Kurt Andermann und Enno Bünz, die Organisatoren der Herbsttagung 2015 des Konstanzer Arbeitskreises, verteidigen sich in der Einleitung zum vorliegenden Sammelband gegen den Vorwurf, man befinde sich mit dem Tagungsthema auf einem "Retrotrip" (S. 11). Tatsächlich scheint die Bedeutung der Kirchenvogtei für den Aufbau von Herrschaften im deutschen Reich kaum strittig zu sein. Für die nördlichen Rheinlande hat Hermann Aubin diesen Sachverhalt in seiner Studie 'Die Entstehung der Landeshoheit nach niederrheinischen Quellen. Studien über Grafschaft, Immunität und Vogtei' von 1920 vor allem anhand von spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Weistümern detailliert dargestellt. Im vorigen Jahrhundert wurde das Thema häufig in Veröffentlichungen zu einzelnen Territorien und geistlichen Institutionen abgearbeitet. Es sind allerdings kaum noch allgemeinere Forschungen unternommen worden. Hier wäre die Bonner Dissertation von Martin Clauss über die Untervogtei von 2002 zu erwähnen. Die Reichenau-Tagung sollte das Thema Kirchenvogtei und Herrschaft noch einmal grundsätelicher in europäischen Dimensionen angehen. Regionale Tagungen in Luxemburg 1982 ('L'avouerie en Lotharingie') und Namur 2016 ('Nouveaux regards sur l'avoue- rie', bezogen auf den Raum zwischen Loire und Rhein) waren vorausgegangen.
Vier Fragen haben die Organisatoren zur Berücksichtigung vorgegeben (vgl. S. 424f.): 1. Welche Bedeutung hatte die Vogtei für adlige Herrschaftsbildung? 2. Gab es hinsichtlich der Kirchenvogtei einen "deutsche(n) Sonderweg"? 3. Lässt sich eine Typologie von Herrschaftsträgern (eher Herrschaftskonfigurationen) erstellen, mit der sich die relative Bedeutung der Vogtei für die Herrschaftsbildung bestimmen lässt? 4.Wie gingen die bevogteten Institutionen mit der Vogtei um?
Den Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der Kirchenvogtei im Hochmittelalter liefert der magistrale Überblick über die Geschichte der Vogtei seit der Spätantike von Dietmar Willoweit ('Römische, fränkische und kirchenrechtliche Grundlagen und Regelungen der Vogtei', S. 21-52). Die spätantiken advocati -- rhetorisch geschult, aber keine Volljuristen -- fungierten fallweise als Rechtsvertreter für Kirchen. Seit der späten Karolingerzeit übernahmen adlige Herren diese Funktion dauerhaft für bestimmte Kirchen. Sie übten auch den Kirchenschute aus, wo der König diese Aufgabe nicht wahrnehmen konnte oder wollte. Die in der ottonisch-salischen Epoche an geistliche Institutionen übertragenen Hochgerichtsrechte wurden ebenfalls von den Vögten wahrgenommen. Willoweit verortet die Neubestimmung der Vogtei im Rechtsdenken des 12. Jahrhunderts in der Vorstellung von geteiltem Eigentum (S. 50). Die Umstrukturierung der Adelsherrschaft im späten 11. Jahrhundert hatte aber schon vorher einen neuen Rahmen für die Ausgestaltung der Vogtei geschaffen[
Vier Beiträge des Tagungsbandes sind landesgeschichtliche Studien, die Material zur Beantwortung der oben aufgeführten Fragen 1 und 3 liefern können.
Martin Clauss ('Vogteibündelung, Untervogtei, Landesherrschaft. Adlige Herrschaft und Klos- tervogtei in den Rheinlanden', S. 169-196) knüpft methodisch und terminologisch sehr präzise an die Ergebnisse seiner Dissertation an. Kurt Andermann ('Aspekte der Kirchenvogtei und adliger Herrschaftsbildung im spätmittelalterlichen Südwestdeutschland', S. 197-223) weist der Vogtei, vor allem der Ortsvogtei, große Bedeutung für den Aufbau von Adelsherrschaften im behandelten Raum zu (S. 222). Roman Zehetmayer ('Vogtei und Herrschaftsaufbau des österreichischen und steirischen Adels im Hochmittelalter', S. 225-260) ziert sich da mehr (S. 259): "Insgesamt gesehen kam den Vogtei- rechten beim Aufbau einiger, aber wohl nicht allzu vieler, Adelsherrschaften eine nicht geringe Bedeutung zu." Gustav Pfeifer ('Landwerdung durch "Übervogtung". Überlegungen zu einem zentralen Deutungsmuster der Tiroler Landesgeschichte am Beispiel der Brixner Hochvogtei', S. 261-296) hebt auf die Bedeutung der Schirmvogtei seit dem 13. Jahrhundert ab, die die ältere Phase der Herrenvogtei ablöste.
