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Rachel Raumann: Kompilation und Narration. Ulrich Fuetrers ›Buch der Abenteuer‹ als epische Literatur-Geschichte, Göttingen: V&R unipress 2019, 345 S. (Encomia Deutsch 5).

del Duca, Patrick
In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Jg. 143 (2021-12-01), Heft 4, S. 669-673
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Rachel Raumann: Kompilation und Narration. Ulrich Fuetrers ›Buch der Abenteuer‹ als epische Literatur-Geschichte, Göttingen: V&R unipress 2019, 345 S. (Encomia Deutsch 5) 

Raumann, Rachel Kompilation und Narration. Ulrich Fuetrers ›Buch der Abenteuer‹ als epische Literatur-Geschichte Encomia Deutsch 5 Göttingen V&R unipress 2019 1 345

Das ›Buch der Abenteuer‹ (›BdA‹) ist ein immenses Werk, an dem Ulrich Fuetrer von 1473 bis 1481 im Auftrag des Herzogs Albrecht IV. von Bayern gearbeitet hat. In dieser Kompilation vorgegebener Werke zur Artusdichtung entwirft der Autor eine »Geschichte des abendländischen Rittertums«. Diese Summa ritterlicher Heldentaten gliedert sich in drei Teile, die genealogisch organisiert sind und somit eine kohärente Einheit bilden. Das erste Buch beginnt mit der Geschichte des Gralgeschlechts (Von den Tempeleysen) und knüpft an den Trojanerkrieg an. Anschließend folgen die Geschichten von Mörlin, Gamoreth, Tschionachtolander, Parzival, Gaban, und Lohargrim. Das zweite Buch befasst sich mit den Abenteuern einzelner Helden: Es handelt sich um Wigoleis, Seyfrid, Melerans, Iban, Persibein, Poystilier und Flordimar. Das dritte und letzte Buch ist der Geschichte von Lannzilet gewidmet und nach dem französischen Prosa-Roman bearbeitet. Das gesamte Werk ist vollständig nur in der Prachthandschrift München, Staatsbibl., Cgm 1 erhalten, die für Albrecht und Kunigunde angefertigt worden war, sowie in der Hs. Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 3037–3038. Darüber hinaus existieren auch Teilabschriften des Werkes wie etwa die in der Hs. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 140, die von der breiten Resonanz zeugen, die es gleich nach seiner Entstehung genoss.

Die vorliegende Studie, die 2016 als Habilitationsschrift von der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen angenommen wurde, befasst sich eingehend mit der Mikro- und Makrostruktur des Werkes und dem Adaptationsverfahren des Autors. In ihrer ›Einleitung‹ (S. 9–27) betont Rachel Raumann zu Recht, dass dieses als Summe konzipierte Werk die vorgängige Artus-Gral-Tradition in ihrer Gesamtheit wiedergeben und zugleich ästhetischen Ansprüchen gerecht werden will. Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen konzeptioneller Absicht und dichterischer Erwartung durchzieht das ganze Werk.

Kap. I (S. 29–135) ist den Kompilationsstrategien des Dichters gewidmet. Die Autorin analysiert die Passagen, in denen die Baummetaphorik erscheint, und zeigt, dass diese Bildlichkeit sich in eine literarische Tradition einreiht und im ›BdA‹ eine ordnende Funktion erfüllt. Tatsächlich sind die Vegetationsbilder Teil einer Technik des Verbindens und werden etwa auch im ›Lannzilet‹-Prolog wieder eingesetzt. Dabei unterstreicht Rachel Raumann die Unterschiede zwischen dem Gebrauch dieser Metaphorik in den verschiedenen Teilen des Werks: Während sie in Teil I und II eindeutig zur Disposition beitrage, diene sie in Teil III dazu, das eigene Erzählen und das dichterische Talent Ulrich Fuetrers gegenüber der vorgängigen Tradition hervorzuheben. Außerdem wird in diesem Kapitel auch die im ›BdA‹ angewandte Kompilationstechnik analysiert. Im Vergleich zu anderen Werken, die verschiedene Romane kompilieren (man denke etwa an den ›Rappoltsteiner Parzifal‹ u. a., die die Autorin auch regelmäßig zum Vergleich heranzieht), zeichne sich das ›BdA‹ dadurch aus, dass es einem Kompendium ähnlich sei, »das die thematischen Grundtypen des arthurischen Sujets sowie dessen vielfältige narrative Variationen vorführt« (S. 131). In dieser Hinsicht bestehe eine Entsprechung zu Sammelhandschriften, die Kurzerzählungen, sogenannte maeren, enthalten. Die das ›BdA‹ charakterisierende Verbindungstechnik sei somit seriell und paradigmatisch (mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende), und resultiere zugleich aus einer »künstlich arrangierten, neuen Anordnung der literargeschichtlichen Tradition« (S. 133). Jedoch verweise Ulrich Fuetrer nur selten explizit auf die zahlreichen Vorlagen, auf die er zurückgreift.

