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Udo Roth

Gideon Stiening (Hgg.), Christian Garve (1742–1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung. (Werkprofile 14) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. IX/400 S., € 129,95. Christian Garve, Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. (Werkprofile 15.1) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. XXIX/414 S., € 129,95
In: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 325-329
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Udo Roth / Gideon Stiening (Hgg.), Christian Garve (1742–1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung. (Werkprofile 14) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. IX/400 S., € 129,95. Christian Garve, Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. (Werkprofile 15.1) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. XXIX/414 S., € 129,95 

Christian Garve, Ausgewählte Werke. Bd.1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening (Werkprofile 15.1) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. XXIX/414 S., € 129,95.

Udo Roth / Gideon Stiening (Hgg.), Christian Garve (1742–1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung (Werkprofile 14) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. IX/400 S., € 129,95.

Die vorliegenden Bände aus der Reihe Werkprofile sind mit Christian Garve einem heute vernachlässigten, aber zu Lebzeiten berühmten und einflussreichen Philosophen der deutschsprachigen Aufklärung gewidmet. Schon während seiner Studienjahre in Leipzig wurde Garve von Johann August Ernesti und Christian Fürchtegott Gellert in Richtung Popularphilosophie beeinflusst. In Leipzig konnte er 1770 auch eine außerordentliche Professur antreten, die er aber schon 1772 aus gesundheitlichen Gründen aufgab, um sich mehrere Jahre in seine Heimatstadt Breslau zurückzuziehen. Zu Beginn der 1780er Jahre nahm Garve den Kontakt zu den Zentren der deutschen Aufklärung wieder auf und wurde nun bis zu seinem Tode auf mehreren Gebieten unablässig schriftstellerisch produktiv. Diese und andere Details aus Garves intellektueller Biographie werden von den Herausgebern in ihrer Einführung zu dem Textband Ausgewählte Werke anschaulich dargestellt. Besonders eingängig ist die Schilderung von Garves Reise nach Göttingen (1781), wo ihn führende Aufklärer wie Feder, Lichtenberg und Forster willkommen hießen.

Die Tatsache, dass Garve bislang vernachlässigt wurde, erklären die Herausgeber unter anderem damit, dass er selten systematisch argumentiere, kaum Monographien publiziert habe und stattdessen seine Gedanken in Kommentaren zu Texten anderer Autoren und in zahlreichen, nicht immer leicht zugänglichen kurzen Essays und Rezensionen zur Sprache bringe. Das Philosophieren durch Kommentieren ist in der Tat charakteristisch für Garve. Zu seinen bekanntesten und einflussreichsten Schriften gehören die ausführlichen Anmerkungen zu seiner eigenen Übersetzung von Ciceros De officiis (1783), mit denen sich auch Kant kritisch auseinandergesetzt hat. Dem Geschick der Herausgeber ist es zu verdanken, dass mehrere der für den Textband ausgewählten Schriften mit den Beiträgen im Aufsatzband korrespondieren, so dass Leser die hier diskutierte Primärliteratur direkt zur Hand haben. Dazu gehören beispielsweise von den Monographien Garves Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik (1788), von den Zeitschriftenaufsätzen „Über die Moden" (1792) und „Von der Popularität des Vortrags" (1793) und von den Kommentaren die frühen „Anmerkungen zur Übersetzung von Adam Ferguson" (1772). Darüber hinaus sind dem Textband ausführliche, vornehmlich historische Erläuterungen der Herausgeber beigefügt (S. 307–376).

Der Aufsatzband ist in die Sachgruppen „Biographie und historischer Kontext", „Ethik und Politik" (mit sieben Beiträgen am umfangreichsten) und „Ästhetik, Anthropologie und Popularphilosophie" aufgeteilt. Beide Bände sind mit Anhängen versehen, die eine Zeittafel, eine detaillierte Quellen- und Forschungsbibliographie sowie Register enthalten. Den Beiträgen des Aufsatzbandes vorangestellt sind, „zum Geleit", autobiographisch ausgerichtete Reflexionen auf „50 Jahre Garve-Forschung" des kurz nach dem Erscheinen dieser Bände verstorbenen Rechtshistorikers Michael Stolleis, der mit seiner Monographie über Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des 18. Jahrhunderts von 1972 wesentlich dazu beigetragen hat, dass Garve in die Forschungsdebatte zum 18. Jahrhundert wieder eingeführt wurde.

