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Philipp Otto Runge, Briefe und Schriften. Bd. 1: Briefe 1795–1803. Bd. 2: Briefe 1795–1803. Kommentar. Bd. 3: Briefe 1804–1810. Bd. 4: Briefe 1804–1810. Kommentar. Hg. von York-Gothart Mix unter Mitarbeit von Naemi Bremecker. Brill / Schöningh, Paderborn 2021. Bde. 1 und 3 [durchgezählt] XXX/738 S., Bde. 2 und 4 [durchgezählt] 683 S., je Einzelband € 89,–

Pravida, Dietmar
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 351-357
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Philipp Otto Runge, Briefe und Schriften. Bd. 1: Briefe 1795–1803. Bd. 2: Briefe 1795–1803. Kommentar. Bd. 3: Briefe 1804–1810. Bd. 4: Briefe 1804–1810. Kommentar. Hg. von York-Gothart Mix unter Mitarbeit von Naemi Bremecker. Brill / Schöningh, Paderborn 2021. Bde. 1 und 3 [durchgezählt] XXX/738 S., Bde. 2 und 4 [durchgezählt] 683 S., je Einzelband € 89,– 

Philipp Otto Runge, Briefe und Schriften. Bd. 1: Briefe 1795–1803. Bd. 2: Briefe 1795–1803. Kommentar. Bd. 3: Briefe 1804–1810. Bd. 4: Briefe 1804–1810. Kommentar. Hg. von York-Gothart Mix unter Mitarbeit von Naemi Bremecker. Brill / Schöningh, Paderborn 2021. Bde. 1 und 3 [durchgezählt] XXX/738 S., Bde. 2 und 4 [durchgezählt] 683 S., je Einzelband € 89,–.

Philipp Otto Runge hatte, als er im Jahr 1810 im Alter von 33 Jahren starb, kein einziges Bild verkauft. Selbst Freunde und Bekannte außerhalb Hamburgs konnten nur die Stiche der Vier Zeiten, einige Umschläge für Taschenbücher und allenfalls einige seiner Dresdener Frühwerke kennen. Erst die 1840/1841 erschienene Ausgabe der Hinterlassenen Schriften, die sein Bruder Johann Daniel Runge herausgab, machte Runge zu einer fassbaren Gestalt, weniger durch sein malerisches Werk als durch die Briefe und die kunsttheoretischen Schriften sowie durch Beschreibungen seiner Werkprojekte. Runge blieb aber auch so verschollen und wurde erst zur Jahrhundertwende als Künstler wiederentdeckt und in den Jahren 1935 bis 1944 durch die Veröffentlichung weiterer Briefe als Person kenntlich (Briefe an Clemens Brentano hg. von Alfred Bergmann, 1935; Briefwechsel mit Goethe hg. von Hellmuth von Maltzahn, 1940; Familienbriefe in Auszügen in der Runge-Monographie von Otto Böttcher, 1937, und vollständig in der Ausgabe von Karl Friedrich Degner, 1940; weitere Familienbriefe hg. von Wilhelm Feldmann, 1944). Vor allem Degners Edition machte das Problem deutlich, das bereits seit Beginn der neueren Beschäftigung mit Runge bekannt war: Die in den Hinterlassenen Schriften enthaltenen Briefe sind nicht nur um adressatenbezogene Anteile gekürzt und auf Aussagen zur künstlerischen Entwicklung Runges, zu seiner Kunsttheorie und zu politischen Stellungnahmen reduziert. Außerdem sind sie stark und wohl auch tendenziös bearbeitet worden, wie sich an den insgesamt wenigen Stücken erweist, die sowohl handschriftlich erhalten sind als auch in den Hinterlassenen Schriften gedruckt wurden. Durch die jüngeren Runge-Briefausgaben ist eine zweite und anders geartete Überlieferungssituation gegeben: Hier sind die Handschriften im Fall der von Bergmann, Degner und Maltzahn edierten Briefe erhalten. Eine vollständige Ausgabe der Briefe sieht sich dadurch vor das Problem gestellt, welche editorische Konzeption sie verfolgen möchte: einen reinen Textabdruck – was für handschriftlich überlieferte Texte angemessen wäre – oder eine nach historisch-kritischen Methoden gearbeitete Ausgabe – die durch die Überlieferungssituation der Hinterlassenen Schriften angezeigt wäre („historisch-kritisch" ist, wie vielleicht erwähnt werden darf, nicht primär die Bezeichnung eines germanistischen Ausgabentyps, sondern die eines Methodenbündels, das zur Lösung bestimmter philologischer Aufgaben entwickelt wurde).

