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Vulnerabilität/Lavulnérabilité.

Hess, Hendrik
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 276-277
Online review

Vulnerabilität/Lavulnérabilité  CÉCILE LIGNEREUX, STÉPHANE MACÉ, STEFFEN PATZOLD, KLAUS RIDDER (Hg.): Vulnerabilität / La vulnérabilité. Diskurse und Vorstellungen vom Frühmittelalter bis ins 18. Jahrhundert / Discours et représentations du Moyen-Âge aux siècles classiques (Bedrohte Ordnungen 13), Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 476 S. ISBN: 978-3-16-157675-1.

Untersuchungen zu 'Bedrohten Ordnungen' könnten zurzeit kaum einen aktuelleren Anlass haben. Umso begrüßenswerter ist die historische Perspektive, die der zu besprechende Sammelband zur Vulnerabilität' eröffnet. Die enthaltenen knapp 30 Beiträge in deutscher und französischer Sprache gingen aus einer Doppeltagung in Tübingen und Grenoble 2015 hervor und fanden Eingang in die Reihe 'Bedrohte Ordnungen' des gleichnamigen Tübinger SFB. Der Band ist in drei Hauptabschnitte gegliedert, die meisten Aufsätee bleiben unter 15 Seiten.

In der Einleitung (S. 1-24) stellen Steffen Patz old und Klaus Rid der das Konzept des Bandes vor. Mit Vulnerabilität, also Verletelichkeit oder Verwundbarkeit, wird ein sozialwissenschaftlicher Begriff für historische Fragestellungen nutebar gemacht. Die Stärke des Bandes liegt in seinem interdisziplinären Zugang, der die Rhetorik, Geschichts-, Literatur- und Theaterwissenschaft verbindet. Die Beiträge befassen sich damit, "welche ordnungsgenerierenden Prozesse innerhalb einer gegebenen Gruppe oder Gesellschaft in besonderer Weise anfällig sind für diejenigen Reibungen, Störungen, Brechungen, die dazu führen, dass Routinen unsicher und Handlungserwartungen enttäuscht werden -- und sich hinreichend viele Akteure existenziell bedroht fühlen." Im Mittelpunkt stehen "sprachliche Muster" und deren "implizite oder explizite Regeln" (alles S. 2) -- ein Feld, das insbesondere durch die Beteiligung der Rhetorik erschlossen werden soll. Damit hat der Band zunächst das Ziel, in Bezug auf Vulnerabilität neue "Forschungsfelder zumindest grob vorzustrukturieren" (S. 10).

Der Aufbau des Sammelbandes, die Fülle und schlaglichtartige Kürze der Fallbeispiele kommen dieser Intention auf jeden Fall zupass. Die erste Sektion erschließt die Kategorien Vulnerabilität' und ihren Gegenpart 'Resilienz' -- in erster Linie im Zusammenhang mit Naturkatastrophen und im Hinblick auf ökonomische Aspekte -- zunächst konzeptionell (Peter Rü ckert, S. 27-43 bzw. Lukas Clemens, S. 79-90). Bezüglich der früh- und hochmittelalterlichen Wahrnehmung von Verletelich- keit in der Historiographie stehen vor allem Einzelereignisse im Mittelpunkt, die allerdings von den Schreibern zumeist nicht in ihrer gesamtgesellschaftlichen Auswirkung perzipiert werden (Hans-Werner Goetz, S. 45-78). Ein ganzheitlicheres Bild auf sozialer Ebene liefern hingegen Beispiele aus der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters (Klaus Rid der, S. 90-100), auch wenn bis in die Frühe Neuzeit hinein die Verletelichkeit keine aktive Vokabel war, sondern eher im rhetorischen Bereich von 'Furcht' zu verorten ist (Francis Goyet, S. 101-112). Am Beispiel der durch Aufstände geprägten Herrschaft Ludwigs des Frommen wird zudem gezeigt, dass mit Hilfe des Zugriffs über den modernen Begriff der Vulnerabilität' etwa Bezüge offengelegt werden können, die die Zeitgenossen so nicht hatten wahrnehmen können (Steffen Patzold, Elena Ziegler, S. 113-127). Dies führt auch der vergleichende Blick auf die politischen Strukturen in Frankreich (resilienter) und dem Reich (vulnerabler) im 11. Jahrhundert vor Augen (Thomas Kohl, S. 129-146).