Die Herausgeber weisen auf die Schwierigkeit hin, das weitverzweigte Werk Garves als Einheit zu erfassen und angemessen zu charakterisieren. Eine gewisse strukturierte Einheit von Garves Werk kann man daraus ablesen, dass sich in den Beiträgen quer zu der Einteilung in Sachgruppen wenigstens vier oft wiederkehrende Themen oder Konzepte identifizieren lassen, die zwar distinkt, aber durchaus miteinander verknüpft und zentral für Garves Werk sind: Popularphilosophie, Individuum und Geselligkeit beziehungsweise Allgemeinheit, Garve und Kant, Politik.

‚Ich bin Popularphilosoph, und das ist gut so'. In diesen Worten drückt sich Garve zwar nicht aus, aber ein Bekenntnis, dass er „ein populärer Philosoph" sei und damit gegenüber dem Mainstream der Schulphilosophie von Wolff bis Kant zu den Außenseitern gehöre, gibt er durchaus ab (Werkprofile 15.1, S. XXVII). Ironisch ist gewiss Garves Zusatz gemeint, dass er also ein „Feind aller ächten Philosophie" sei, denn wie aus den Beiträgen deutlich wird, hält Garve Popularphilosophie durchaus für „ächte Philosophie" und keineswegs für zweitranging. Wie ist die Etikettierung ‚Popularphilosophie' aus heutiger Perspektive zu bewerten?

Michael Stolleis meint, dass die einst negative Konnotation zu ‚Popularphilosophie' inzwischen einer zu begrüßenden ausgewogeneren Betrachtung gewichen sei. Dagegen stellt Johan van der Zande das Etikett in Frage und plädiert sogar für die Abschaffung des Titels ‚Popularphilosophie', gerade wegen der nach seiner Einschätzung immer noch vorhandenen ungerechtfertigten negativen Konnotationen (S. 145–146). Die anderen Autoren sehen für eine solche Abschaffung offenbar keinen Anlass. Anne Pollok analysiert in ihrem Beitrag zu einer „ganzheitlichen Anthropologie bei Mendelssohn, Garve und Schiller" Popularphilosophie „als eine Philosophie der Bildung und Entwicklung" (S. 275). Für alle drei in Betracht gezogenen Philosophen gelte bei allen Unterschieden, dass es ihnen um die Erfüllung eines „anthropologischen Ideal[s] einer Harmonie von Sinnlichkeit und Rationalität" gehe und dass die Popularphilosophie die Realisierung dieses Ideals am effektivsten unterstützen könne (S. 268). Jutta Heinz schließlich macht den Begriff der Popularphilosophie zum Hauptthema ihres Beitrags, stellt Kriterien für diese auf und untersucht, inwiefern der Begriff auf Garve zutrifft. Obwohl dieser kein „geschlossenes Konzept einer Popularphilosophie vorgelegt" habe (S. 331–332), lasse sich ein solches aus seinen essayistischen Schriften der 1790er Jahre rekonstruieren. Gegenstand der Popularphilosophie sei demnach der Mensch und seine verschiedenen Äußerungsformen in Moral, Politik und so weiter, als „Akteure" könnten auch Nicht-Akademiker fungieren, und die bevorzugte Vorgehensweise sei die beobachtende Methode, „das ureigene Terrain des Popularphilosophen" (S. 338).

