Reise- und Erfahrungsberichte aus dem Mittelalter werden von der modernen Forschung ambivalent wahrgenommen, d.h. sie werden verortet zwischen Bericht und Enzyklopädie sowie Erzählung und (Reise-)Roman. Ein Hauptproblem ist dabei mit Alterität zu umschreiben, und das gleich im mehrfachen Sinn: Alterität des Mittelalters, Alterität einer zeitgenössischen Realität und einer modernen Wahrnehmung, Alterität mittelalterlichen und neuzeitlichen Weltwissens, Alterität eines mittelalterlichen und eines modernen Textverständnisses. In der vorliegenden Bonner Dissertation -- zugleich Edition und Untersuchung -- sind diese Alteritäten insofern implizit präsent, als dass Material (Handschriften), die Sprache und der Inhalt zunächst philologisch sauber beschrieben und analysiert sowie der Text in seinen beiden Fassungen nach den Handschriften W261a und W3[
Blicken wir nun hinein in eine Arbeit, die im besten Sinn als Grundlagenforschung klassifiziert werden kann: Der Forschungsteil eröffnet mit einer knappen, aber luziden Forschungsskizze und grundlegenden Anmerkungen zur (mittel-)ripuarischen Sprache, d.h. dem Schreibdialekt der beiden Handschriften des Orientberichts. Mit diesem zweiten Hinführungsteil wird auch schon klar, dass ein zentraler Fokus auf der Sprache liegen wird, was bei Claudia Wich-Reif als Betreuerin und Thomas Klein als Zweitgutachter der Dissertation nicht überrascht, zugleich aber für höchste Qualität in diesem Feld bürgt.
Im klassischen Stil wird zunächst die Überlieferung aufgearbeitet. Die beiden Kölner Handschriften im Archiv der Stadt, Best. 7010, W 261a und Best. 7020, W*3, werden im Modus einer Tiefenerschließung detailliert beschrieben (S. 21-449)[
Der Sprache widmet Micklin unmittelbar darauf eine eigenständige, detaillierte Analyse (S. 45-204), die sich schnell als Herzstück des Untersuchungsteils erweist; und mehr noch: Das angewandte Verfahren einer "Schreibsystemanalyse der beiden Handschriften" (S. 45) erbringt weit über die beiden ripuarischen Handschriften hinausreichende Ergebnisse. Für einen größeren westmitteldeutschen Raum lassen sich die Erträge zur Graphieverwendung, zu den Graphieinventaren und zur spezifischen Lautverwendung als ergänzende Grundlagenforschung zur 'Mittelhochdeutschen Grammatik'[
Zweites Kernstück der Arbeit ist die Edition der beiden Fassungen in synoptischer Anordnung (S. 233-413). Micklin entscheidet sich dabei -- mit guten Gründen -- gegen eine Leithandschriftenedition und für den synoptisch-diplomatischen, leicht normalisierten Abdruck beider Fassungen. Hinzu kommen zwei Apparate für handschriftliche Befunde (Apparat 1) und "knappe sprachliche und gelegentlich auch sachliche Erläuterungen, Hinweise zu umfänglichen und zu mutmaßlichen Textverderbnissen" (S. 236) (Apparat 2), wobei Apparat 2 wegen der ripuarischen Spracheigenheiten und dem heute nur noch begrenzt präsenten ripuarischen Wortschate oft etwas umfänglicher ausfällt, was von den Lesern erfreut zur Kenntnis genommen werden wird.
Blickt man in die Edition hinein, fällt auf, dass die Abweichungen zwischen den beiden Fassungen meistenteils zwar gering sind, doch der Vorteil der Synopse wird rasch deutlich: Markante Eigenheiten werden schnell sicht- und greifbar und müssen nicht in einen Apparat ausgeblendet bzw. ebenda mühsam gesucht werden. Bei nur zwei Handschriften und einer relativ geringen Textmenge zieht die gewählte Synopse auch keine quantitativen Probleme nach sich, d.h. die Seitenzahlen bleiben überschaubar. Die in den Editionsgrundsäteen (S. 233-236) erläuterten Normalisierungen erscheinen ebenfalls sinnvoll. Sie erleichtern das Lesen und den Zugriff, belassen aber die Identität der handschriftlichen Texte. Vor allem erhalten sie den Text in einem Status, der ihn für weitere sprachhistorische Untersuchungen nutebar macht.
Damit kommen wir en passant zu einer zentralen Frage für die Edition spätmittelalterlicher Texte: Brauchen sie eine begleitende neuhochdeutsche Überseteung? Micklin entscheidet sich gegen eine solche Option, was bei den bereits angesprochenen ripuarischen Spezifika größere Leser- und Nutzerschichten, die bei einem solch spannenden, kulturhistorisch wertvollen Text durchaus zu erwarten sind, auszuschließen droht. Micklin scheint sich dieser Gefahr bewusst und bietet 'überseteungskom- pensierend' einen umfangreichen Stellenkommentar (S. 414-462), der sich für den 'normalen' Leser nicht nur als Schlüssel zum Textverständnis, sondern als wahrer Wissensschate erweist. So erhält man Basisinformationen zu Indien, dem sagenumwobenen Priesterkönig Johannes, zu Papiergeld bei den Mongolen, zu den indischen Thomas-Christen, zur Bekehrung der Nestorianer, zu Einhörnern, Bananen, aber auch zu diversen historischen Persönlichkeiten, Orten, biblischen Hintergründen, allgemeinem enzyklopädischen Wissen der Zeit u.v.m. Liest man mittelalterlichen Text und Kommentar zusammen, ist der ripuarische Text nicht nur leicht(er) zu verstehen, sondern es eröffnet sich im Zusammenspiel von Primärtext und Sekundärtext ein Zugang zur Welt des Mittelalters insgesamt. Mir scheint dieses Verfahren letetlich sehr gut gelungen.
Bleibt als Fazit nur noch festeuhalten, dass mit der Arbeit von Micklin nun eine philologisch saubere Grundlagenarbeit zum 'Niederrheinischen Orientbericht' vorliegt, die einerseits den Text perfekt erschließt und andererseits alle Fragen drumherum beantwortet[
By Jürgen Wolf, Marburg