Die Briefe und Schriften Runges, von denen jetzt die gesammelten Briefe des Malers – ohne die an ihn gerichteten Briefe – in zwei Text- und zwei Kommentar-Bänden erschienen sind (Bde. 1 und 3 bzw. Bde. 2 und 4), verstehen sich ausdrücklich als „Kritische Ausgabe" (Bd. 2, S. 1). Darunter ist hier zu verstehen, dass handschriftlich erhaltene Texte diplomatisch wiedergegeben und bei nur im Druck erhaltenen Briefen ohne weiteren Aufwand die Erstdrucke reproduziert werden. In den Erläuterungsbänden finden sich zu jedem Brief knappe Angaben zur Überlieferung. Wo Handschriften vorliegen, werden Aufbewahrungsorte mitgeteilt und (nicht immer vollständige) Hinweise zu den älteren Drucken gegeben. Auf einen Lesartenapparat wurde verzichtet, Streichungen werden im edierten Text als solche wiedergegeben, ebenso Texteingriffe durch kursiven Herausgebertext in Winkelklammern im edierten Text angezeigt. Während Degner diejenigen Briefpassagen, die auch in den Hinterlassenen Schriften enthalten sind, mit einem Asteriskus am Anfang und am Ende markiert, gibt es in der neuen Edition keine detaillierteren Hinweise hierzu. Auf die naheliegende Präsentation solcher Stellen im Paralleldruck wurde verzichtet.

Die Ausgabe enthält 562 Briefe, darunter zwei Erstdrucke (Nr. 243 und 534). In den Hinterlassenen Schriften werden Einzelbriefe nicht vollständig wiedergegeben, sondern vielfach Auszüge daraus in verschiedenen Kapiteln der Ausgabe verstreut abgedruckt. Diese zusammengehörigen Briefteilstücke werden in der neuen Ausgabe linear in derselben Folge aneinandergefügt, in der sie sich über die beiden Bände des Erstdrucks hinweg finden, außer dort, wo Daniel Runge bereits die Textanschlüsse mitgeteilt hatte; Überlegungen zur Rekonstruktion des ursprünglichen Briefzusammenhangs und der Reihenfolge der zu ein und demselben Brief gehörigen Auszüge fehlen völlig. Die Teilstücke werden absatzweise ohne Abstand und ohne Markierung der Grenzen – die auch in der Beschreibung der Überlieferung nicht mitgeteilt werden – aneinandergereiht. So sind hier aus den Briefauszügen neue Texte entstanden, die in der Binnenreihenfolge der Absätze willkürlich und öfters unverständlich sind. In dem vierzeiligen Text Nr. 381 (Bd. 3, S. 510) ist in den ersten beiden Zeilen von Zeichnungen zu Ossian die Rede, in den folgenden beiden Zeilen von dem Gemälde Die Eltern des Künstlers; im edierten Text geht der Bezug auf das Gemälde völlig verloren und wird auch in den Erläuterungen nicht erklärt. Einmal werden zwei alternative Entwürfe eines Textstücks ohne weiteres nacheinander gedruckt (Nr. 133; Bd. 1, S. 147, Z. 6–8 und 13–16). Von Daniel Runge mitgeteilte regestartige Informationen und Angaben zu Textauslassungen bleiben oft beiseite (z. B. Bd. 3, S. 566, 577, 595, 713), aber in Nr. 155 (Bd. 1, S. 182, Z. 11–14) ist ein Textstück, das in den Hinterlassenen Schriften nicht als Briefauszug ausgewiesen ist, in den Text mit aufgenommen worden (möglicherweise zu Recht, aber ohne jeden Hinweis). Klammerzusätze Daniel Runges innerhalb von Briefen werden vereinzelt ausgelassen (Bd. 1, S. 96, Z. 7; Bd. 3, S. 385, Z. 17), meist aber ohne Hinweis übernommen (z. B. Bd. 1, S. 56, Z. 17; S. 64, Z. 29; S. 65, Z. 4; S. 70, Z. 3 und vielfach), obwohl sie in den Hinterlassenen Schriften öfter typographisch eigens markiert sind. Gelegentlich wurden willkürliche Absatzgrenzen eingefügt (Bd. 1, S. 32, Z. 4–5; S. 38, Z. 33–34; S. 64, Z. 35–36 u. ö.). Nicht abgesandte Entwürfe sind nicht als solche identifiziert (Nr. 308, 530, 536), Aufsätze und Stammbucheinträge ohne weiteres als Briefe behandelt (Nr. 328, 459, 463 [dieser Text wird irrig als Brief an Schelling ausgegeben], 475). In der neuen Ausgabe nicht erfasst sind acht Briefauszüge, die sich am Ende der Hinterlassenen Schriften in den „Nachrichten von dem Lebens- und Bildungsgange des Mahlers Philipp Otto Runge" finden. Es handelt sich um briefliche Zitate im Umfang von einer bis 14 Zeilen, die Selbstaussagen Runges über sein Verhältnis zu Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel enthalten; zum Teil lassen sich diese Textstücke nach Datum und Adressat eindeutig bestimmten anderen Briefauszügen zuordnen.