Kap. II (S. 137–211) befasst sich mit den Bearbeitungstechniken Ulrich Fuetrers. Rachel Raumann betont, dass diese Technik durch zwei Haupttendenzen charakterisiert sei: einerseits durch eine stark ausgeprägte Neigung zur Kürzung und andererseits durch ein Netz von Anspielungen. Die Tendenz zur brevitas durchziehe das gesamte ›BdA‹, sodass die primären Vorlagen erheblich gekürzt werden und dabei meistens eine Reduktion auf den rudimentären Plot zu beobachten ist. Parallel dazu werde der Minne-Thematik eine große Bedeutung beigemessen, wie Raumann es an der Untersuchung von Fuetrers ›Trojanerkrieg‹ aufzeigt. Obwohl die Minne-Momente stark gekürzt sind, wird dem Erzählen über Liebe und Liebesleid ein zentraler Platz eingeräumt. Bei der Adaptation gewisser Episoden nehme sich Ulrich große Freiheiten heraus, etwa als er von der Liebesbeziehung zwischen Lannzilet und Ginofer erzählt. Diese Liebe wird ihrer sexuellen Dimension nahezu völlig entledigt und beschränkt sich im ›BdA‹ auf einen Kuss und eine Umarmung. Nach dieser Analyse des Verhältnisses zwischen Minne und brevitas geht die Autorin auf die Bedeutung der zahlreichen inter- und extratextuellen Andeutungen ein und zeigt, dass diese Verweise eine Kohärenz stiftendende Funktion innerhalb des Werkes erfüllen, wobei sie gleichzeitig gezielt an die Kennerschaft des Publikums appellieren. Zum Beispiel spielen manche Episoden auf Erecs verligen bei Hartmann von Aue oder auf das tumpheit-Motiv des jungen Parzival bei Wolfram von Eschenbach an. Dieses Spiel mit Assoziationen wird auch dazu genutzt, das Erzählte mit neuen Deutungsmöglichkeiten aufzuladen. Dies ist umso relevanter, als es an manchen Stellen die Figuren selbst sind, die auf die literarische Tradition Bezug nehmen. Auf diese Weise wird die Tradition nicht nur aufgerufen, sondern auch intradiegetisch verortet.

Kap. III (S. 213–283) untersucht das Verhältnis zwischen ›Narration und Kompilation im BdA‹. In den drei Teilen des Werkes spricht die Erzählerfigur Ulrich, die – wie von Bernd Bastert betont wurde – in der Tradition hochhöfischer Erzählerfiguren eines Hartmann und vor allem eines Wolfram stehe. Der Narr Ulrich, d. h. der unfähige Erzähler, diene dazu, dem kundigen Rezipienten ein Gefühl der Überlegenheit zu verleihen. Von dieser These ausgehend zeigt Raumann, dass die mit Ulrich konstituierte Erzählerfigur »konsequent in der Rolle des Toren figuriert« (S. 222) sei und zugleich mit dem literarischen Vorwissen des Rezipienten spiele. In dieser Perspektive werden die Streitgespräche zwischen Ulrich und den Personifikationsallegorien analysiert, die Ulrichs Hilflosigkeit inszenieren, sowie auch die Binnenprologe im ›BdA‹. Die Autorin zeigt, dass Fuetrer einen in seiner Radikalität eigenen Erzählertypus schafft. Er konzipiere einen am Erzählen scheiternden Erzähler, dem es trotzdem gelinge, das Werk auf der formalen Ebene zusammenzuhalten.

Im den Band beschließenden Kap. IV (S. 285–303) wird auf den 47 Strophen umfassenden Epilog des ›BdA‹ eingegangen. Er zeuge ein letztes Mal vom evozierten Erzählkosmos bekannter Werke und unterstreiche die Bedeutung des Liebesleids im Leben und Tod der aufgelisteten Protagonisten/innen. Auch hier wird die Minneproblematik in den Mittelpunkt gerückt. Was den Epilog auch kennzeichnet, ist die Weltabsage des Erzählers, die hier eine besondere Ausprägung erfahre, da sie nicht nur an die literarische Tradition anknüpfe, sondern an das gesamte ›BdA‹. Der Erzähler nehme Abschied von seinem Werk und zugleich auch von der Welt. Dabei verstärke er noch einmal die wechselseitige Relation zwischen »Erzähler, personifizierter Instanz und Figurenebene« (S. 291). Auf diese Weise erscheint der Epilog nicht nur als Ende des Werks, sondern auch »als ein Ende des Erzählens über Artus und den Gral selbst« (S. 291). Für Rachel Raumann erfüllen das Liebesleid und der Tod der Figuren sowie die Absage des Erzählers an die Welt eine doppelte Funktion. Zum einen verweise solches Scheitern auf Ulrichs Dilemma, nichts Neues erzählen zu können, zum anderen werde damit nahegelegt, dass nach Abschluss dieser Kompilation nichts mehr erzählt werden kann. Nachdem Ulrich Frau Welt ins Ungewisse entlassen hat, ist auch das Ende des arthurischen Erzählens erreicht.