Mit den Stichworten ‚Individuum und Geselligkeit' beziehungsweise ‚Allgemeinheit' ist ein Thema angegeben, das in mehreren Kontexten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bei Garve immer wieder eine zentrale Rolle spielt. Frank Grunert analysiert am Beispiel der Freundschaft zwischen Garve und dem Juristen Ernst Ferdinand Klein das Verhältnis von eigenständiger Individualität und sozialem Zusammenhang in Bezug auf die Arbeitsweise Garves und zeigt auf, dass Kommunikation mit Freunden für Garves philosophisches Schaffen auch als Instrument für die Produktion von Inhalten von entscheidender Bedeutung gewesen sei, dass aber die so verstandene Kommunikation für Garve auf Kontemplation, das heißt auf die „Privatheit des Denkens" angewiesen sei (S. 26). Antonino Falduto untersucht mit Blick auf Garves Kommentar zu Fergusons Institutes of Moral Philosophy (1772) seine These, dass individuelle menschliche Vollkommenheit nur durch den Einklang des individuellen Begehrens mit der Gesellschaft und der menschlichen Gattung entstehen könne (S. 53). Hans-Peter Nowitzkis Beitrag „Garves Geselligkeitskonzept" widmet sich der in der Forschung vernachlässigten und Fragment gebliebenen Schrift Ueber Gesellschaft und Einsamkeit (1797/1800), kontextualisiert diese insbesondere mit Bezug auf Johann Georg Zimmermanns Einsamkeitstraktate und zeigt, dass Garves zentrales Anliegen gegenüber Zimmermann die Aufwertung der Geselligkeit war, und zwar als etwas, das jenseits von Standesschranken zu denken sei (S. 313). Im Beitrag des Mitherausgebers Udo Roth wird unter dem Aspekt der Ästhetik Garves „eigentümliches Verständnis von Mode bzw. deren Relevanz für den vergesellschafteten Menschen" dargestellt (S. 358). Mode gebe es für Garve als Folge unserer geselligen Natur; sie diene vor allem dem Zweck der sozialen Distinktion (S. 359). Im Beitrag von Ansgar Lyssy geht es um das Verhältnis des Einzelnen nicht zur Geselligkeit, sondern zum Allgemeinen im Sinne der theoretischen Philosophie. Garve habe zwar keine eigene Erkenntnistheorie vorgelegt, gehe aber auf empiristischer Grundlage auf Themen aus diesem Bereich ein. Konkret stellt Lyssy mit Bezug auf den Aufsatz „Über den Charakter der Bauern" (1796) Garve als Vordenker der Einzelfallstudie zur Theoriebildung dar (S. 289).

Die Kontroverse zwischen Garve und Kant beginnt 1782 mit Garves, von Feder edierter Rezension der Kritik der reinen Vernunft und Kants vernichtender Replik in den Prolegomena (1783). Sie endet erst mit Garves Tod 1798. Stefanie Buchenau untersucht die Kontroverse im Hinblick auf das Thema Menschenwürde, wobei nicht die Kritik der reinen Vernunft, sondern Garves Cicero-Kommentar im Zentrum steht. Kant habe die Auseinandersetzung mit Garve gesucht, um seinen eigenen Würdebegriff zu entwickeln (S. 103). Für Garve gelte jedoch, dass Kant den Würdebegriff seiner personalen Dimension beraube, da er die Menschenwürde auf die bloße Vernunftwürde reduziere. Auch Andree Hahmann legt in seinem Beitrag zum Begriff der Pflicht den Schwerpunkt auf Garves Cicero-Übersetzung und -Kommentar. Mit Bezug auf Kant argumentiert Hahmann, dass Garve dadurch, dass er wegen der äußeren Umstände, die die Verwirklichung der Glückseligkeit in diesem Leben behindern könnten, auf die Unsterblichkeitsidee im christlichen Denken setze, Impulse für das Unsterblichkeitspostulat in Kants Kritik der praktischen Vernunft gegeben habe. Dieter Hüning dagegen liest die Geschichte der Kontroverse zwischen den beiden Denkern als eine solche „fortdauernder Missverständnisse" auf Seiten Garves und konzentriert sich auf die Garve-Kritik in Kants Aufsatz „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (1793). Garves Missverständnisse seien darin begründet, dass er im Anschluss an Christian Wolff nicht zwischen Moralbegründung und empirischer Psychologie unterschieden habe und daher Kants Moralbegründung, die die Unabhängigkeit seiner Ethik von jedem „besonderen Zweck" betone, nur missverstehen konnte (S. 220). Franz Hespe setzt sich mit Garves später Sittenlehre auseinander, zeigt jedoch auch detailgenau auf, dass und wie der zweite Abschnitt in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) auf Garve gemünzt sei. Garve wende sich seinerseits gegen Kant, der, so Garve, mit seiner Zurückweisung der Glückseligkeitslehre in der Moralphilosophie die Triebfedern sittlichen Handelns vernichte. Michael H. Walschots schließlich geht in seiner Untersuchung zu „Garves Eudämonimus" von Kants Lesart der Position Garves aus. Dabei kommt Walschots zu dem Ergebnis, dass Garve kein Hedonist sei, wie Kant fälschlich suggeriere, wohl aber Vertreter einer egoistisch ausgerichteten Moralphilosophie (S. 182). Für Garve sei die Glückseligkeit der empfindenden Wesen nicht nur einziger Beweggrund ihres Handelns, sondern auch Endzweck der Schöpfung.