Die Wiedergabe der bereits gedruckten Briefe aus den Hinterlassenen Schriften und aus Feldmanns Edition ist vielfach fehlerhaft: ausgefallene und zusätzliche Buchstaben, verstümmelte Wörter, entfallene und hinzugekommene Pronomina, Präpositionen und Adverbien sowie Lesefehler. Einer der häufigsten unter letzteren ist die Verlesung von „Lust" als „Luft" (Bd. 1, S. 96, 148, 150, 156, 164, 228, 283, 302; Bd. 3, S. 457, 577). Mehrfach kommt es zu Textausfall im Umfang jeweils einer Zeile der Vorlage (so in Bd. 1, S. 99, Z. 27 und Z. 30; S. 111, Z. 5; S. 113, Z. 24; S. 118, Z. 30; S. 119, Z. 40; S. 316, Z. 32; S. 320, Z. 32; Bd. 3, S. 597, Z. 40; S. 685, Z. 28).Ausführlichere Nachweise zu Fehlern und Versäumnissen in Text und Erläuterungen sollen demnächst in einem Beitrag des Rezensenten im Wirkenden Wort erscheinen.

Bei der Wiedergabe von Handschriften wird größtmögliche Genauigkeit beansprucht, die Vorgänger – besonders Degner – werden in Einleitung und bei den einzelnen Briefen durch differenzierte Angaben des Grades ihrer vorgeblichen Ungenauigkeit oder Fehlerhaftigkeit charakterisiert. Allerdings weist der einzige Fall, wo ein Runge-Brief parallel in einer neueren wissenschaftlichen Edition vorliegt (Nr. 473),Ludwig Achim von Arnim, Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 33,1: Briefwechsel 1807–1808. Text. Hg. von Heinz Härtl unter Mitarbeit von Ursula Härtl. Berlin – Boston 2018, S. 423–425 (Runge an Arnim, 31. Mai 1808). weitaus mehr Übereinstimmungen mit Degner als mit der vorliegenden Ausgabe auf, was zu Bedenken Anlass gibt. Der Vergleich mit drei hinzugezogenen Handschriften zeigt, dass die Transkriptionen in der neuen Ausgabe recht fehlerhaft sind, selbst wenn man zahllose, meist eindeutig klärbare Dinge wie Absatzgrenzen, Groß- und Kleinschreibung bei „s", Fehlen oder Vorhandensein von Kommata, Dativ- oder Akkusativendungen, Schreibung -ss- oder -ß- und so weiter einmal ausklammert (links vor dem Lemmazeichen steht die Lesung der neuen Ausgabe, rechts der handschriftliche Text). (1) Runge an Johann Georg Zimmer, 24. Januar 1806 (Nr. 362): Bd. 3, S. 487, Z. 9 aussdruck] ausspruch – Z. 20 Herder] Herder – Z. 23 dadurch] darauf – Z. 31–32 nur einen in] nur in einen – Z. 39 Plattdeutsche] Platdeutsche – Z. 40 findet] findt – Z. 40 complet] complet – S. 488, Z. 8 solln] solle – Z. 10 ausreiten.] ausreiten – Z. 22 Perthes] Perthes – Z. 22 Kindchen] Kind schon – Z. 25 Phil Otto Runge] Phil Otto Runge – (2) Runge an Carl Schildener, März 1806, Abschrift von Daniel Runge (Nr. 369): Bd. 3, S. 496, Z. 6 1807] 1806 – S. 497, Z. 24 derBlüthenstaub] der Blüthenstaub (Zeilenwechsel vor Blüthenstaub in der Handschrift) – Z. 28 hinein] hinten – Z. 37 Bild] Bilde – (3) Runge an Clemens Brentano, 4. Mai 1810 (Nr. 551): Bd. 3, S. 703, Z. 4 währendes] wärendes – Z. 5 mein] meine – Z. 7 Erkältungen] erkältungen – Z. 7 ich 14 Jahre] ich in 14 Jahren – Z. 11 plötzlichen] plözlichen – Z. 19 fürgekommen] fürgekomen – Z. 22 wir] wird.Benutzt wurden folgende Handschriften: (1) an Johann Georg Zimmer, Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum: Hs–18467 (vgl. auch Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 38,3: Briefe III. Erläuterungen. Hg. von Lieselotte Kinskofer. Stuttgart 2004, S. 608f.); (2) an Carl Schildener, Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum: Hs–12997; (3) an Clemens Brentano, Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum: Hs–9898.

Den Transkripteuren der neuen Ausgabe ist die sogenannte Suspensionsschlinge unbekannt, die im 18. und 19. Jahrhundert besonders bei Kaufleuten – wie Runge selbst – als Abkürzungszeichen üblich war; daraus erklären sich Entzifferungen wie „Rechl" statt „Rech." oder „Rechn." als Abkürzung für „Rechnung" (z. B. Bd. 3, S. 506, Z. 20), „rh" statt „r." für „Reichsthaler" (z. B. Bd. 1, S. 7, Z. 37) und wohl auch „Dl" statt „D." für „Daniel" (vielfach). Demnach sind die zahlreichen Währungsangaben, die schon Degner Probleme bereiteten und die generell der Schrecken jedes neugermanistischen Editors sind, mit Vorsicht zu betrachten.

