt: Um den zunehmend geistig verwirrten Hoddis kümmert sie sich, solange es eben geht.
Seit ihren frühen Prosaskizzen hat Hennings das „Konzept einer Gabe entwickelt, die sich nicht beobachten" und damit auch nicht „von anderen inszenieren lässt." Souveräne Hingabe und Selbstauslöschung sollen das alles durchdringende Tauschverhältnis suspendieren. In ihrem Tagebuch-Roman Das Brandmal (1920) geht Hennings „den Aporien einer sich prostituierenden Frau nach", sie inszeniert den „Ort der Frau als namenlosen Nicht-Ort einer Aufnehmenden", einer wie besessen Hörenden und Sehenden. „Warum ich so brennend in jedes Auge sehe. / Weil ich Auge aus allen Augen bin / Warum ich so schauend in jede Sehnsucht spähe? / Weil ich Sehnsucht aller Sehnsüchte bin", lautet das regelrecht programmatische Gedicht von 1921 dazu (S. 288).
Dagny heißt die Erzählerin aus Brandmal, ein Name, den Hennings gelegentlich auch als Pseudonym wählte (vgl. S. 553). Im vorliegenden Band wird das 1917 zur Veröffentlichung zusammengestellte, aber nie veröffentlichte Typoskript Verse und Prosa erstmals vollständig abgedruckt. Hier finden sich fünf Prosaskizzen unter dem Titel Dagny (ein Fragment). Den Zusammenhang mit Brandmal erläutert der Kommentar leider nicht. In Dagny I. (S. 200f.) begegnen sich, Lulu-like, die Frau und ihr Zuhälter-Mörder. Die Szene wird zum Ausschnitt aus einem alptraumhaften endlosen Reigen von Hingebung und Vernichtung. Die übrigen Fragment-Texte skizzieren ein Leben zwischen Cabaret-Auftritt, Prostitution, Vergewaltigung, Konkurrenz, Suizidversuch und Freiheitssehnsucht. Immer wieder sucht Dagny „Stecknadeln", um ihr „Tangokostüm" (S. 207) oder ihren „schwarzen Samtmantel, ohne Knöpfe," (S. 202) zusammenzuhalten. Brutale Entblößungsgefahr lauert überall, die Zerbrechlichkeit des Körpers ist stets gegenwärtig, die Sehnsucht nach absoluter Hingabe zerschellt am unentwegten ökonomischen Kreislauf.
Auch in Hennings' frühen Gedichten, entstanden um 1912 – die meisten hat sie wahrscheinlich in verschiedenen Varietétheatern in Kattowitz, Danzig, München und Berlin vorgetragen –, liegen erbarmungslose Wirklichkeit und Sehnsucht nach entgrenzter Begegnung dicht beieinander: „Und nachts in tiefer Dunkelheit, / Da fallen Bilder von den Wänden, / Und jemand lacht so frech und breit, / Man greift nach mir mit langen Händen" (S. 10), „Und ich weiß von keiner Zeit, / In die Arme fall ich dir..." (S. 9).
Nicola Behrmann und Simone Sumpf laden mit dem dritten Band der Kommentierten Studienausgabe zu einer Entdeckungsreise durch Hennings' lyrisches Werk ein. Auf die drei zu Lebzeiten veröffentlichten Einzelbände Die letzte Freude (1913), Helle Nacht (1922) und Der Kranz (1939) und weitere einzeln veröffentlichte Gedichte folgen nahezu sämtliche nachgelassene Gedichte und Prosaskizzen. Dabei werden zwei nachgelassene Gedichtsammlungen vollständig abgedruckt: das bereits erwähnte Typoskript Verse und Prosa (1917) und das 1941 für den katholischen Herder Verlag zusammengestellte Typoskript Die mystische Rose. Die meisten Texte aus Verse und Prosa wurden entweder einzeln oder in Helle Nacht veröffentlicht. Sie werden in der vorliegenden Ausgabe doppelt abgedruckt – ein Prinzip, das die Herausgeberinnen im Falle der bereits publizierten Gedichte aus der Mystischen Rose dann aber nicht weiterverfolgen. Die nachgelassenen Gedichte werden in der Reihenfolge ihrer Entstehung wiedergegeben; so schafft die Ausgabe einen Werkzusammenhang und lässt eine Schreibbiographie erkennen.Vgl. die Vorbemerkungen der Herausgeberinnen zum Editionsverfahren, S. 389f. Hilfreich sind die einführenden Kommentare zu den Gedichtbänden und den Typoskripten sowie die Erläuterungen zu den einzelnen Texten. Das ausführliche Nachwort von Nicola Behrmann ist Porträt und Zeitbild zugleich. Emmy Hennings wird, wie in den beiden vorangehenden Bänden der Ausgabe, sichtbar als unruhige Wanderin durch eiserne Zeiten – von den Grenzen sprengenden Literaturszenen der Weimarer Republik bis zu einem sehnsüchtigen Mystizismus in einem verheerten Nachkriegseuropa.
