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Zwischen Bekenntnis und Ideologie.

Hirschfeld, Michael
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 344-346
Online review

Zwischen Bekenntnis und Ideologie  THOMAS MARTIN SCHNEIDER, JOACHIM CONRAD, STEFAN FLESCH (Hg.): Zwischen Bekenntnis und Ideologie. 100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018, 366 S. ISBN: 978-3-374-05617-0.

Biografische Studien können Appetit auf Geschichte machen und konkrete Zugänge zur Vergangenheit vermitteln, weshalb sie zu Recht in den leteten Jahren auch in der professionellen Forschung wieder deutlich an Stellenwert gewonnen haben. Das zeigt einmal mehr der vorliegende Band mit 100 Biogrammen des rheinischen Protestantismus aus dem leteten Jahrhundert. Er bewegt sich damit nicht nur in der Konjunktur lebensgeschichtlicher Perspektiven, sondern ermöglicht durch ein straffes Konzept einen guten Einblick in das, was von den Herausgebern als Proprium des Protestantismus im Rheinland zwischen 1900 und 2000 verstanden wird. Sie begreifen nämlich als Dreh- und Angelpunkt dieses Säkulums das Verhalten des einzelnen Menschen in den Herausforderungen der nationalsozialistischen Diktatur, was damit begründet wird, dass die Jahre 1933 bis 1945 alle vorgestellten Personen, freilich in unterschiedlichen Lebensaltern, geprägt haben (vgl. S. 7). Diese Argumentation ist einerseits gewiss nicht von der Hand zu weisen, erscheint andererseits aber auch ein wenig zu apodiktisch. Gleichwohl markiert sie die ,Gretchenfrage' des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert, die sich auch in dem sinnträchtigen Titel ,Zwischen Bekenntnis und Ideologie' zeigt, womit verdeutlicht werden soll, dass sowohl Anhänger der Bekennenden Kirche als auch Verfechter der NS-nahen Deutschen Christen, allen voran der als gläubiger Nationalsozialist gekennzeichnete zeitweilige Bischof Heinrich Oberheid, Aufnahme in den Band gefunden haben.

Gegliedert ist das Sammelwerk, an dem nicht -- wie im Klappentext zu lesen ist -- nur „etwa", sondern exakt 40 Autorinnen und Autoren mitgearbeitet haben, nach insgesamt fünf zeitlichen Prägungsstufen, dem Kaiserreich, der Frontgeneration, der Kriegsjugend, der Nachkriegsgeneration (jeweils auf den Ersten Weltkrieg bezogen) und der im Nationalsozialismus sozialisierten Generation. Die Gründe für diese Strukturierung, die außer Acht lassen, dass einzelne Personen auch zwei verschiedene Prägungen haben könnten, werden leider weder in der Einleitung des Mitherausgebers Thomas Martin Schneider (vgl. S. 7-12) noch in dem Versuch einer Bilanz' (S. 343) der Historikerin Simone Ra ut he (vg. S. 343-351) thematisiert. Während Schneider sich eingangs auf einen informativen Überblick der Geschichte der rheinischen Landeskirche beschränkt, konstatiert Rauthe am Schluss -- im Hinblick auf die fünf Prägungsepochen etwas verwirrend -- nur „vier Zeiten, um das Deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur und das geteilte Deutschland" (S. 343). Als einziges Kriterium für die Personenauswahl wird von Schneider „das Bemühen […], den rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert zumindest exemplarisch in seiner ganzen Breite abzubilden" (S. 8), etwas sehr allgemein angegeben. Ein größeres Manko ist allerdings das Fehlen einer alphabetischen Übersicht über die vorgestellten Personen, die sich lediglich etwas mühevoll aus dem Personenindex (S. 353-361) rekonstruieren lassen, in welchem die entsprechenden Seitenzahlen in Fettdruck erscheinen. Dieses Desiderat ist auch deshalb zu beklagen, weil die einzelnen Namen zwar etwas versteckt in untergeordneten Inhaltsverzeichnissen zu den einzelnen Prägungsepochen aufgelistet sind, aber eben auch dort nicht alphabetisch, sondern aufsteigend nach Geburtsjahr. 29 Kurzbiogramme von Karl Viktor Klingemann (Jahrgang 1859) bis hin zu Magdalene von Waldthausen (Jahrgang 1886) sind der ,Prägung vom Kaiserreich' zugeordnet, 33 Menschen der ,Frontgeneration', und zwar von Ernst Flatow (Jahrgang 1886) bis hin zu Bundespräsident Gustav Heinemann (Jahrgang 1899). 24 Biogramme von Annemarie Rübens (Jahrgang 1900) bis zu Klaus Lohmann (1910) widmen sich der ,Kriegsgeneration' und nur je sieben der ,Nachkriegsgeneration' bzw. der ,Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus', womit die zeitliche Schwerpunkte der Auswahl bereits markiert sind.

