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„Niederrheinische Orientbericht".

Wolf, Jürgen
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 255-257
Online review

„Niederrheinische Orientbericht"  ANJA MICKLIN: Der "Niederrheinische Orientbericht". Edition und sprachliche Untersuchung (Rheinisches Archiv 163), Köln: Böhlau 2021, 489 S. ISBN: 978-3-412-51965-0.

Reise- und Erfahrungsberichte aus dem Mittelalter werden von der modernen Forschung ambivalent wahrgenommen, d.h. sie werden verortet zwischen Bericht und Enzyklopädie sowie Erzählung und (Reise-)Roman. Ein Hauptproblem ist dabei mit Alterität zu umschreiben, und das gleich im mehrfachen Sinn: Alterität des Mittelalters, Alterität einer zeitgenössischen Realität und einer modernen Wahrnehmung, Alterität mittelalterlichen und neuzeitlichen Weltwissens, Alterität eines mittelalterlichen und eines modernen Textverständnisses. In der vorliegenden Bonner Dissertation -- zugleich Edition und Untersuchung -- sind diese Alteritäten insofern implizit präsent, als dass Material (Handschriften), die Sprache und der Inhalt zunächst philologisch sauber beschrieben und analysiert sowie der Text in seinen beiden Fassungen nach den Handschriften W261a und W3[1] synoptisch-diplomatisch dargeboten werden. Der Leser erhält damit einerseits Zugriff auf die mittelalterliche Situation selbst (Text und Kontext) und kann andererseits über das gesamte Instrumentarium moderner Forschung und Editionsarbeit verfügen.

Blicken wir nun hinein in eine Arbeit, die im besten Sinn als Grundlagenforschung klassifiziert werden kann: Der Forschungsteil eröffnet mit einer knappen, aber luziden Forschungsskizze und grundlegenden Anmerkungen zur (mittel-)ripuarischen Sprache, d.h. dem Schreibdialekt der beiden Handschriften des Orientberichts. Mit diesem zweiten Hinführungsteil wird auch schon klar, dass ein zentraler Fokus auf der Sprache liegen wird, was bei Claudia Wich-Reif als Betreuerin und Thomas Klein als Zweitgutachter der Dissertation nicht überrascht, zugleich aber für höchste Qualität in diesem Feld bürgt.

Im klassischen Stil wird zunächst die Überlieferung aufgearbeitet. Die beiden Kölner Handschriften im Archiv der Stadt, Best. 7010, W 261a und Best. 7020, W*3, werden im Modus einer Tiefenerschließung detailliert beschrieben (S. 21-449)[2]. Hauptaugenmerke liegen jeweils auf Schrift/Schreiber und Buch/Buchgestalt. Zunächst ausgeblendet erscheint die Sprache.

Der Sprache widmet Micklin unmittelbar darauf eine eigenständige, detaillierte Analyse (S. 45-204), die sich schnell als Herzstück des Untersuchungsteils erweist; und mehr noch: Das angewandte Verfahren einer "Schreibsystemanalyse der beiden Handschriften" (S. 45) erbringt weit über die beiden ripuarischen Handschriften hinausreichende Ergebnisse. Für einen größeren westmitteldeutschen Raum lassen sich die Erträge zur Graphieverwendung, zu den Graphieinventaren und zur spezifischen Lautverwendung als ergänzende Grundlagenforschung zur 'Mittelhochdeutschen Grammatik'[3] verstehen, was im permanenten Abgleich mit dem Korpus der 'Mittelhochdeutschen Grammatik', dem von Büthe-Scheider erstellten ripuarischen Textkorpus, dem Bonner WeinsbergProjekt und dem Bonner Projekt 'Historisches Rheinisches Wörterbuch' auch bewusst intendiert zu sein. Die Sprach- und Graphieuntersuchungen erfolgen nach den im Bonner Umfeld erprobten Mustern, sind materialbasiert, mit vielen Beispielen belegt und erweisen sich ebenso fundiert wie gut nutebar. Letetlich erhält man fast so etwas wie ein Basiswerk zum Ripuarischen des frühen 15. Jahrhunderts. Ein schneller, aber durchaus umfassender Blick auf Inhalt und Herkunft des Orientberichts (S. 205-232) beschließt den Forschungsteil bzw. führt bereits zur Edition hin. Geboten werden eine Skizze der Inhalte, Überlegungen zur Entstehungszeit, zum Verfasser, zur Reise, möglichen Vorlagen und Quellen sowie Stichproben zu den Fassungen bzw. zur Genese der Fassungen.

Zweites Kernstück der Arbeit ist die Edition der beiden Fassungen in synoptischer Anordnung (S. 233-413). Micklin entscheidet sich dabei -- mit guten Gründen -- gegen eine Leithandschriftenedition und für den synoptisch-diplomatischen, leicht normalisierten Abdruck beider Fassungen. Hinzu kommen zwei Apparate für handschriftliche Befunde (Apparat 1) und "knappe sprachliche und gelegentlich auch sachliche Erläuterungen, Hinweise zu umfänglichen und zu mutmaßlichen Textverderbnissen" (S. 236) (Apparat 2), wobei Apparat 2 wegen der ripuarischen Spracheigenheiten und dem heute nur noch begrenzt präsenten ripuarischen Wortschate oft etwas umfänglicher ausfällt, was von den Lesern erfreut zur Kenntnis genommen werden wird.