Der zweite Abschnitt konzentriert sich dann vollständig auf rhetorische Kommunikation im frühneuzeitlichen Frankreich. Unter der Überschrift 'Menschliche Verletelichkeit und religiöse Transzendenz' werden Psalmparaphrasen (Véronique Fer r er, S. 151-161; Claire Fourquet-Gracieux, S. 163-175) und Predigten (Loïc Nicolas, S.177-188) zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert untersucht. Die Beiträge des nächsten Unterabschnitts zu 'Bitte und Gnade' zeigen anhand von Untersuchungen zu La Fontaine (Alain G é n e t i o t ' S. 189-204, der Beitrag steht fälschlich unter der vorherigen Untersektion), zu Bittbriefen (Pauline Dorio, S. 207-219; Claudie Martin-Ulrich, S. 235-245; Cécile Lignereux, S. 271-282) und -gedichten (Déborah Knop, S. 221-234) sowie zu Bitten gegenüber Gott bzw. dem Herrscher (Christiane Deloince-Louette, S. 247-258; Corinne N o i r o t, S. 259-270), dass rhetorische Dispositive in der Frühen Neuzeit oftmals auf althergebrachten Traditionen beruhten. Das Unterkapitel zu 'Klage und Tröstung' beschließt den Mittelteil des Sammelbandes. Die Fallstudien widmen sich ritterlichen Klagemonologen (Corinne Denoyelle, S. 285-297) sowie Dichtung und Elegien des 18. Jahrhunderts (Véronique Adam, S. 299-311; Nicholas Dion, S. 313-324).

In der leteten Sektion zu 'Bewältigungspraktiken' von Verletelichkeit stehen einerseits aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Darstellung des Körpers und des Leidens im Artusroman (Manuel B r a u n ' S. 327-353), die Tätigkeit des Schreibens selbst als Bewältigungspraxis (Frank G r e i n e r, S. 355-363), Verwundbarkeit als anthropologische Grunderfahrung in der Literatur (JeanPierre van El s lande, S. 365-376) und die Vulnerabilität in Rousseaus 'Émile' (Christophe Cave, S. 377-387) im Mittelpunkt. Andererseits geht es auf die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bühnen, wenn Passionsspiele (Carlotta P o s t h, S. 389-414), das Moralitätentheater (Estelle D o u d e t, S. 413-427), das Molièrsche Theater (Laura Naudeix, S. 429-440) und die Adaption von Theaterstücken in der Oper (Jean-Philipp Grosperrin, S. 441-453) analysiert werden.

Insgesamt liefert der vielschichtige Sammelband ein breites Panorama zur Vulnerabilität (und ihrem Gegenbegriff 'Resilienz') mit einem leichten Übergewicht in Bezug auf das frühneuzeitliche Frankreich und zeigt, dass der Begriff sowohl für historisch arbeitende Disziplinen anschlussfähig ist als auch einen heuristischen Mehrwert in der interdisziplinären Zusammenarbeit erbringt. Die Beiträge haben gemein, dass sie immer wieder in produktiver Weise die Dialektik von individueller und persönlicher Verletelich- keit im Verhältnis zur Wahrnehmung von Vulnerabilität auf gesellschaftlicher Ebene aufgreifen. Auch hinsichtlich der zentralen Frage, inwiefern und auf welche Weise die diskursive Zuschreibung von Vul- nerabilität oder Resilienz die Konstituierung, Perpetuierung oder Nivellierung von Geschlechteridentitäten, -ordnungen und -grenzen prägt, deuten viele Fallstudien das Potential des Konzeptes mehr als an. Mit dem starken Schwerpunkt auf der Rhetorik ist außerdem dafür gesorgt, dass der Aspekt des Sprechens oder Schreibens über Verletelichkeit als Moment der Resilienz in den Fokus rückt. Es könnte sich in Zukunft zudem lohnen, die konzeptuellen und methodischen Parallelen zum Forschungsfeld der 'Krise' und mit ihr verbundener Narrative[1] stärker als in diesem Band geschehen in den Blick zu nehmen.

Footnote [1] Vgl. hier nur stellvertretend Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenk (Hg.), Krisengeschichten(n). "Krise" als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte -- Beihefte 210), Stuttgart 2013.

By Hendrik Hess, Bonn

Titel:
Vulnerabilität/Lavulnérabilité.
Autor/in / Beteiligte Person: Hess, Hendrik
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 276-277
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • VULNERABILITAT/LAVULNERABILITLE: Diskurse und Vorstellungen vom Fruhmittelalter bis ins 18. Jahrhundert / Discours et representations du Moyen-Age aux siecles classiques (Book)
  • LIGNEREUX, Cecile
  • MACE, Stephane
  • PATZOLD, Steffen
  • RIDDER, Klaus
  • MIDDLE Ages
  • NONFICTION
  • Subjects: VULNERABILITAT/LAVULNERABILITLE: Diskurse und Vorstellungen vom Fruhmittelalter bis ins 18. Jahrhundert / Discours et representations du Moyen-Age aux siecles classiques (Book) LIGNEREUX, Cecile MACE, Stephane PATZOLD, Steffen RIDDER, Klaus MIDDLE Ages NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 971

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