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Die Berechnung der Glückseligkeit.

Klesmann, Bernd
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 320-322
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Die Berechnung der Glückseligkeit  LARS BEHRISCH: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime (Beihefte der Francia 78), Sigmaringen: Jan Thorbecke 2016, 573 S. ISBN: 978-3-7995-7469-3.

Die breit angelegte und doch quellennahe Bielefelder Habilitationsschrift (Carl-Erdmann-Preis des Historikerverbandes 2014) beschäftigt sich mit einem wichtigen Aspekt der Aufklärungszeit, nämlich dem Durchbruch der zahlenbasierten Statistik in Staat und Gesellschaft Westeuropas. Konkret wendet sich der Verfasser der Entwicklungsphase zwischen Siebenjährigem Krieg und Französischer Revolution zu und präsentiert umfangreiche Fallstudien zu den entsprechenden Vorgängen im Königreich Frankreich, dem Kurfürstentum Bayern/Pfalzbayern und der Grafschaft Lippe. So unterschiedlich die ausgewählten Territorien auch anmuten, so umfassend gelingt es dem Autor, Vergleichbarkeiten auf ganz verschiedenen Ebenen herauszuarbeiten.

Gefragt wird nach Konzeption und Umseteung statistischer Erhebungen sowie nach ihren Auswirkungen auf das Regierungshandeln. Im Mittelpunkt stehen die Agrarwirtschaft, der im 18. Jahrhundert bekanntlich besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, sowie die Demographie mit den Ursprüngen der modernen Volkszählung. Die Statistik, im heute geläufigen Sinn verstanden als "Gewinnung und arithmetische Verarbeitung quantitativer Daten zur Herstellung übergreifender Erkenntnisse" (S. 24), wuchs seit der Mitte des Jahrhunderts zunehmend über ihre hergebrachten Formen (Personen- und Güterverzeichnis zwecks Steuererhebung) hinaus und entwickelte den Anspruch, verändernd und gleichsam modellierend auf die gesamte in den Daten erkennbare Realität einzuwirken. Als Träger dieser Entwicklung identifiziert der Vf. die staatlichen Verwaltungsapparate und ihre Spiteen, darunter ausdrücklich auch "nicht zuletet die jeweiligen Herrscherpersönlichkeiten" (S. 65), sowie die aufkommende Kameralwissenschaft. Aus den kleinteiligen und chronologisch angelegten Fallstudien ergeben sich auf diese Weise immer wieder faszinierende Einblicke in die Institutionengeschichte des sog. Aufgeklärten Absolutismus, während die republikanisch verfassten Gemeinwesen Europas und Nordamerikas weitgehend ausgeblendet werden.

Aus der Fülle der gewonnenen Ergebnisse seien nur einige Wenige vorgestellt. Im historischen Vergleich schneidet die Grafschaft Lippe gewissermaßen am besten ab (S. 95-191). Nicht nur gelang es hier in relativ kurzer Zeit, brauchbare Daten zu sammeln und auszuwerten, sondern es entstand innerhalb der Verwaltungseliten ein intensiver Austausch über Zielseteungen und Optimierungsmöglichkeiten. Zwar galt es auch hier, den traditionellen Widerstand der Stände, v.a. des grundbe- siteenden Adels, gegen die landesherrliche Überwachung und Einmischung zu überwinden -- exemplarisch wird etwa der Fall des Herrn von Reden zu Wendlinghausen im Amt Brake geschildert, der wohl nicht zu Unrecht eine Reduzierung seiner "Exemtionen und Privilegien" befürchtete (S. 117). Doch gelang es dem gräflichen Verwaltungsapparat durch geschickte Moderation und Zulassung langfristig zielführender Diskussion immer neuer Entwürfe in Verwaltungskabinetten und Ständegremien, eine reale "Breitenwirkung des Zahlendiskurses" (S. 150) zu generieren.

