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Regionale Auxiliarvariation.

Werth, Alexander
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 252-255
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Regionale Auxiliarvariation  KATHRIN WEBER: Regionale Auxiliarvariation. Interaktion, Schrift, Kognition (Sprache und Wissen 46). Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2020, XIV + 383 S. ISBN: 978-3-11-070872-1.

Die Erforschung regionaler Syntax erfreut sich zurzeit einer großen Beliebtheit. Methodisch ist dies insbesondere auf die (Re-)Etablierung der indirekten Datenerhebung mittels Fragebogen zurückzuführen, etwa im Zusammenhang mit den Projekten 'Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz (SADS) ' und 'Syntax hessischer Dialekte (SyHD)'. Die Autorin des vorliegenden Buches widmet sich ebenfalls einem regionalsyntaktischen Phänomen, und zwar der Verwendung des sein-Auxiliars bei Perfektbildungen mit Verben wie anfangen, beginnen und aufhören im Westfälischen:

(1) a. Ich bin inzwischen mit Krafttraining angefangen.

b. Deshalb bin ich auch aufgehört.

Die Besonderheit der Arbeit von Weber ist darin zu sehen, dass sie das Phänomen mittels eines mixed-methods-Ansate aus qualitativen und quantitativen Analysen von spontansprachlichen und schriftlichen Sprachgebrauchsdaten unter Einbeziehung einer Eye-Tracking-Studie untersucht und damit in weiten Teilen methodisches Neuland in der regionalen Syntaxforschung betritt. Theoretisch ist die Arbeit in die Kognitive Konstruktionsgrammatik (CxG) eingebettet, das Phänomen wird von der Autorin als [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion bezeichnet.

Zum Aufbau des Buches: Die Arbeit beinhaltet insgesamt sieben Kapitel und einen Anhang. Der Grundlagenteil (Kapitel 1, 2 und 3) führt zunächst (Kapitel 1, S. 1-10) in die Zielseteungen und Fragestellungen der Studie ein. Hier wird auch auf das zentrale Forschungsdesiderat aufmerksam gemacht, demzufolge bislang "keine Studien zur diachronen oder synchronen Entwicklung, dem funktionalen Spektrum, dem Variationsverhältnis, der Medialitätsbindung oder der kognitiven Verarbeitung des Phänomens" (S. 2) existieren.

Es folgt Kapitel 2 (S. 11-55), in dem der Forschungsstand zur Auxiliarselektion unter diatopischen, diachronen, methodischen und theoretischen Gesichtspunkten ausführlich dargelegt wird. Unter Einbeziehung von Daten aus dem 'Atlas zur deutschen Alltagssprache' zeigt sich hier, dass das Phänomen vor allem auf den westniederdeutschen Sprachraum beschränkt ist, aber auch in nördlicheren Regionen des Niederdeutschen und am Niederrhein zu finden ist, während in allen anderen Regionen des deutschen Sprachraums für die Perfektbildung bei anfangen ausschließlich haben verwendet wird. Inwiefern die Konstruktion mit sein auf den dialektalen Sprachgebrauch und das Medium der Mündlichkeit beschränkt ist, ist darüber hinaus aber noch unklar und soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Die einschlägige Forschung lässt zudem vermuten, dass Telizität, Transitivität, Resultativität und Diathese einen Einfluss auf die Wahl der Auxiliarvariante haben können. In entsprechenden Teilkapiteln werden diese Kategorien beschrieben und im Hinblick auf die empirische Untersuchung als Variablen operationalisiert.

