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Marco Bellabarba, Das Habsburgerreich 1765–1918. (Transfer.) Berlin/Boston, De Gruyter 2020.

Judson, Pieter
In: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-11-01), Heft 3, S. 724-725
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Marco Bellabarba, Das Habsburgerreich 1765–1918. (Transfer.) Berlin/Boston, De Gruyter 2020 

Marco Bellabarba, Das Habsburgerreich 1765–1918. Transfer. 2020 Walter de Gruyter GmbH Berlin/Boston, 978-3-11-067488-0, € 29,95

Marco Bellabarbas kluge, aufschlussreiche und abgewogene Geschichte des habsburgischen Staates von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu seinem Zusammenbruch 1918 ist nun ins Deutsche übersetzt worden. Die Lektüre ist sowohl für diejenigen, die mit der Geschichte des habsburgischen Mitteleuropa weniger vertraut sind, als auch für jene, die sie bereits besser kennen, überaus gewinnbringend.

Bellabarba nähert sich seinem komplexen Thema vor allem aus der Perspektive der großen Politik, der Institutionen und der Außenpolitik. Das Buch ist keine Sozialgeschichte, obgleich es den sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandel berücksichtigt, der die Institutionen und Akteure beeinflusste, die vor allem im Mittelpunkt stehen. Bellabarba ist einer der wenigen italienischen Historiker, die über den habsburgischen Staat forschen. Er bringt in seine Studie eine genaue Kenntnis der österreichischen Besitzungen auf der italienischen Halbinsel ein, vor allem der verbundenen Provinzen Lombardei und Venezien – Regionen, die andere Historiker oft außen vor lassen, weil sie 1859 und 1866 an Piemont beziehungsweise das neue Italien verlorengingen. Dennoch waren diese Provinzen, wie Bellabarba zeigt, für die institutionelle Entwicklung des habsburgischen Staates im postnapoleonischen Europa zentral. Seine analytischen Vergleiche der Habsburger Staatsbildungsmaßnahmen in der Lombardei, in Galizien und in Dalmatien (Regionen, die nach 1815 in den österreichischen Staat integriert werden mussten) eröffnen oft neue und unerwartete Einsichten über das gesamte Reich.

Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert und folgt einer traditionellen Chronologie. Jeder Abschnitt enthält kurze, aber erhellende Porträts staatlicher Akteure von Haugwitz bis Aehrenthal; anhand von ihren Bemühungen macht Bellabarba imperiale Strukturen und ihre Grenzen sichtbar. Bellabarba versteht gut, wie selbst die problematischsten und einengendsten Strukturen, wie der Ausgleich von 1867, auch Chancen eröffneten, um drängende Probleme zu lösen – oft auf der lokalen oder regionalen Ebene. Zugleich führten die obsessiven Versuche des Reichs, seinen Rang unter den europäischen Großmächten zu wahren, bis hin zur Julikrise von 1914 immer wieder Situationen herbei, die seine Stabilität bedrohten.

Der Fokus auf Strukturen, Institutionen, Außenpolitik und die Individuen, die diese betrieben und formten, ermöglichen es Bellabarba, Abschnitte der österreichischen Geschichte in einem neuen Licht zu sehen. Seine Analysen der Restauration und des Vormärz sind bezüglich der Strukturen der Habsburger Herrschaft und ihrer Beziehung zu den napoleonischen Vorgängern sehr erhellend. Seine Sicht der Epoche als eine der Stagnation, der verpassten Gelegenheiten und der zunehmenden wirtschaftlichen Rückständigkeit spiegelt jedoch vor allem die Sichtweise einer demoralisierten Bürokratie, die sich in diesen Jahren von ihrer Rolle als Träger revolutionären Wandels, die sie unter Josef II. innegehabt hatte, unter Franz I./II. in ein schlecht bezahltes Aushängeschild eines abgestandenen status quo transformiert. Bellabarbas Perspektive verhindert daher vielleicht, andere Quellen mit unternehmerischer und wissenschaftlicher Dynamik für die österreichische Gesellschaft aufzutun, die unsere Sicht auf die Zeit verändern könnten.

Ebenso sieht er die neo-absolutistische Periode (1850–1861) vor allem mit Blick auf die politische Verfolgung und den politischen Autoritarismus, weniger mit Blick auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik der Zeit. Schließlich führt der Fokus auf Staatsbildungsprozesse dazu, dass Bellabarba einige der drängenden Fragen, welche die österreichische und ungarische Politik der Jahre zwischen 1880 und 1914 beschäftigten und die im Mittelpunkt der produktiven historiographischen Debatten der letzten zwei Dekaden standen, nicht direkt zu beantworten versucht. Er bietet aufschlussreiche Analysen darüber, wie Nationalismus funktionierte und sich im Laufe der Zeit in der österreichischen und ungarischen Politik veränderte, aber sein Zugang verschließt ihm die Möglichkeit, darüber zu spekulieren, inwieweit jenseits der Behauptungen interessegeleiteter Politiker populäre Nationen wirklich existierten. Diese Frage lässt er offen. Diese Frage überschattet auch Bellabarbas Schilderung des Ersten Weltkriegs. Waren Österreicher, die sich als Angehörige unterschiedlicher nationaler Gemeinschaften sahen, trotzdem gegenüber dem Reich loyal? Diese Frage – die in den letzten Jahren Gegenstand sehr fruchtbarer Forschungen war – kann durch eine Untersuchung von Institutionen, politischen Strukturen und Außenpolitik nicht beantwortet werden. Es spricht sehr für Bellabarba, dass er sie daher offen lässt und mehrere Deutungsmöglichkeiten und Optionen bietet. Gerade diese Entscheidung zeichnet sein Werk im Feld der Politik- und Institutionengeschichten besonders aus.

By Pieter Judson

Reported by Author

Titel:
Marco Bellabarba, Das Habsburgerreich 1765–1918. (Transfer.) Berlin/Boston, De Gruyter 2020.
Autor/in / Beteiligte Person: Judson, Pieter
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-11-01), Heft 3, S. 724-725
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1381
Schlagwort:
  • DAS Habsburgerreich 1765-1918 (Book)
  • BELLABARBA, Marco
  • HABSBURG, House of
  • CENTRAL European history
  • NONFICTION
  • Subjects: DAS Habsburgerreich 1765-1918 (Book) BELLABARBA, Marco HABSBURG, House of CENTRAL European history NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Marco Bellabarba, The Habsburg Empire 1765-1918. (Transfer.) Berlin / Boston, De Gruyter 2020.
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = European University Institute, Department of History and Civilization, Florenz,, 50139, Italy.
  • Full Text Word Count: 674

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