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Abwesenheit.

Tresp, Uwe
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 294-296
Online review

Abwesenheit  WERNER PARAVICINI: Ehrenvolle Abwesenheit. Studien zum adligen Reisen im späteren Mittelalter. Gesammelte Aufsätee, hg. von Jan Hirschbiegel, Harm von Seggern, Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 757+XI S.+ Bildtafeln, ISBN: 978-3-7995-1245-9.

Mobilität gehörte unverzichtbar zum Habitus des europäischen Adels im späten Mittelalter. Auf Reisen sammelten Edelleute Erfahrungen und Kontakte an internationalen Fürstenhöfen, als Kreuzfahrer oder Söldner zogen sie in Kriege und als Pilger besuchten sie Wallfahrtsorte. Von zentraler Bedeutung war hierbei der Ehrgewinn. Er ließ sich durch die Reise in ferne oder exotische Länder, bei ritterlichen Taten, in Gefahren und Abenteuern, durch Ehrengeschenke und Würdigungen an fremden Höfen oder beim feierlichen Empfang in den unterwegs besuchten Städten erzielen. Dokumentiert wurde er durch die Überlieferungen dieser Reisen in mündlichen oder schriftlichen Berichten, heraldischen Zeichenseteungen oder mitgebrachten Souvenirs. Somit hinterließen die spätmittelalterlichen Adelsreisen zahlreiche und vielfältige Quellen, deren Sammlung und Erforschung Werner Paravicini spätestens seit seinen Studien zu den Preußenreisen des europäischen Adels[1] mit großem Ertrag betrieben hat und dabei gewinnbringend mit seinen Forschungen zur spätmittelalterlichen europäischen Adels- und Hofkultur verbinden konnte. Sichtbar wird diese Leistung in einer Vielzahl von Monografien, Sammelbänden, Editionen und Hilfsmitteln zu einschlägigen Quellen. Hinzu kommen Aufsätee in großer Menge, die breit über Europa gestreut in verschiedenen Sprachen erschienen sind. Seit 2002 haben Schüler und Mitarbeiter Paravicinis viele dieser Texte in mehreren Sammelbänden neu herausgegeben, wobei jeweils auch eine Aktualisierung durch den Autor erfolgte[2].

In die Riege dieser Publikationen reiht sich nun auch der vorliegende Band zum adeligen Reisen im späteren Mittelalter ein -- als Festgabe zu Werner Paravicinis 75. Geburtstag. Darin vereint sind 15 Aufsätee (eine Einführung und 14 Fallstudien) aus den 1990er bis 2010er Jahren, die hier eine Neuauflage erfahren. Ein Text über die Reisen des Konrad von Scharnachtal (+1472), der 2003 auf Französisch erschienen ist, wurde nun vollständig ins Deutsche übersetet und dabei aktualisiert. Darüber hinaus ist er -- wie auch der Beitrag über die Reisen des böhmischen Adeligen Leo von Rozmital -- durch eine anhängende Edition von Quellentexten ergänzt worden. Die weiteren Aufsätee hat Paravicini mit umfangreichen Nachträgen versehen, die vor allem jüngere Literaturhinweise und eine Diskussion jüngerer Forschungsergebnisse enthalten.

In der programmatischen Einführung, die ursprünglich einem 2004 erschienenen Sammelband entstammt[3], werden die Veränderungen der Adelsreise vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert anhand sich wandelnder Motive und Ziele, von den mittelalterlichen Kriegs-, Pilger- oder Hoffahrten bis zu den touristisch anmutenden Bildungsreisen und Kavalierstouren der Frühen Neuzeit, nachgezeichnet. Mittels ausgewählter methodischer Fragestellungen kann Paravicini hier anschaulich den Erkenntniswert von Forschungen zur Adelsreise demonstrieren. Es folgen vier Aufsätee, die als erster Teil unter dem Titel 'Ziele' zusammengefasst worden sind. Während ein Text den schriftlichen Zeugnissen der adeligen Wallfahrt zum Fegefeuer des heiligen Patrick nachgeht, handeln die weiteren über die spätmittelalterlichen Adelsreisen in das Ordensland Preußen und berühren somit ein Hauptthema der Forschungen Paravicinis. Von besonderem Interesse ist dabei das Verhältnis der -- vermeintlich ehrbaren -- Heidenfahrt zum -- vermeintlich weniger ehrbaren -- Söldnertum. Paravicini kann jedoch anhand von biographischen Einzelbeispielen belegen, dass die Grenzen zwischen den Kriegsdiensten für Gottes Lohn oder gegen Sold fließend waren und für die Zeitgenossen kein Widerspruch zwischen Söldnern und Ehrenmännern bestand. Dies musste auch der Deutsche Orden anerkennen, weil spätestens ab dem frühen 15. Jahrhundert ein spürbarer Rückgang der Preußenreisen des europäischen Adels zu konstatieren war, der sich leteten Endes nur durch die Anwerbung von Söldnern kompensieren ließ. Die Ursache für diesen Wandel ist nicht allein in der Christianisierung der Litauer ab dem Ende des 14. Jahrhunderts zu suchen. Vielmehr geriet Preußen als traditionelles Ziel der Adelsreisen vor allem deshalb allmählich ins Abseits, weil den christlichen Glaubenskriegern gleichzeitig in der mittelbaren Bedrohung durch die Osmanen und der unmittelbaren Konfrontation mit den böhmischen Hussiten neue und gefährlichere Gegner erwuchsen.