Blickt man in die Edition hinein, fällt auf, dass die Abweichungen zwischen den beiden Fassungen meistenteils zwar gering sind, doch der Vorteil der Synopse wird rasch deutlich: Markante Eigenheiten werden schnell sicht- und greifbar und müssen nicht in einen Apparat ausgeblendet bzw. ebenda mühsam gesucht werden. Bei nur zwei Handschriften und einer relativ geringen Textmenge zieht die gewählte Synopse auch keine quantitativen Probleme nach sich, d.h. die Seitenzahlen bleiben überschaubar. Die in den Editionsgrundsäteen (S. 233-236) erläuterten Normalisierungen erscheinen ebenfalls sinnvoll. Sie erleichtern das Lesen und den Zugriff, belassen aber die Identität der handschriftlichen Texte. Vor allem erhalten sie den Text in einem Status, der ihn für weitere sprachhistorische Untersuchungen nutebar macht.

Damit kommen wir en passant zu einer zentralen Frage für die Edition spätmittelalterlicher Texte: Brauchen sie eine begleitende neuhochdeutsche Überseteung? Micklin entscheidet sich gegen eine solche Option, was bei den bereits angesprochenen ripuarischen Spezifika größere Leser- und Nutzerschichten, die bei einem solch spannenden, kulturhistorisch wertvollen Text durchaus zu erwarten sind, auszuschließen droht. Micklin scheint sich dieser Gefahr bewusst und bietet 'überseteungskom- pensierend' einen umfangreichen Stellenkommentar (S. 414-462), der sich für den 'normalen' Leser nicht nur als Schlüssel zum Textverständnis, sondern als wahrer Wissensschate erweist. So erhält man Basisinformationen zu Indien, dem sagenumwobenen Priesterkönig Johannes, zu Papiergeld bei den Mongolen, zu den indischen Thomas-Christen, zur Bekehrung der Nestorianer, zu Einhörnern, Bananen, aber auch zu diversen historischen Persönlichkeiten, Orten, biblischen Hintergründen, allgemeinem enzyklopädischen Wissen der Zeit u.v.m. Liest man mittelalterlichen Text und Kommentar zusammen, ist der ripuarische Text nicht nur leicht(er) zu verstehen, sondern es eröffnet sich im Zusammenspiel von Primärtext und Sekundärtext ein Zugang zur Welt des Mittelalters insgesamt. Mir scheint dieses Verfahren letetlich sehr gut gelungen.

Bleibt als Fazit nur noch festeuhalten, dass mit der Arbeit von Micklin nun eine philologisch saubere Grundlagenarbeit zum 'Niederrheinischen Orientbericht' vorliegt, die einerseits den Text perfekt erschließt und andererseits alle Fragen drumherum beantwortet[4] -- im sprachhistorischen Teil sogar so umfassend, dass keine Wünsche offenbleiben. Dass eine umfangreiche Bibliographie (S. 466-489) den Band abrundet, erscheint vor diesem Hintergrund geradezu selbstverständlich. Dass der spannende Orientbericht nun mehr Leser und ein fächerübergreifendes Interesse erfahren wird, scheint ausgemacht. Die Vorausseteung dafür ist jedenfalls besser denn je.

Footnotes [1] Vgl. zum Orientbericht in dieser Handschrift auch die neue Edition: Von Christen, Juden und von Heiden. Der Niederrheinische Orientbericht, bearb., übers. und kommentiert von Helmut Brall-Tuchel unter Mitarbeit von Jana Katczynski, Verena Rheinberg, Sarafina Yamoah, Göttingen 2019 (nach Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7020 [W*] 3). [2] Nicht genutzt werden die sehr detaillierten Beschreibungen im Rahmen des sog. Handschriftenarchivs von Aloys Neukirchen (1911) 7 Bll. und Karl Menne (1937) 1 Bl. zu W261a sowie von Karl Menne (1936) 4 Bll. zu W*3; Nachweise und Links in https://handschriftencensus.de/5221 (W 261a) und https://handschriftencensus.de/5211 (W*3). [3] Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Weger, Mittelhochdeutsche Grammatik, Bd. 2.1-2.2: Flexionsmorphologie; Bd. 3: Wortbildung, Tübingen 2009-2018. [4] Dies trifft vor allem zu, wenn man neben der Arbeit von Micklin ergänzend auch die nahezu parallel erschienene Edition samt Untersuchung von Br all-Tuch el (wie Anm. 1) heranzieht.

By Jürgen Wolf, Marburg

Titel:
„Niederrheinische Orientbericht".
Autor/in / Beteiligte Person: Wolf, Jürgen
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 255-257
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • NIEDERRHEINISCHE Orientbericht: Edition und sprachliche Untersuchung (Book)
  • MICKLIN, Anja
  • HISTORICAL linguistics
  • GERMAN literature
  • NONFICTION
  • Subjects: NIEDERRHEINISCHE Orientbericht: Edition und sprachliche Untersuchung (Book) MICKLIN, Anja HISTORICAL linguistics GERMAN literature NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 1079

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