Besonders auffallend ist die Wiedergabe von Wortgruppen, die als Zusammenschreibungen (oder, wie es unzutreffend heißt: „Ligaturen"; Bd. 1, S. XII) aufgefasst werden. Dazu zählen Fälle wie „dahaben" (für „da haben"), „wolltreffen" (für „wohl treffen"), „wiedochauchbey" („wie doch auch bei"), „aberdoch", „auchwo", „ichhabe", ichwolte" (alle Bd. 1, S. 308); etwa zwei Drittel aller Fälle treten nach einem „h" auf. In den Handschriften zeigt sich, dass die überleitenden Striche derart verbundener Wörter dünn und mit schwachem Tintenauftrag geschrieben sind, während bei echten Zusammenschreibungen normaler Strich und fester Auftrag vorliegt. Es gibt keinen guten Grund, solche – in Kurrentschrift übliche und weitverbreitete – graphischen Liaisons als gewöhnliche Zusammenschreibungen zu behandeln, Zweifelsfälle wären besser mit dem dafür üblichen Sonderzeichen markiert worden. Andererseits gibt es in den Handschriften häufig auch größere Abstände zwischen Schriftzeichen innerhalb einzelner Wörter und auch an Stellen, wo keine Wortbildungsfuge vorliegt (z. B. „Freu_nde", „u_nsrigen" im Schluss des Briefes an Brentano vom 4. Mai 1810); die vorliegende Ausgabe setzt hier in der Transkription nicht etwa Leerzeichen, wie man erwarten müsste. Transkriptionen aus der kontinuierlichen Kurrentschrift in die diskrete Druckschrift sind für eine imitative Nachbildung des Schriftbildes und -duktus grundsätzlich nicht geeignet,Das Ideal einer „abmalenden" Transkription vertritt mit vielen sonderbaren Behauptungen Holger Ehrhardt in der Einleitung zu: Brüder Grimm, Werke und Briefwechsel. Briefe, Bd. 1: Briefwechsel mit Herman Grimm (einschließlich des Briefwechsels zwischen Herman Grimm und Dorothea Grimm, geb. Wild). Hg. und bearbeitet von Holger Ehrhardt. Kassel – Berlin 1998, S. 12–31, hier S. 29 f. Diese Grimm-Edition ist nach wenigen Bänden eingestellt worden. jeder Versuch in diese Richtung ist, sofern nicht Sonderzeichen eingeführt werden, ein Missbrauch des normalen Zeicheninventars, der in dieser Ausgabe weit getrieben wird. Zusätzlich gibt es viele Inkonsequenzen und Unstimmigkeiten, wie sich beim Blick in die Handschriften zeigt.

Der „Kommentar" beschränkt sich auf „zuverlässige Information über erwähnte Personen, künstlerische, literarische, wissenschaftliche und musikalische Werke, konkrete Sachverhalte und historische Zusammenhänge, die dem Verständnis des Textes dienlich ist" (Bd. 2, S. 1). Das geschieht ausschließlich in der Form von Stellenerläuterungen; übergreifende Angaben zu Adressat, Datierung, Anlass, Kontext und so weiter kommen nicht vor. Bei so gut wie jeder Erwähnung einer Person werden sämtliche in Taufakten oder sonst bezeugte Vornamen (jedoch nicht bei Karl Wilhelm Friedrich Schlegel und Pauline Susanne Bassenge, Runges Ehefrau) sowie gegebenenfalls Mädchennamen (aber nicht bei Suzanne Mélizet