In den folgenden zehn Aufsäteen, die unter dem zweiten Teil 'Figuren' zusammengefasst wurden, stehen einzelne Adelige und ihre Reisen im Mittelpunkt der Betrachtung. So unternahm beispielsweise der Berner Stadtadelige Konrad von Scharnachtal zwischen 1433 und 1459 fünf größere Reisen, die ihn u.a. ins Heilige Land, nach Frankreich, Italien, Schottland, England, Irland und in Deutschland über Wilsnack bis Frankfurt an der Oder führten. Ein anderer gut dokumentierter Reisender, der Breslauer Patriziersohn Nikolaus von Popplau, gelangte zwischen 1483 und 1486 nach verschiedenen Stationen in Süddeutschland über die Niederlande und England bis nach Portugal und wieder zurück über Kastilien, Aragon und Frankreich nach Deutschland und schließlich in seine schlesische Heimat. Seiner Reisebeschreibung nach war für ihn vor allem der Ehrgewinn ein zentrales Motiv, um somit seinen Aufstieg in den Ritterstand zu manifestieren. Und auch Könige gingen auf Reisen -- wie zum Beispiel Christian I. von Dänemark, der sich 1474 auf Pilgerfahrt nach Rom begab und bei seinen italienischen Gastgebern mit seinen Essgewohnheiten, stetigem Geldbedarf und mangelnden Lateinkenntnissen gemischte Eindrücke hinterließ.

Bei der Analyse der jeweiligen Fallbeispiele gelingt es Paravicini immer wieder, die von ihm in beachtlicher Fleißarbeit zusammengetragene Quellenüberlieferung -- zumeist handelt es sich um Reisedokumente, Aufenthaltsnachweise, Rechnungen, Reiseberichte der Adeligen selbst oder ihrer Begleiter -- zu einem stimmigen Bild zu komponieren, das zahlreiche Aspekte der spätmittelalterlichen Adelsreisen anklingen lässt. Viele der gesammelten Dokumente werden im Anhang der Aufsätee oder in den Nachträgen als Edition präsentiert und bieten somit weiterhin eine reiche Fundgrube für die Hof- und Adelsforschung. Ihre Zugänglichkeit wird zudem durch ein dem Band beigefügtes umfangreiches Quellenverzeichnis erleichtert. Eine Gesamtbibliografie zur Thematik mit vielen internationalen Titeln sowie ein Abbildungsteil mit qualitativ hochwertigen Bildtafeln runden schließlich diesen ergiebigen Band ab, der sich als beeindruckender Streifzug durch die langjährige Forschungsarbeit Werner Paravicinis präsentiert.

Footnote [1] Werner Paravicini, Die Preußenreisen des europäischen Adels, 2 Bde. (weitere Bde. in Vorbereitung) (Beihefte der Francia, 17,1-2), Sigmaringen 1989 und 1995. [2] Werner Paravicini, Menschen am Hof der Herzöge von Burgund. Gesammelte Aufsätze, hg. von Klaus Krüger, Holger Kruse, Andreas Ranft, Stuttgart 2002. -- Werner Paravicini, Edel- leute und Kaufleute im Norden Europas. Gesammelte Aufsätze, hg. von Jan Hirschbiegel, Andreas Ranft, Jörg Wettlauf er, Ostfildern 2007. -- Werner Paravicini, Noblesse. Studien zum adeligen Leben im spätmittelalterlichen Europa. Gesammelte Aufsätze, hg. von Ulf Christian Ewert, Andreas Ranft, Stephan Selzer, Ostfildern 2012. [3] Rainer Babel, Werner Paravicini (Hg.), Grand Tour. Adliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2004.

By Uwe Tresp, Potsdam

Titel:
Abwesenheit.
Autor/in / Beteiligte Person: Tresp, Uwe
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 294-296
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • EHRENVOLLE Abwesenheit: Studien zum adligen Reisen im spateren Mittelalter (Book)
  • PARAVICINI, Werner
  • HIRSCHBIEGEL, Jan
  • VON Seggern, Harm
  • TRAVEL literature
  • NONFICTION
  • Subjects: EHRENVOLLE Abwesenheit: Studien zum adligen Reisen im spateren Mittelalter (Book) PARAVICINI, Werner HIRSCHBIEGEL, Jan VON Seggern, Harm TRAVEL literature NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 1024

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