Das moderne Zeitalter sei eine 'Marktgesellschaft'. So jedenfalls lautet eine geläufige These, die den Ausgangspunkt der jüngst vorgelegten Studie von Johannes Bracht und Ulrich Pfister zur langjährigen Entwicklung der Landpacht zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert bildet. Die Wirtschaftsund Sozialhistoriker diskutieren, ob ein Zusammenhang zwischen der Gestalt der Pachtverhältnisse, der Entstehung moderner Märkte und der Agrarmodernisierung bestehe und inwiefern sie sich gegenseitig bedingen. Ihr Ergebnis lautet: "Parallel zur langfristigen Ausbreitung von Pachtverhältnissen erfuhr die Miete des zentralen Produktionsfaktors Land einen institutionellen Wandel, der sich mit den Schlagworten der Formalisierung und des Übergangs zur Marktgesellschaft charakterisieren lässt" (S. 288).
Beeindruckend ist das in den Blick genommene Quellenkorpus mit 200.000 Datensäteen. Insgesamt werteten Bracht und Pfister das Archivgut, vornehmlich Rechnungsbücher, von fünf Adelsgütern aus, nämlich Anholt, Assen, Benkhausen, Nordkirchen und Wewer. Der Untersuchungsraum erstreckt sich damit zwischen Niederrhein und mittlerer Weser.
Aufgrund des Analysezeitraums von ungefähr 300 Jahren lassen sich langfristige Entwicklungen und Veränderungstendenzen von Pachtbeziehungen sehr gut ergründen. Ein besonderes Augenmerk legen die Autoren in diesem Zusammenhang auf externe 'Schocks' beziehungsweise die strukturellen Vorausseteungen landwirtschaftlicher Produktion. Zu nennen ist beispielsweise das allmähliche Schwinden paternalistischer Wirtschaftsführung zugunsten rationaler Gesichtspunkte. Zudem werden die Auswirkungen technischer Innovationen sowie gesellschaftlicher und rechtlicher Wandlungsprozesse am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erwähnt. Hierzu zählen zum einen die Aufteilung der Gemeinheitsländereien und zum anderen die Individualisierung zuvor bestehender Flur- oder Gemeinschaftszwänge. Dadurch weitet sich die Perspektive auf die Pächter aus, nicht ausschließlich die Landbesiteer stehen im Fokus.
Ein auffallender Befund der zu besprechenden Studie stellt die Tatsache dar, dass sich die Nominalpachten im Verlauf der Frühen Neuzeit nur marginal veränderten. Dagegen können Bracht und Pfister überzeugend darstellen, dass die realen oder bereinigten Pachteahlungen sehr wohl großen Schwankungen unterworfen sein konnten. Somit wird ersichtlich, dass erst die Verquickung verschiedener Parameter Strukturen, Bedingungen und Ursachen des landwirtschaftlichen Wandels abzubilden vermag -- es handelte sich mitnichten um eine 'geradlinig' verlaufene Entwicklung.
Die Schwächen und Vorzüge der angewandten statistischen, sozial- und wirtschaftshistorischen Methoden und Vorgehensweisen wägen die Autoren ausführlich gegeneinander ab. Zahlreiche grafische Darstellungen veranschaulichen die Zahlen, Datenmengen und Formeln, die in Textform zunächst sperrig sowie wenig eingängig und leserfreundlich erscheinen. Dadurch entfalten Bracht und Pfister nachvollziehbar ihr eigenes theoretisches Vorgehen. In diesem Sinne stellt das vorliegende Buch ein gelungenes Beispiel dar, wie die eigene historische Forschung differenziert reflektiert werden kann. So äußern die Verfasser selbstkritisch offene Punkte ihrer Darstellung, die vor allem im Zusammenhang mit dem Quellenmaterial zu sehen sind. Formalisiertes Verwaltungsschriftgut zur Organisation der Pachteinnahmen ist größtenteils ein Produkt des gesteigerten Marktgeschehens, folglich vorher selten überliefert. Ferner stellt sich die Frage, inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse über das lokale Beispiel hinaus Gültigkeit beanspruchen können. Sicherlich ließe sich trefflich über einige Thesen streiten, aber hinsichtlich ihres analytisch stringenten Vorgehens bietet das Autorenduo Kritikern kaum angreifbare Flanken, da Einschränkungen und Einwände erkannt und in die Problemstellung aufgenommen wurden. Somit regen Bracht und Pfister geradezu dazu an, weitergehende Forschungsfragen zu formulieren. Die Autoren bieten mit ihrem profunden Werk eine befruchtende Diskussionsgrundlage, der sich vergleichende Untersuchungen oder aber kontrastierende kulturgeschichtliche Studien anschließen sollten.
Gerade hier besteht Forschungsbedarf: Es mangelt an mikrogeschichtlichen Arbeiten, die sich mit den lokalen Trägern agrarischer Entwicklungen befassen. Außerdem könnte ergründet werden, wie sich Pachtbeziehungen im Rahmen von Aushandlungsprozessen herstellen ließen und welche Einflüsse informelle, nicht messbare Aspekte besaßen. Kritisch muss zudem angemerkt werden, dass Studien zur staatlichen Domänenwirtschaft noch immer ein empfindliches Desiderat darstellen. Bracht und Pfister deuten diesen Themenkomplex zwar an, gehen aber im Rahmen ihrer Untersuchung nicht näher darauf ein.
So erweist sich die zu rezensierende Publikation als ein wichtiger Baustein, um die gewaltigen agrarischen Umwälzungsprozesse ab dem 19. Jahrhundert angemessen erklären zu können.
By Sebastian Schröder, Münster