Der Grundlagenteil schließt mit Kapitel 3 (S. 56-98). Das Thema der Arbeit wird dort in gebrauchsbasierte Ansätee der CxG eingeordnet. Neben einer terminologischen Neuorientierung von dem in der generativen Forschung etablierten Terminus 'Auxiliarselektion' hin zu dem von der Autorin präferierten Terminus 'Auxiliarvariation' führt diese theoretische Ausrichtung auch dazu, dass die [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion als sprachliches Zeichen (als konventionalisiertes FormBedeutungspaar) aufgefasst wird, das "in einem taxonomisch organisierten Netewerk im Sprachsystem gespeichert" ist (S. 67). Die Auxiliare haben und sein werden damit auch nicht als eigenständige Sprachzeichen betrachtet, sondern als Teile von Konstruktionen, die im Folgenden "im Sinne eines ganzheitlichen Zeichens im Tempus-Aspekt-Interface zwischen Resultativ, Präsensperfekt und Perfekt untersucht" (S. 96) werden. Methodische Konsequenz dieser Ausrichtung ist zudem, dass die Autorin die [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion individuenzentriert als Interaktionsressource im mündlich-spontansprachlichen Gebrauch sowie als literale Praktik zur Sinnkonstitution in schriftsprachlichen Daten untersucht, um Aussagen über Bedeutung und Bedeutungsunterschiede der Konstruktion(en) treffen zu können. Der Frage, wie hoch das Entrenchment, d.h. die kognitive Verfestigung der Konstruktion, ist, widmet sich Weber entgegen des allgemein in der CxG postulierten from-corpus-to-cognition-Prinzips nicht anhand von Gebrauchsfrequenzen in Korpora, sondern mittels der in der Psycholinguistik etablierten Eye-Tracking-Methode.

Kapitel 4, 5 und 6 stellen den empirischen Teil der Arbeit dar. Die Untersuchungen zum Gebrauch der Konstruktion in Kapitel 4 (S. 99-190) basieren auf Daten aus den regionalsprachlichen Korpora 'Regionalsprache.de (REDE)', 'Sprache in Norddeutschland (SiN)' und 'Emslandkorpus' sowie aus eigens erhobenen Daten aus Interviews und Alltagsgesprächen emsländischer und westfälischer Sprecherinnen und Sprecher. Die Auswertungen zeigen, dass sein fast nur bei anfangen belegt ist (dort dann aber zu 68% gegenüber haben), während die Perfektbildungen der semantisch verwandten Verben aufhören, beenden, beginnen und starten auch im Westfälischen mit haben erfolgen. Dem Hilfsverb sein kommt hier also kein produktiver Status für die Perfektbildung mit semantisch ähnlichen Verben zu. Den Auswertungen zufolge wird sein bei anfangen sogar sprechlagenunspezifisch, d.h. sowohl im Dialekt als auch im Regiolekt und Gebrauchsstandard, präferiert gegenüber der haben-Variante verwendet. Funktionale Spezifika beider Perfektkonstruktionen wurden mittels Gesprächsanalyse gewonnen. Es zeigt sich, dass die Konstruktionen grundsätelich als temporale Ressourcen in rekonstruktiven Gattungen eingesetet werden, und zwar zur Anzeige a) rekonstruktiver Elaborierungs- handlungen und b) origobezogener narrativer Jobs. Funktionale Unterschiede zwischen der sein- und der haben-Variante ließen sich -- in Abhängigkeit vom Erwerbstyp (Niederdeutsch L1, bilingual Niederdeutsch-Hochdeutsch, monolingual Hochdeutsch) -- dergestalt ausmachen, dass die sein-Variante signifikant häufiger mit weniger prototypisch transitiven Argumentstrukturen konstruiert wird und zudem signifikant seltener in vergangenheitsbezogenen, rekonstruierenden Jobs auftritt als die haben-Variante. Hierbei ist besonders interessant, dass die funktionale Breite der sein-Variante bei bi- lingualen Sprecherinnen und Sprechern und bei Sprecherinnen und Sprechern mit niederdeutschem Fremdspracherwerb gegenüber solchen mit niederdeutschem Erstspracherwerb zunimmt.

Kapitel 5 (S. 191-242) widmet sich der Verwendung der Perfektauxiliare haben und sein mit Verben des Anfangens und Endens in der westfälischen Regionalzeitung 'Neue Westfälische'. Damit soll u.a. die mediale Bindung der Konstruktion untersucht werden. Es zeigt sich, dass dort mehrere Perfektpartizipien neben haben auch mit sein belegt sind, neben angefangen sind dies beendet, gestartet und geendet. Auch zeigt sich, dass die [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion in der regionalen Zeitungssprache sehr ähnliche Funktionen übernimmt wie in der gesprochenen Sprache, indem sie als "zeitreferenzielle Praktiken und als Performanzen zur Anzeige unterschiedlicher literaler Handlungen der Eventrekonstruktion und Zitation" (S. 208) dient. Die sein-Variante wird dabei signifikant häufiger zur Anzeige konzeptionell mündlicher Textteile wie für Zitationen verwendet, während die haben-Variante hauptsächlich in berichtenden Teilen verwendet wird.

