Franz von Gaudy, Ausgewählte Werke. Bd. 1: Venetianische Novellen und italienische Erzählungen. Hg. von Doris Fouquet-Plümacher. Olms, Hildesheim – Zürich ‒ New York 2020. 426 S., € 49, 80.
Gelegentlich geraten vergessene Autoren aus gegebenem Anlass wieder ins Blickfeld der Literaturgeschichte. Da stand zum 220. Geburtstag die Erinnerung an Franz Freiherr Gaudy (1800‒1840) an; man wurde gewahr, dass dieser „spätromantische und realistische Schriftsteller im Vormärz" (S. 13) mit dem „berühmtesten Sohn" Frankfurts an der Oder, Heinrich von Kleist, „eine Generation später ähnliche Lebensumstände" teilte (S. 14). Das editorische Wagnis, Gaudy, im literarischen Deutschland einstmals „bekannt und geachtet" (S. 13), mit einer Darbietung ausgewählter Werke für die Literatur zurückzugewinnen, reicht jedoch über den Anlass hinaus. Das Projekt ergab sich nicht aus akademischer Betriebsamkeit zwischen Pflicht und Kür. Das Engagement der Herausgeberin erwuchs aus reichen Leseerfahrungen und regem historischen Interesse. Neu erlebte Texte unterlaufen Zuordnungskonventionen im Umgang mit den Texten aus der Schwellenzeit, dem behaupteten „Ende der Kunstperiode" und der Souveränität des „freien Worts", und aktivieren neue Gegenwärtigkeit.
Die Edition ist auf einen Umfang von drei Bänden angelegt. Der zweite Band soll „Erzählungen und Novellen", der dritte „Satiren, Humoresken und Grotesken" enthalten. Leserfreundlich dargeboten werden die Texte „in leicht modernisierter Orthographie" sowie „in einem der heutigen Rechtschreibung z. T. angeglichenen Schriftbild" (S. 399); sie sind mit einem Zeilenzähler für Wort- und Begriffserklärungen in den Fußnoten versehen. Als Textgrundlage dienen die Erstausgaben und Erstdrucke; berücksichtigt wurde daneben die 1844 von Arthur Mueller bewerkstelligte Ausgabe der Sämtlichen Werke, die „sich nicht ungeprüft als Grundlage einer neuen Ausgabe" eignet (S. 398).
Die edierten Texte bilden das Herzstück einer hier als Kompendium präsentierten Vermittlung der Biographie Gaudys, seiner literarischen Tätigkeit und der Rezeptionsgeschichte der Werke, die anhand einer umfassenden Bibliographie weitläufig nachvollziehbar wird. Die kurze Charakteristik der Texte und die Darlegung ihrer editorischen Aspekte erleichtern die Orientierung. Es war ein vortrefflicher Gedanke, die Venetianischen Novellen und Italienischen Erzählungen gleichsam als ‚Paradetexte' an den Anfang der Edition zu setzen. Beide Spätwerke sind eine Resonanz auf Gaudys Italienreisen 1835 und 1838/39 und ein Bindeglied in der Geschichte der Entfaltung des novellistischen Erzählens in Deutschland. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, Boccaccios Decamerone und Cervantes' Novelas ejemplares hatten der Aneignung der Erzählstrategien den Boden bereitet, Gaudy aktivierte die italienischen Konventionen und gelangte zu einer Novellistik eigenen Rechts.
Die Venezianischen Novellen werden durch einen Bericht über den „öffentlichen Erzähler von der Riva degli Schiavoni" programmiert. Gaudy verweist auf die Kraft des mündlichen Erzählens, auf einen „Novellisten" (S. 39), „aus dessen Mund" er „die Motive zu den nachfolgenden Erzählungen auf's Geratewohl sammelte" (S. 40). Bekannte Geschichten werden nacherzählt, darunter in Antonello, der Gondolier die indische Legende von den vertauschten Köpfen und in Frau Venus die aus dem Mittelalter überlieferte Geschichte einer sogenannten Statuenverlobung. Die Untertitel zu den Italienische Erzählungen variieren: fünf Texte werden als „Novellen", zwei als „Erzählungen", Der Deutsche in Trastevere als „romaneskes Genrebild" bezeichnet.
Gaudys novellistisches Erzählen zielt auf ‚unerhörte Begebenheiten'. Die Ereignisse sind durch das Leben vorgegeben, die Protagonisten fungieren als Exempel. Da gewinnen historische Konflikt-Gestalten wie Franz I. von Frankreich in Schloß Pizzighetone und der Zarewitsch Aleksej in Die Verratenen ebenso Profil wie der „Genueser Bösewicht" Mauro Calvo in Die Calvi und die „Todfeinde" Felice Longobuco und Alosio Polizzi in Kalabresische Feindschaft. Die Einprägsamkeit der Figuren weckt Interesse. In Der Stumme besucht ein stummer alter italienischer Stammgast, eine „geradezu Calot-Hoffmannsche Figur", seit 22 Jahren eine „der ältesten Weinstuben Berlins". Er gewinnt Zuneigung zum Ich-Erzähler, einem „jungen Freund", der in ihm Erinnerungen an sein Vaterland wachruft, und dem er vor dessen Abreise in einen versiegelten Brief seinem Lebensbericht überreicht: die Bestrafung des „Frevels seiner Zunge" durch die „Entsagung der Sprache" (S. 314). Gaudy hatte ein Gespür für Mentalitäten.
Durch die Aufnahme unter die im Frankfurter Kleist-Museum „gepflegten Autoren" (S. 11) wurde Gaudy als Schriftsteller wieder in die regionale Literaturgeschichte integriert. Doch angesichts eines in der Öffentlichkeit zerfasernden literarischen Bewusstseins bleibt die allgemeine Aufwertung Gaudys ein Desiderat. Im Buchhandel ist Gaudy mit schwacher Kontinuität und Einzelinteressen noch gegenwärtig, im Internet sprudeln mannigfaltige Informationen. Die Edition der Ausgewählten Werke dokumentiert die wissenschaftliche Qualität der Texte Gaudys und fordert Leser heraus, Textwahrnehmungen und historische Kenntnisse miteinander in Einklang zu bringen.
By Klaus Kanzog
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