Dieses , Who's who' der rheinischen Landeskirche enthält neben vielen Namen, die eher regional bzw. innerkirchlich von Belang sind, auch herausragende Persönlichkeiten, wie den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch (S. 331-333), die früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (S. 217-219) und Johannes Rau (S. 337-339) oder die Theologin Dorothee Sölle (S. 334-336), übrigens eine von nur 14 Frauen unter mehr als 80 Männern. Dadurch wird die Ausstrahlungskraft der Protestanten im Rheinland auf Kirche und Gesellschaft in ganz Deutschland signalisiert. Gleichzeitig sind damit aber auch überaus reiche und vielschichtige Biographien angerissen, die selbst in ihrer kirchlichen Dimension in der vorgegebenen Kürze nur rudimentär erfasst werden können. Das äußerst knappe Biogramm des Krupp-Managers Berthold Beite (vgl. S. 308-310) hingegen ist ein Beispiel dafür, dass ein prominenter Deutscher offensichtlich nur deshalb Aufnahme gefunden hat, weil er nominell der Evangelischen Kirche im Rheinland angehörte. Ohne Beite' Verdienste als Retter verfolgter Juden im Osten während des Zweiten Weltkriegs aus „christlicher Überzeugung" (S. 309) auch nur im Mindesten in Abrede stellen zu wollen, ist doch von einem konkreten kirchlichen Einsate in dem Biogramm keine Rede, ja es heißt sogar offen: „Ein leidenschaftlicher Kirchgänger war Berthold Beite nie, […]" (S. 309).

Die einzelnen Biogramme sind mit zwei bis drei Textseiten einerseits zu kurz gehalten, um mehr als grobe Konturen zu zeichnen, andererseits ermöglicht die geraffte Darstellung in kurzen Säteen eine ebenso nüchterne wie auch präzise Charakterisierung. Beispielsweise heißt es über Karl Viktor Klingemann, dass er „zu den profiliertesten rheinischen Pfarrerpersönlichkeiten zählte" (S. 16), während der spätere Präses der Rheinischen Kirche Joachim Beckmann gleich im ersten Sate als „einer der Begründer und führenden Vertreter der Bekennenden Kirche im Rheinland" (S. 232) eingeführt wird. Weiterführende Literatur beschränkt sich in der Regel auf einen oder zwei Titel, die von Lexikoneinträgen (wie z.B. bei Peter Beier) bis hin zu Monographien (wie z.B. bei Hans-Joachim Iwand, S. 216) eine ziemliche Bandbreite abbilden. Offenbar wurden Quellenbestände dann angegeben, wenn die Literaturlage nicht befriedigend war. Den Herausgebern, allesamt Spezialisten auf dem Gebiet der evangelischen rheinischen Kirchengeschichte, ist im Verbund mit ihren Autorinnen und Autoren eine Fülle prägnanter Kurzbiographien geglückt, die freilich durchgehend eine Vertiefung durch weitergehende Lektüre bzw. Quellensichtung erfordern. Deshalb schmälert es den Wert dieser Publikation kaum, wenn man sie als Appetitanreger für Forschende und zugleich als niedrigschwelliges Lesebuch für ein breites Publikum kennzeichnet. Das entspricht auch der Intention der Herausgeber, die von einem „kunterbunten Strauß"(S. 8) an Porträts sprechen, der an der Schnittstelle von Landes- und (evangelischer) Kirchengeschichte sicherlich zukünftig gern zur Hand genommen werden wird.

By Michael Hirschfeld, Vechta

Titel:
Zwischen Bekenntnis und Ideologie.
Autor/in / Beteiligte Person: Hirschfeld, Michael
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 344-346
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • ZWISCHEN Bekenntnis und Ideologie: 100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert (Book)
  • SCHNEIDER, Thomas Martin
  • CONRAD, Joachim
  • FLESCH, Stefan
  • CHURCH work
  • CHURCH history
  • NONFICTION
  • Subjects: ZWISCHEN Bekenntnis und Ideologie: 100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert (Book) SCHNEIDER, Thomas Martin CONRAD, Joachim FLESCH, Stefan CHURCH work CHURCH history NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 979

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