Im deutlich größeren Flächenstaat Kurbayern, ab 1778 noch durch Kurpfalz und Jülich-Berg ergänzt, sah man sich mit entsprechend größeren Schwierigkeiten konfrontiert (S. 193-316). Die Untersuchung befasst sich in diesem Großkapitel mit der Volksbeschreibung des Ministers Dachsberg ab 1770/71 (der Vf. kann hier u.a. zeigen, dass die zeitgleiche Hungerkrise nicht Auslöser der Zählungen war), der zweiten Volksbeschreibung der Jahre 1794 bis 96 sowie dem beginnenden Modernisierungsschub der Ära Montgelas nach dem Tod des Kurfürsten Karl Theodor 1799. Standen seit dem Erbfall von 1778 auch strukturelle Rivalitäten innerhalb der Beamtenschaft (Mannheim vs. München) einem erfolgreichen Agieren mitunter im Wege, wirkte sich insbesondere das Desinteresse der Ver- waltungsspiteen an den erhobenen Daten eher ungünstig aus. Geringere Bevölkerungsdichte, tiefer gestaffelte Verwaltungshierarchien und allgemein geringere Rezeption kameralistischer Schriften (S. 195) werden als retardierende Faktoren identifiziert.

Als besonders vielfältig erwiesen sich die Hindernisse für eine flächendeckende Implementierung statistischer Verfahren in Frankreich (S. 317-485), wo speziell die Verhältnisse im Limousin (Wirkungsstätte Turgots als Intendant) sowie in Auvergne, Franche-Comté und Picardie erforscht werden. Eine im Vergleich zu den Territorien des Reiches "deutlich geringere administrative Durchdringung" (S. 385), wie sie sich beispielsweise im Fehlen eigentlicher Lokalbeamter zeige, die Bevorzugung relativer statt absoluter Quantifizierungen (Bezug zum Normaljahr in der Landwirtschaft) usw. konnten eine Erhebung etwa der Getreideernte auf nationaler Ebene oder die Erstellung eines flächendeckenden Katasters nicht erleichtern. Die vergleichsweise unsichere Datenbasis habe u.a. dazu beigetragen, die Regierung der königlichen Minister durch häufige Kurswechsel in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren, zumal die maßgeblich von den Physiokraten angestoßenen Debatten um die Liberalisierung des Getreidehandels u.a. den Druck auf die Entscheidungsträger erhöhten. Die verzögerte statistische Durchdringung des Wirtschaftslebens mag hier dem Reformstau der Jahre vor der Revolution von 1789 Vorschub geleistet haben (S. 485).

Als übergreifende Gemeinsamkeit der vergleichenden Regionalstudien stellt sich der langfristige Siegeszug der Statistik und ihrer politischen Nuteung ab etwa 1760/1770 dar, deren Verbindungslinien zu den Jahrhundertprozessen von Rationalisierung, Bürokratisierung und Staatsverdichtung im abschließenden Teil des Buches auf höchstem Niveau nachgezeichnet werden. So schlägt die vorliegende Studie den Bogen von der detaillierten Auswertung reicher Quellenbestände zur Einordnung des Erarbeiteten in die Entstehungsgeschichte der europäischen Moderne. Dem komplexen und heterogenen Stoff wird dabei im ruhigen Erzählfluss weitgehend seine Sprödigkeit genommen. Mehrere Karten, ein Anhang mit Quellenreproduktionen sowie ein Personen- und Ortsregister runden den Band ab.

By Bernd Klesmann, Kaiserslautern

Titel:
Die Berechnung der Glückseligkeit.
Autor/in / Beteiligte Person: Klesmann, Bernd
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 320-322
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • DIE Berechnung der Gluckseligkeit: Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im spaten Ancien Regime (Book)
  • BEHRISCH, Lars
  • ECONOMIC development
  • SOCIOECONOMICS
  • NONFICTION
  • Subjects: DIE Berechnung der Gluckseligkeit: Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im spaten Ancien Regime (Book) BEHRISCH, Lars ECONOMIC development SOCIOECONOMICS NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 787

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