Jan-Hendryk de Boer, Absichten, Pläne, Strategien. Erkundungen einer historischen Intentionalitätsforschung. Kontingenzgeschichten, Bd. 5. 2018 Campus Verlag GmbH Frankfurt am Main, 978-3-593-50956-3, € 39,95
Der Band stellt die Bedeutung von Intentionalität für die Entfaltung historischer Phänomene zur Diskussion. Intentionalität meint „das Vermögen des Geistes [...], auf etwas gerichtet zu sein." Geisteszustände besitzen Intentionalität, „insofern sie auf mentale Phänomene" zurückgeführt werden (S. 25 f.). Die Schlacht bei Poitiers thematisiert Marcel Bubert, weist dabei weitgreifende Intentionsunterstellungen (Abwehr ‚der Araber') zurück und verortet das Handeln der Akteure in den Kontext ihrer unmittelbaren Gegenwart. Bei der Analyse der Reformpläne Alfreds des Großen postuliert Stephan Bruhn, dass die Quellen nicht „als bloße Artikulation mentaler Zustände betrachtet" werden können (S. 75). Intentionen können letztlich nur „also als soziale Kommunikation" untersucht werden (S. 89). Karl Ubl thematisiert den Einfluss Ludwigs des Frommen auf die Capitula legi Salicae addita. Obwohl kein Gesetz, dokumentiert die Quelle den Druck, den der Kaiser auf die regionalen Rechtstraditionen ausübte. Franziska Klein konstatiert einen eher aktiven Zugriff der englischen Könige beim Umgang mit konvertierten Juden im Gegensatz zum reaktiven Vorgehen der Päpste. Der Ermordung Erzbischofs Burchard III. von Magdeburg geht Katharina Mersch nach. Dabei haben „zeitgenössische Konzepte von [...] Motiven das mittelalterliche Schreiben über die Tat" (S. 169) stark geprägt.
Handlungen, so Jan-Hendryk de Boer in dem Beitrag zum avignonesischen Papsttum, werden von Historikern oft als „willentliche Hervorbringungen von Subjekten [...], die über geistige Zustände verfügen", verstanden (S. 215). Zwar handele es sich vielfach um Mythen, weil Handlungen immer in einem Möglichkeitsraum stattfinden. Ohne Berücksichtigung von Intentionalität entstünde jedoch ein „blinde[r] Fleck, in dem nichts weiter untersucht" werden kann. Avignon als Sitz des Papsttums ist dann eine Folge der „Opportunitätserwägungen [...] und situativer Handlungszwänge" (S. 223) Clemens' V. und Johannes' XXII. Ulla Kyptas anregender Text fragt nach der ‚Rangordnung' einzelner Motive beim Agieren von Hansekaufleuten, wobei sie ‚Nutzenmaximierung' und ‚guter Kaufmann sein wollen' gegenüberstellt. Den vom Herzog Johann Ohnefurcht beauftragten Mord an Ludwig von Orléans untersucht Christoph Mauntel. Obwohl die Tat gut dokumentiert ist, wären Aussagen über die Beweggründe Johanns auch dann nicht möglich, wenn er sich „in einem Brief selbst geäußert hätte: Auch eine solche Quelle stilisiert" (S. 265). Anhand des Sternberger Hostienfrevelprozess von 1492 zeigt Kristin Skottki, dass den Quellen nur unzureichende Hinweise auf Absichten der Akteure entnehmen lassen. Dagegen unterstellt die Forschung oft rationale Intentionen bei der Inszenierung des Hostienfrevels. Johannes Heynlin von Steins Ziele bei der Anlage seiner Bibliothek analysiert Ueli Zahnd. Nimmt man jedoch die Komplexität der Psyche historischer Akteure ernst und führt Handlungen primär auf diese zurück, fragt Zahnd abschließend: „[W]o bleibt dann das historische Erklären?" (S. 328). Christian Hoffarth untersucht den Reisebericht des Ludovico de Varthemas. Gerade die fiktionalen Teile des Berichts zeigen, dass die Fragen nach Autorabsichten „als nicht dispensierbar" erweisen, da hier keine „epistemische und literarische Strukturen allein dafür verantwortlich gemacht werden können" (S. 357). Insgesamt liegt ein äußerst spannender Band vor, in dem der geschichtstheoretische Vorschlag der Herausgeber von allen Beiträgern differenziert diskutiert wird.
By Franz-Josef Arlinghaus
Reported by Author