Markus Wahl, Volkseigene Gesundheit. Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR. Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 75. 2020 Franz Steiner Verlag GmbH Stuttgart, 978-3-515-12671-7, € 45,–
Der von Markus Wahl edierte Sammelband zielt auf eine Analyse der „ambivalenten Alltagserfahrungen" (S. 14), die DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit ihrem Gesundheitswesen bis 1989 machten. Die Publikation geht auf eine Tagung am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung im Sommer 2018 zurück, die beabsichtigte, „eine gewisse Bestandsanalyse und Reflexion vorzunehmen" und „einige der neuen Wege in der Sozialgeschichte zum Gesundheitswesen der DDR zusammenzufassen" (S. 16). Konkret interessieren sich die Autorinnen und Autoren für Fallbeispiele, in denen Patientinnen und Patienten nicht zu Objekten des ostdeutschen Gesundheitsapparats degradiert wurden, sondern auf lokaler Ebene Gestaltungsmacht erlangten.
Die Beiträge, überwiegend aus der Feder von Postdoktorandinnen und Postdoktoranden, sind thematisch breit gefächert: Anja Werner richtet den Blick auf den Umgang des DDR-Gesundheitswesens mit Hörgeschädigten, die ausnahmsweise 1957 eine Interessenvertretung gründen durften. Die Regierung machte ihnen gegenüber Konzessionen, weil sie Hörgeschädigte als Facharbeiter/-innen an die Wirtschaft binden wollte und sie der Ansicht war, durch die Lenkung „qualifizierte[r] Genossen" (S. 44) könne man mögliche politische Widerstände vonseiten dieses Zusammenschlusses in Schach halten. Markus Wahl fragt nach dem „Alltag" von Diabetikerinnen und Diabetikern und Alkoholabhängigen im Betrieb, die aufgrund ihrer Krankheit zuweilen Diskriminierungen und berufliche Deklassierungen hinnehmen mussten. Florian Bruns diskutiert den Quellenwert von Patientinnen- und Patienteneingaben – Beschwerden und Bittgesuche – an staatliche Behörden als Selbstzeugnisse, die gleichzeitig dem Staat Informationen über die Stimmung in der Bevölkerung lieferten. Ekkehardt Kumbier und Kathleen Haack konzentrieren sich auf die Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft (1974/76), die erfolglos einem tradierten, patriarchalischen Arzt-Patienten-Verhältnis entgegentraten. Christine Hartig untersucht am Beispiel einer Arzneimittelstudie in Jena, welcher Strategien sich Prüfärztinnen und Prüfärzte in den 1980er Jahren bedienten, um zugunsten ihres westdeutschen Auftraggebers die defizitären lokalen Rahmenbedingungen zu kompensieren und internationale Prüfstandards zu umgehen. Pierre Pfütsch zeichnet die (teils selbstinitiierten) Entwicklungsschübe im Berufsbild des Krankentransporteurs nach, zu dessen Aufgaben sukzessive auch medizinische Tätigkeiten zählten. Christian Sammer demonstriert am Beispiel der Gesundheitserziehung die „Grenzen der gesellschaftlichen Reformfähigkeit" (S. 177). Weil „die Utopie Gesundheit [...] mit der Etablierung des Sozialismus als bereits umgesetzt" (S. 198) galt, scheiterten engagierte Gesundheitserzieher/-innen, die gesellschaftliche Verhältnisse mitverantwortlich für Krankheit erklärten, an der starren DDR-Ideologie.
Wie einzelne Beiträge veranschaulichen, richtete sich der Blick ostdeutscher Patientinnen und Patienten und Gesundheitsakteurinnen und -akteure immer wieder auf die Bundesrepublik, um die Qualität der eigenen Gesundheitsversorgung zu bewerten. Auch orientierte sich das DDR-Gesundheitswesen, sofern dies nicht im Widerspruch zu ideologischen Überzeugungen stand, an internationalen Trends oder machte gegenüber Patientinnen und Patienten auch Zugeständnisse. Der Sammelband verfolgt diese Perspektiven jedoch ebenso wenig konsequent wie andere der einleitend skizzierten, interessanten neuen Wege der Forschung, darunter die Infragestellung etablierter Zäsuren der DDR-Geschichtsschreibung oder die Analyse überkommener Gesundheitskonzepte aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert (vgl. S. 15 f.). Und so aufschlussreich die Einzelbeiträge auch sind: Als Bilanz der verschriftlichten „Reflexionen" hätte man sich ein wenig mehr gewünscht als die lapidare Erkenntnis, wonach „lokale Initiativen von Akteuren möglich, jedoch dieser Eigenaktivität klare Grenzen gesetzt waren [...]" (S. 21).
By Henning Tümmers
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