Jochen Maurer, Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Militärgeschichte, Sozialwissenschaften, Zeitzeugen. Bundeswehr im Einsatz, Bd. 1. 2021 Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 978-3-525-33609-0, € 45,–
Eine „Zeitenwende" für die deutsche Gesellschaft und für die Bundeswehr nennt deren Generalinspekteur in seinem Abschlussbeitrag den „Krieg um das Kosovo" (S. 407). Nicht mehr „‚[k]ämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen'", sei nun die Aufgabe, sondern „‚[k]ämpfen können, um zu bestehen'" (S. 406). Aber was meint „bestehen"? Darüber wird in diesem Band, der auf eine Tagung 2017 zurückgeht, nachgedacht. Soldaten mit Einsatzerfahrung, Wissenschaftler (darunter drei Frauen) und ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter sind beteiligt. Vor allem die Berichte der Soldaten zeigen eindringlich die Probleme, vor welche die Armee mit Auslandseinsätzen gestellt wird.
„Wie viel Krieg gibt es eigentlich in den internationalen Missionen der Bundeswehr?" Dieser „Leitfrage" (S. 381) gingen in einer Podiumsdiskussion fünf Soldaten mit ihrer Erfahrung im Afghanistaneinsatz nach. „Der Krieg ist auf mich zugekommen, und zwar schneller, als ich denken konnte" (S. 392). So bündelte ein Kompaniechef seine Erfahrung mit den Kampfeinsätzen. Doch sein Auftrag umfasste auch helfen, fördern und sichern. Allerdings ohne die institutionelle Arbeitsteilung, wie sie der Comprehensive Approach verspricht. Auch evaluiert hat er selbst, weil es andere nicht getan haben. Afghanistan gehe es „schlechter als je zuvor". So sein Eindruck, als er 2016 wieder in Kabul war. „Aber wir haben auch viel erreicht" (S. 392). Die Auswertungen von soldatischen Ego-Dokumenten (J. Maurer) und der Rückblick eines Stabsoffiziers (P. K. Bomhardt) bestätigen den Befund: Die „‚Generation Einsatz'" (S. 375) musste selbst herausfinden, welchen „Endzustand im Einsatzland" (S. 369) sie erreichen wollte und wie. Aus der politischen Führung und der militärischen Bürokratie sei wenig Hilfe gekommen. Der Band zeugt von dem Willen, diese Probleme offen zu diskutieren. Wie hat sich die Bundeswehr auf ihrem Weg zu einer Armee, die kämpft, verändert? Was hat sich bewährt und was nicht? Wie sind die Soldaten mit der „Diskrepanz zwischen Realität und offizieller Diktion" (S. 17) umgegangen? Was erwarten sie von der Politik und der Gesellschaft und was Letztere von ihr? Es geht also um eine Evaluierung der Auslandseinsätze, mit denen die deutsche Politik, das K-Wort weiterhin scheuend, die Bundeswehr beauftragt hatte.
In der Politik ist man von einer „selbstkritischen Evaluierung" weit entfernt (S. 323), bilanziert W. Nachtwei, der als Abgeordneter an den Versuchen dazu beteiligt war. Bei den Wissenschaftlern überwiegt Kritik. Sie zielt in unterschiedliche Richtungen. Einige Beiträge kritisieren generell die Paradoxien militärischer Friedensmissionen (S. Knöbl; G. Hankel), andere zeigen, wie Auslandseinsätze ohne klare politische Ziele begonnen und durchgeführt wurden (H.-P Kriemann; K. Naumann; P. Münch). Zu Letzterem hat wohl die expansive „Versicherheitlichung" im politischen Denken beigetragen (E. Conze). Auch die sozialwissenschaftliche Theorie der „Neuen Kriege" (M. Holzinger) bietet keine Hilfe. Sie ist, so M. Rink in seiner begriffsgeschichtlichen Studie zur Frage „Was nennen wir ‚Krieg'?", ein „Indiz für sicherheitspolitische Umwälzungen" (S. 51), auf die die westlichen Militärdoktrinen uneinheitlich antworten (J. L. S. Barbin). Drei Beiträge untersuchen, wie das Militär und seine Einsätze in Film und Fernsehen (G. Kümmel; K. Hoffmann; P. Fraund) dargestellt sowie in Umfragen (M. Steinbrecher und M. Wanner) und kirchlichen Äußerungen (A. Dörfler-Dierken) bewertet werden. Die Analyse von vier militärischen Fachzeitschriften (S. Neitzel), je zwei für die Truppe und aus ihr, enthülle eine „Spaltung der Bundeswehr", die den Autor an rivalisierende „‚tribal cultures'" (S. 345) denken lässt.
Das Forschungszentrum der Bundeswehr legt mit diesem Auftaktband einer neuen Reihe eine Bilanz vor, die auffordert, sich den beschriebenen Problemen zuzuwenden. Für die politischen Entscheider heißt das, militärischen Einsatzaufträgen klare Ziele zu formulieren und für die erforderlichen Mittel zu sorgen.
By Dieter Langewiesche
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