Eine Zeichnung (1912) auf einem von Ferdinand Hardekopf beschriebenen Manuskriptblatt (Abb. 9; S. 653) zeigt Hennings in langem Kleid in Tänzerinnen-Pose; beinahe ausgezehrt, in heller Bluse, mit gespitztem Mund, ein Auge vom dichten Haar freigegeben, den Blick fixierend auf den Betrachter gerichtet – so inszeniert sie sich 1929 (?) auf dem Foto-Doppelporträt mit der schwarz gekleideten Francisca Stoecklin (Abb. 13, S. 657). Und auf das Titelblatt einer für Hermann Hesse, den langjährigen Unterstützer im Schweizer Exil, nach 1938 zusammengestellten Gedichtsammlung malt sie eine Aquarellminiatur von sich, engelsgleich in weißem Gewand, gebettet in eine Rosenblüte, mit einem Sternenlampion in der Hand (Abb. 14, S. 658), umgeben von einer Gloriole, deren Strahlen jedoch nach innen, auf die Figur im Blütenkelch, gerichtet sind. Es sind die Facetten eines Lebens und Schreibens, das nur vordergründig widersprüchlich ist. 1911 konvertiert die Diseuse zum Katholizismus, in der Galerie Dada präsentiert sie Texte mittelalterlicher Mystik, 1927 beobachtet sie wochenlang die ‚stigmatisierte' Therese Neumann in Konnersreuth, wie vormals Clemens Brentano ‚seine' stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick in Dülmen, in den 1940er Jahren schreibt sie lyrische Nacherzählungen biblischer Szenen und immer wieder Marienlieder. Ekstatische Hingabe und Selbstaufhebung in der Begegnung mit dem Du – Dagny und die Mystikerin der späten Gedichte teilen häufig Semantik und Sehnsucht: „Ich bin so vielfach in den Nächten. / Ich steige aus den dunklen Schächten. / Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein. // So selbstverloren in dem Grunde, / Nachtwache ich, bin Traumesrunde / Und Wunder aus dem Heiligenschrein" (Traum II [1921], S. 53).
Manchmal kippen die Gedichte aber auch derart ins Kindlich-Naive, dass Kitsch nicht mehr weit ist: „Sonne, wer hat dich ersonnen? / Lob dem Schöpfer reinster Wonnen! / Dank der Güte ohne Namen / Schöne Sonne, leuchte Amen..." (Kleines Erntelied [1926], S. 133).
Bei der Entdeckungsreise durch die Gedichte kann man nie sicher sein, was als nächstes kommt – realistisches Schockmoment, Cabaret-Drastik, Poesiealbumromantik, Andachtsbild. Oftmals findet sich alles dicht beieinander: „Und kann man sterben wohl vor Scham? / Ich bin so müde, lendenlahm, / Und dennoch: Zähne gesund, mein Mund ist rot. / Madonna, laß mich fallen in tiefen Schacht. / Nur einmal noch: behütet sein... / Lieb mich von allen Sünden rein. / Sieh, ich hab manche Nacht gewacht" (Mädchen am Kai [1916], S. 30).
Will man ein Leitmotiv dieser Lyrik ausmachen, dann sind es wohl die flatternden Stoffe – mal Fahnen, mal Tücher, mal Lumpen. In ihnen materialisiert sich gleichsam die unruhige, fremd-bewegte, losgelöste Existenz des Ichs: „Bin eine von den Oftgeküßten. / [...] Ich flüchtend grauer, wehender Fetzen!" (Apachenlied [1915], S. 116). Gut, dass man solche Sprachfunken in Hennings' lyrischem Werk mit dieser Ausgabe nun aufspüren kann.
By Mirjam Springer
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