Die asymmetrische Quellenlage zum Thema, die durch die Verfügung über die Schriftlichkeit auf der Seite der geistlichen Institute bedingt war, gab diesen Institutionen die nahezu ausschließliche Deutungshoheit über die Rolle der Vögte. Verhielten sich die Vögte "parasitär" (S. 424) oder handelten sie vielmehr im Konsens mit den bevogteten Gemeinschaften? Befunde zur Beantwortung von Frage 4 liefern Andrea Stieldorf ('Klöster und ihre Vögte zwischen Konflikt und Interessenausgleich im 11. und 12. Jahrhundert', S. 53-86) und Michel Margue ('Klostervogtei zwischen monas- tischem Diskurs und bilateraler Aushandlung am Beispiel des zentralen lothringischen Raums (10. bis Anfang 12. Jahrhundert)', S. 381-422). Stieldorf hebt neben dem Mittel der Urkundenfälschung zur Disziplinierung von Vögten (S. 69) die Einbeziehung der Öffentlichkeit in Konflikte hervor. Das Phänomen der Mobilisierung der Öffentlichkeit ist seit der Zeit der Gottesfrieden häufig zu beobachten. Dabei kamen auch 'geistliche Waffen', sprich Reliquien, gerne zum Einsate. Im 12. Jahrhundert wirkte der Trend zur Verrechtlichung der Lebensverhältnisse auf die Aushandlung von Vogteiver- hältnissen ein. Die Kirchen waren an der Reduzierung der Vogtei auf den Schute interessiert, für den als Gegengabe die Memoria des Vogtes gepflegt werden konnte.
Für Frage 2 nach einem möglichen 'deutschen Sonderweg' in der hochmittelalterlichen Entwicklung der Vogtei sind drei Beiträge einschlägig. Martin Wihoda ('Kirche und adlige Herrschaftsbildung in den böhmischen Ländern zur Zeit der Premysliden', S. 297-328) zeigt, dass es eine Herren- vogtei in Böhmen wohl kaum gegeben hat. Der Kirchenschute oblag dem Herzog/König.
Philippe D e p r e u x ^Unterschiedliche Ausprägungen der Kirchenvogtei in Frankreich. Ein regionaler Vergleich (9. -- 12. Jahrhundert)', S. 345-379) kann den Verhältnissen im Reich ähnelnde Vogtei- formen nur in Nordfrankreich nachweisen. Im Fall des Klosters Fleury in der 'domaine royale' lässt sich der Einsate von Vögten für Fernbesite beobachten. Im Süden Frankreichs blieb die spätantike Form der Vogtei lange erhalten. Fürstliche Schirmvogteien wurden seit dem 13. Jahrhundert von der königlichen 'garde' abgelöst.
Wenig aussagekräftig sind die Ausführungen von Giuseppe Albertoni ('Mit dem Evangelium und dem Schild. Anmerkungen zur Rolle der Vögte im hochmittelalterlichen Italien', S. 329-343), die sich auf die frühmittelalterlichen Verhältnisse konzentrieren. Für adlige Kirchenvogtei war in den von Städten dominierten nord- und mittelitalienischen Regionen des Hochmittelalters offenbar kein Plate.
Eigene Facetten des Themas behandeln zwei Spezialuntersuchungen. Karl Borchardt ('Vog- tei und Schute bei den geistlichen Ritterorden des 12. und 13. Jahrhunderts', S. 87-141) zeigt, dass die Niederlassungen der Ritterorden keine Vögte kannten, wohl aber weltlichen Schute in Anspruch nahmen. Eine gendergeschichtliche Miszelle hat Jonathan R. Lyons beigesteuert: 'Advocata, Ad- vocatrix, Advocatissa. Frauen als Vögtinnen im Hochmittelalter' (S. 143-168). Er stellt fest, dass die angeführten Begriffe keine Amtsinhaberinnen bezeichnen.
Stefan Te b r u c k hat die Beiträge des Bandes sorgfältig zusammengefasst (S. 423-440).
Der Band wartet nicht mit Überraschungen auf, er kann aber durchaus Anregungen zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema Vogtei und Herrschaft geben.
Selbstverständlich konnten nicht alle Aspekte des Themas berücksichtigt werden. Manche anderen ließen sich nennen. Hier nur drei Hinweise:
Eine Kirchenfahne war auch die Oriflamme von St. Denis, die die französischen Könige (als Grafen des Vexin Schuteherren des Klosters) seit 1124 sehr effektiv als Gemeinschaftszeichen des französischen Heeres einseteten[
- 2. Im Auge behalten sollte man die Bedeutung der Vogtei für den Aufbau geistlicher Herrschaften. Vor allem die Bischöfe konnten von Entvogtungen für den eigenen Herrschaftsaufbau profitieren. Ein Beispiel liefert das 'Erlöschen' der Kölner Hochstiftsvogtei durch den Tod Heinrichs III. von Sayn in der Silvesternacht 1246. Erzbischof Konrad von Hochstaden zog die Ausstattung der Vogtei für sein Erzstift ein[
7 ]. - 3. Noch kaum beachtet sind Vogteiverhältnisse in den werdenden Städten seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Die Kölner Schöffen übernahmen kollektiv die Vogtei des 1144 in der Stadt gegründeten Benediktinerinnenklosters St. Mauritius[
8 ].
Man sieht, das Thema Kirchenvogtei ist noch keineswegs erschöpft. Zu einem "Retrotrip" haben Andermann und Bünz also nicht eingeladen.
By Manfred Groten, Bonn