Der empirische Teil der Arbeit schließt mit Kapitel 6 (S. 243-289), in dem die Ergebnisse einer Eye- Tracking-Studie zur [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion vorgestellt werden. Variation wird dabei als relativ variierende Lesezeit operationalisiert. Getestet wurden bilinguale Dialektsprecherinnen und -sprecher zweier Altersgruppen aus dem Westfälischen (Borken, Olpe) und dem Rheinfränkischen hinsichtlich der Verarbeitung der Auxiliarvariation bei angefangen, begonnen und aufgehört im Vergleich zu weiteren Perfektauxiliarkonstruktionen. Versuchspersonen aus Borken wurden ausgewählt, weil für Borken in den Sprachgebrauchsuntersuchungen ausschließlich die [_sein(aux)_an- gefangen(pp)_]-Konstruktion belegt ist, solche aus Olpe, weil dort ausschließlich haben verwendet wurde und solche aus dem Rheinfränkischen, weil diese ebenfalls ausschließlich haben gebrauchten, im Gegensate zu Olpe aber auch keine regionale Nähe zum sein-Areal aufweisen. Die Ergebnisse der Eye-Tracking-Studie weisen für die Konstruktion mit angefangen einen regionalen Effekt der Verarbeitungszeiten auf. Die Borkener Versuchspersonen zeigten demnach deutliche Verarbeitungsvorteile für die sein-Variante gegenüber den anderen Gruppen, was auf Ebene der Sprachverarbeitung die Befunde aus dem Sprachgebrauch bestätigt und für ein stärkeres Entrenchment der Konstruktion bei Borkener Leserinnen und Lesern spricht. Ein interessanter Nähe-Effekt konnte nun aber vor allem bei der Gruppe aus Olpe im Vergleich zu der aus dem weiter von Borken entfernten Rheinfränkischen festgestellt werden. Denn obwohl die Olpener im Sprachgebrauch bei angefangen ausschließlich haben gebrauchten, lassen sich für diese Gruppe doch signifikant geringere Lesezeiten für die sein-Variante feststellen als für Versuchspersonen aus dem Rheinfränkischen. Hinzu kommt bei den Borkenern ein Effekt in den Lesezeiten, der sich im Sprachgebrauch so nicht abgezeichnet hat, nämlich dass die Lesezeiten zugunsten von sein auch bei Verben reduziert sind, die im Sprachgebrauch ausschließlich haben zulassen (hier: aufgehört und begonnen). Die Autorin interpretiert diesen Befund so, dass die [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion hier einen "analogen Verarbeitungsvorteil" (S. 278) für das sein-Auxiliar bei aufgehört und begonnen aufweist. Die Arbeit schließt mit Kapitel 7 (S. 290-304), in dem ein Fazit gezogen und ein Ausblick auf mögliche Folgestudien gegeben wird.

Das Buch von Weber stellt zweifelsohne eine Arbeit mit empirischem und theoretischem Vorbildcharakter dar, in der detailliert die Gebrauchsbedingungen und die kognitive Verarbeitung eines kleinräumig variierenden syntaktischen Phänomens untersucht wird. Als besonders gewinnbringend zeigt sich dabei der gewählte mixed-methods-Ansa\z, etwa wenn es um Fragen zur Produktivität (im Sprachgebrauch reicht sein über angefangen nicht hinaus, doch zeigen sich in den Lesezeiten dahingehend interpretierbare Effekte für aufgehört und begonnen) und funktionalen Breite (ältere Sprecherinnen und Sprecher verwenden sein bei angefangen funktional enger als jüngere) des Phänomens geht.