Zweifellos gelingt es der Autorin in dieser gut durchdachten Studie, die Originalität zu zeigen, die Ulrich Fuetrers große Kompilation charakterisiert. Anders als die meisten mittelalterlichen Autoren, die ältere Texte benutzen und neu organisieren, verschmelze Fuetrer seine Vorlagen auf der Makroebene nicht zu einem syntagmatisch kohärenten Großroman, sondern konzipiere das ›BdA‹ eindeutig als Kompendium, als »kompilatorisches Konstrukt«: Sein Werk erweise sich als »eine artifiziell arrangierte Anthologie des Vorgängigen« (S. 311), in der die Artus-Gral-Tradition den Kern bilde. Dabei liege Fuetrer nicht daran, diese Artus-Welt zu re-historisieren, sondern er beschränke sich auf eine rein literarische Rezeption der Tradition.

Die gesamte Analyse erweist sich als stringent und überzeugend, man kann nur bedauern, dass gewisse Aspekte der Bearbeitungstechnik Fuetrers nicht berücksichtigt werden. Die Autorin geht zu Recht ausführlich auf die Rolle der Kürzung ein, übersieht jedoch, dass dieser Hang zur brevitas Hand in Hand mit einer Tendenz zur Vereinfachung und Tilgung aller überflüssigen Spannungen geht. So wird häufig auf religiös-ethische Aspekte verzichtet, die im Mittelpunkt der benutzten mittelalterlichen Prätexte standen. Die Auffassung des Rittertums wird bei Fuetrer auf ein Mindestmaß reduziert: Im ›BdA‹ stehen nur noch adlige Herkunft, Tapferkeit, Männlichkeit und Suche nach Ehre im Vordergrund, während alle ethischen Werte, die in den mittelalterlichen Werken zentral und für ein richtiges Rittertum konstitutiv waren, verloren gegangen sind. Zum Beispiel wird in der Iban-Episode die christlich-moralische Dimension, die den Helden im zweiten Teil von Hartmanns ›Iwein‹ charakterisiert, völlig weggelassen. Hartmann hielt seinem Publikum einen ethischen Spiegel vor und hoffte wohl, das Rittertum durch das vorgeschlagene Modell zu reformieren, das heißt zu humanisieren bzw. zu spiritualisieren. Eine ähnliche didaktische Intention findet sich bei zahlreichen mittelalterlichen Autoren, und nicht zuletzt bei Wolfram von Eschenbach oder Wirnt von Grafenberg. Der Hang zur Vereinfachung, der Fuetrers Werk durchzieht, ist nicht ideologisch bedingt. Der Autor hätte wohl nichts Einheitliches und Kohärentes schreiben können, wenn er die ideologischen Aspekte der verschiedenen Werke nicht stark gemildert oder gar getilgt hätte. Dem Bearbeiter geht es nicht um die Wiederaufnahme der didaktisch-ethischen Inhalte einzelner Romane aus dem 12. oder 13. Jahrhundert, sondern um die Reaktualisierung einer ganzen literarischen Tradition, wobei das intellektuelle Spiel mit einem kundigen Publikum – wie Rachel Raumann einleuchtend nachgewiesen hat – von großer Bedeutung ist. Diese Bemerkung stellt die Qualität dieser soliden und kohärenten Analyse zum Werk Ulrich Fuetrers jedoch keineswegs in Frage.

Footnotes 1 Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, München 2000 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 3), S. 88. 2 Vgl. Bernd Bastert: Der Münchner Hof und Fuetrers ›Buch der Abenteuer‹. Literarische Kontinuität im Spätmittelalter, Frankfurt/Main [u. a.] 1993 (Mikrokosmos 33), S. 271.

By Patrick del Duca

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Titel:
Rachel Raumann: Kompilation und Narration. Ulrich Fuetrers ›Buch der Abenteuer‹ als epische Literatur-Geschichte, Göttingen: V&R unipress 2019, 345 S. (Encomia Deutsch 5).
Autor/in / Beteiligte Person: del Duca, Patrick
Link:
Zeitschrift: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Jg. 143 (2021-12-01), Heft 4, S. 669-673
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0005-8076 (print)
DOI: 10.1515/bgsl-2021-0051
Schlagwort:
  • DILEMMA
  • GOTTINGEN (Germany)
  • Subjects: DILEMMA
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GOTTINGEN (Germany)
  • Author Affiliations: 1 = Université Clermont Auvergne, UFR Langues, Cultures et Communication, 34, avenue Carnot, TSA 60401 – 63001 Clermont-Ferrand Cedex 1, Frankreich

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