geborene Vannot), die Lebensdaten, das Verwandtschaftsverhältnis, berufliche Tätigkeiten, Porträtierungen durch Runge – egal wie viele Jahre vor oder nach dem Briefdatum – sowie weitere generische, oft evaluative Angaben („Lieblingsbruder", „Lieblingsschwester", „Lieblingsnichte", „berühmt", „renommiert", „legendär" usw.) gegeben. Familienangehörige werden dutzende und hunderte Male in dieser Weise vorgestellt, selbst bei geringstem Abstand zur gleichlautenden vorherigen Erläuterung derselben Person und sogar des Adressaten in demselben Brief, wo eine Zusammenstellung in einem biographisch-genealogischen Anhang oder im Register vorzuziehen wäre. Auch andere Erläuterungen gehen selten auf den konkreten Briefkontext ein, sondern charakterisieren Personen oder Dinge allgemein, heben aber nicht auf das an der betreffenden Stelle Gemeinte ab und erteilen oft reine Lexikonauskünfte. Mehr als die Hälfte der Erläuterungen wird so von redundanten und repetitiven Formulierungen ausgefüllt. Identifikationen von Personen und Kunstwerken gehen öfter in die Irre, da der Briefkontext und andere Briefe, die Erläuterungen früherer Editoren und die Forschungsliteratur kaum beachtet wurden. Zu kunst- und literaturhistorisch relevanten Passagen werden mit Vorliebe pauschale Bezüge zur Frühromantik hergestellt. Die Textferne, die gerade diese Erläuterungen auszeichnet, sei an der Behandlung des von Runge neben der Bibel am häufigsten angeführten Textes gezeigt, Tiecks Gestiefeltem Kater: Runge zitiert daraus erstmals in einem Brief an Bruder Carl vom 15. Januar 1799 (Bd. 1, S. 42, Z. 13f.); der Kommentar schweigt dazu. Er zitiert erneut im Brief an denselben vom 13. März 1799 (Bd. 1, S. 45, Z. 23 f. und 26f.); der Kommentar verweist auf die Walpurgisnacht im 1808 erschienenen Faust (Vers 4081; irrig im Faust-Fragment von 1790 lokalisiert). Im Brief vom 27. April 1799 an Carl Schildener zitiert Runge mit Anführungszeichen und Titelnennung (Bd. 1, S. 46, Z. 26f.); hier gibt es korrekte Angaben, ebenso bei einer späteren Erwähnung am 6. April 1803 (Bd. 1, S. 282, Z. 17), doch wird das nachfolgende Zitat (Z. 18f.) nicht erkannt. Weitere Zitate finden sich in Briefen vom 16. Dezember 1799 und vom 13./14. November 1801 (Bd. 1, S. 62, Z. 18, und S. 125, S. 18f.); der Kommentar schweigt. Am 1. April 1809 zitiert Runge ein letztes Mal (Bd. 3, S. 653, Z. 23f.); der Kommentar verweist auf Charles Perrault. Und am 29. Dezember 1801 berichtet Runge Tiecks mündliche Äußerung, „daß man von Gummi elasticum Stiefeln machen könnte" (Bd. 1, S. 136, Z. 36f.); hierzu heißt es in typisch generischer Form: „Johann Ludwig Tiecks (1773–1853) Märchenspiel Der gestiefelte Kater erschien 1797 in Berlin unter der pseudonymen Autorschaft ‚Peter Leberecht'" (Bd. 2, S. 139) – verkannt wird die wohl früheste Erwähnung des Gummistiefels im deutschen Schrifttum.