‚Politik' spielt in den beiden Beiträgen von Johan van der Zande in je unterschiedlicher Weise eine Rolle. Im ersten Beitrag geht der Autor der Entwicklung von Garves Einschätzung der Französischen Revolution nach, von seiner erst leidenschaftlichen und dann verhaltenen Unterstützung 1789 bis zu seiner endgültigen Ablehnung acht Jahre später. In seinem zweiten Aufsatz behandelt der Autor Garves Projekt einer Übersetzung und Kommentierung der Politik des Aristoteles, ein Vorhaben, das Garve gegen Ende der 1780er Jahre in Angriff nahm, von dem er schließlich aber abließ. Dies habe nicht zuletzt mit dem Aufkommen der Professionalisierung der gelehrten Auseinandersetzung mit der Antike zu tun, die für Garve ein scholastisches Programm der detailgenauen Textkritik mit fragwürdigen sozialen Verdiensten gewesen sei (S. 146). Last, aber gewiss nicht least, präsentiert Reihen- und Band-Mitherausgeber Gideon Stiening eine Rekonstruktion der politischen Theorie Garves und rahmt diese in eine Darstellung von Konzeptionen des Naturrechts und des Naturzustandes im späten 18. Jahrhundert ein. Stiening macht deutlich, dass Garve für eine (moral-)theologisch fundierte Politik plädierte, was bislang übersehen worden sei (S. 185). Letztlich mache eine christliche Liebesethik den Motivationskern der politischen Ethik Garves aus.

Mit den vorliegenden Bänden haben die Herausgeber einen wesentlichen Beitrag zur Erneuerung der Garve-Forschung erbracht. Ihre eigene Aussage, dass von Garve-Forschung „derzeit keine Rede sein" könne (S. 1), haben sie durch diese Leistung bereits relativiert. Denn der Aufsatzband präsentiert zum einen durch seine oben skizzierte thematische Breite ein Bild des Gesamtwerks und enthält zum anderen innovative und detailliert argumentierte Beiträge auch zu bislang vernachlässigten Texten und Forschungsfeldern. Im Textband, der sich hervorragend für einen Einstieg in die Garve-Lektüre eignet, können auch Garve-vorbelastete Leser neue Entdeckungen machen. Kurz, es ist weit mehr als nur ‚Erste Hilfe' geleistet worden, die als Grundlage für weitergehende ‚Operationen' zur Rettung dieses wichtigen, aber vernachlässigten Aufklärers dienen kann.

By Udo Thiel

Reported by Author

Titel:
Udo Roth
Verantwortlichkeitsangabe: Gideon Stiening (Hgg.), Christian Garve (1742–1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung. (Werkprofile 14) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. IX/400 S., € 129,95. Christian Garve, Ausgewählte Werke. Bd. 1: Kleine Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. (Werkprofile 15.1) De Gruyter, Berlin – Boston 2021. XXIX/414 S., € 129,95
Autor/in / Beteiligte Person: Thiel, Udo
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 39 (2021-12-01), Heft 3, S. 325-329
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2021-0091
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Graz, Institut für Philosophie, Heinrichstraße 33, A-8010 Graz, Austria

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