Die besondere Informationsdichte der Arbeit macht es an dieser Stelle erforderlich, dass ich mich abschließend auf wenige weiterführende Anmerkungen zur Arbeit konzentriere: Alle Ergebnisse deuten sehr stark darauf hin, dass die [_sein(aux)_angefangen(pp)_]-Konstruktion bei Sprecherinnen und Sprechern des Westfälischen einem sehr hohen Entrenchment unterliegt. So berichtet die Autorin auch nur insgesamt von 17 Personen, die in ihrem Korpus eine intrapersonale Variation zwischen haben und sein bei angefangen aufweisen (S. 125). Interessant wäre es deshalb zu klären, ob sein hier überhaupt noch als Auxiliar konzeptualisiert und gebraucht wird. Die Alternation zu haben fehlt weitgehend, ebenso eine klar erkennbare funktionale Aufspaltung zwischen angefangen mit haben und sein. Aber wie sieht es z.B. mit der Wortdistanz zwischen Auxiliar und Partizip und den Serialisierungs- abfolgen zwischen beiden aus? Gibt es möglicherweise Hinweise im Korpus, die auf eine negative Korrelation zwischen der Stärke des Entrenchments und der Wortdistanz zwischen Hilfsverb und Partizip hindeuten? Ist die Abfolge zwischen Auxiliar und Partizip rigide oder optional? Und welche Rolle spielen morphologische Einflüsse? Ist das Hilfsverb im Singular z.B. stärker verfestigt als das Hilfsverb im Plural und was sagt uns das über die Strukturierung des Konstruktikons aus, wenn Flexionsmorphologie möglicherweise einen geringen Einfluss auf die Verfestigung der Konstruktion hat? Wie die Autorin selbst mehrfach in ihrer Arbeit betont, fehlen noch die diachronen Anschlussstudien zu Entstehung und Entwicklung von sein bei angefangen. Interessant ist aber, dass historisch deutlich mehr Verben (und Verbklassen) bei der Perfektbildung Auxiliarvariation zeigten[1]. So wird etwa bei Behaghel[2] von einer allgemeinen Hilfsverbpräferenz zugunsten von sein in süddeutschen Mundarten berichtet. Aus historisch-diachroner Perspektive zu fragen ist demnach, was es mit dieser allgemeinen sein-Tendenz für den Süden auf sich hat und wie sich das in dieser Arbeit untersuchte Phänomen dazu verhält. Lässt sich die Tendenz zu sein bei Verben des Anfangens im Westfälischen in ein verbklassenübergreifendes Szenario der Auxiliarvariation einbetten oder handelt es sich dabei um eine raumbezogene Sonderentwicklung, wie sie die Dialekte des Deutschen ja durchaus häufiger durchlaufen haben?

Schließlich bleibt der überaus interessante Befund herauszustellen, dass mittels Eye-Tracking (und psycho- und neurolinguistischen Methoden allgemein) Präferenzen zugunsten syntaktischer Konstruktionen ermittelt werden können, die sich in Sprachgebrauchsdaten überhaupt nicht abzeichnen. Für Dialektologie und Sprachwandelforschung ergibt sich dadurch die Möglichkeit, einen prospektiven Blick auf Sprache und Sprachvariation zu werfen. Es ist das Verdienst der vorliegenden Arbeit, diese Schnittstelle zwischen Sprachkognitions- und Sprachvariationsforschung vorangetrieben zu haben.

Footnotes [1] Vgl. z.B. Hermann Paul, Die Umschreibung des Perfektums im Deutschen mit haben und sein, München 1905. [2] Otto Behaghel, Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 2, Heidelberg 1924, S. 280.

By Alexander Werth, Passau

Titel:
Regionale Auxiliarvariation.
Autor/in / Beteiligte Person: Werth, Alexander
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 252-255
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • REGIONALE Auxiliarvariation: Interaktion, Schrift, Kognition (Book)
  • WEBER, Kathrin
  • CONSTRUCTION grammar
  • NONFICTION
  • Subjects: REGIONALE Auxiliarvariation: Interaktion, Schrift, Kognition (Book) WEBER, Kathrin CONSTRUCTION grammar NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 1749

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