Erstmals lässt sich jetzt die Großzahl der Briefe Runges in zusammenhängender Folge und mit (nicht erschöpfenden) Registern lesen. Aber es handelt sich um eine im Textbestand lückenhafte, in der Textwiedergabe korrupte und in den Erläuterungen unzureichende Ausgabe.

Footnotes 1 Hinterlassene Schriften von Philipp Otto Runge, Mahler. Hg. von dessen ältestem Bruder. 2 Bde. Hamburg 1840–1841, Nachdruck Göttingen 1965. 2 Philipp Otto Runge, Briefe in der Urfassung. Hg. von Karl Friedrich Degner. Berlin 1940. 3 Bei Nr. 502 wird es sich um zwei verschiedene Briefe handeln, wobei zusätzlich das Datum unsicher scheint (vgl. Runge [Anm. 1], Bd. II, S. 505: „im April"). Falsch datiert ist jedenfalls Nr. 384; die richtige Jahreszahl 1808 statt 1806 ergibt sich aus dem genannten 71. Geburtstag der 1737 geborenen Mutter des Malers. 4 Runge (Anm. 1), Bd. II, S. 450, 465f., 471, 479, 496, 497, 498, 504.

By Dietmar Pravida

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Titel:
Philipp Otto Runge, Briefe und Schriften. Bd. 1: Briefe 1795–1803. Bd. 2: Briefe 1795–1803. Kommentar. Bd. 3: Briefe 1804–1810. Bd. 4: Briefe 1804–1810. Kommentar. Hg. von York-Gothart Mix unter Mitarbeit von Naemi Bremecker. Brill / Schöningh, Paderborn 2021. Bde. 1 und 3 [durchgezählt] XXX/738 S., Bde. 2 und 4 [durchgezählt] 683 S., je Einzelband € 89,–
Autor/in / Beteiligte Person: Pravida, Dietmar
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 351-357
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0089
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, Großer Hirschgraben 23–25, D-60311 Frankfurt/M., Germany

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