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Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte.

Bormann, Patrick
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 348-349
Online review

Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte  DANIEL FÜHRER: Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte. Tagebücher der Weimarer Republik (1913-1934) (Weimarer Schriftenreihe zur Republik 12), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 376 S. ISBN: 978-3-515-12583-3.

Geschichte wird meist aus einer Perspektive von oben erzählt und handelt von den politischen, kulturellen, wirtschaftlichen oder allgemein den gesellschaftlichen Eliten, noch dazu oftmals von der männlichen Hälfte derselben. Daniel Führer wählt in seiner Dissertation einen anderen Zugang: Er untersucht die Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte von sechs relativ durchschnittlichen Personen -- drei Frauen und drei Männern -- während der beiden Jahrzehnte zwischen 1913 und 1934. Als zentrale Quelle dienen ihm ihre Tagebücher, die über viele Jahre innerhalb dieses Zeitraums verfasst wurden. Führer bemüht sich bei der Auswahl der Tagebuchschreibenden über das Geschlecht hinaus um eine gewisse Bandbreite. Die Frauen und Männer stammen aus verschiedenen Teilen der Republik -- mit dem Maler Anton Keldenich lebte ein Protagonist sein ganzes Leben lang im Rheinland und Oskar Schlindwein zumindest eine Zeit lang -- und bilden sowohl städtische als auch ländliche Lebensrealitäten ab. Da das Tagebuchschreiben eine bürgerliche Tätigkeit war, handelt es sich allerdings um verschiedene Lebenshintergründe innerhalb der bürgerlichen Welt. Zudem sind alle Tagebuchschreibenden christlichen Glaubens, wenn auch nicht immer praktizierend. Die Sozialdemokratie und die jüdische Bevölkerung als spätere Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes erscheinen in den Tagebüchern daher lediglich als Fremdbilder.

Der Kernteil der Studie umfasst vier Kapitel. Den größten Umfang von etwa einem Drittel des Buches nimmt der einleitende biographische Abriss der sechs Tagebuchschreibenden ein, der sicher ein paar Kürzungen verdient hätte. In den folgenden drei Kapiteln Lebensverhältnisse', ,Intimität und Öffentlichkeit' sowie ,Überzeugungen' geht der Autor einer ganzen Reihe von Einzelaspekten nach, die in den verschiedenen Tagebüchern thematisiert wurden. Der Buchtitel ^Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte' umschreibt die Leitlinien, wobei Themen wie Freizeitgestaltung oder Wohngestaltung deutlich machen, dass der Alltag nicht nur aus Sorgen bestand. Nicht jedes Themenfeld kann mit überraschenden Erkenntnissen aufwarten und Führer versucht angenehmerweise auch gar nicht, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Dennoch findet sich eine Vielzahl von interessanten Einblicken, die zur Revision von Forschungsthesen anregen können. Dazu gehört zum Beispiel ein weitgehendes Desinteresse der Tagebuchschreibenden gegenüber sportlichen Ereignissen, das im Gegensate zur vorherrschenden Forschungsmeinung steht, wonach der Sport in der Weimarer Republik seinen Durchbruch zum Massenereignis schaffte. In Frage gestellt wird auch der kulturelle Kanon, den wir heute mit der Weimarer Republik verbinden: Die berühmten Filmklassiker wie ,Das Cabinet des Dr. Caligari' oder ,Metropolis' spielen in den Tagebüchern ebenso wenig eine Rolle wie die avantgardistische Kunst der Zeit, obwohl einige Tagebuchschreibende regelmäßig das Kino oder Kunstmuseen besuchten. Führer mahnt hier zu Recht an, dass unser Blick auf die Weimarer Kultur zu stark durch unseren Fokus auf die Stadt Berlin geprägt ist.

Besonders eindrücklich sind die Schilderungen der Geschlechterverhältnisse und der Gewalterfahrungen, die für die Frauen von ganz alltäglicher Bedeutung waren. Alle drei Tagebuchschreiberinnen waren in Beziehungen mit cholerischen Ehemännern, die Gewalt gegen ihre Ehefrauen ausübten. Immer wieder hielten die Frauen in ihren Tagebüchern Vergewaltigungen vor oder während der Ehe fest. Oskar Schlindwein, der als Junggeselle zahlreiche Beziehungen mit deutlich jüngeren Frauen unterhielt, berichtete in seinen Tagebüchern sogar von sadistischen sexuellen Übergriffen seinerseits. Die gewaltvollen Geschlechtshierarchien wurden dabei von beiden Geschlechtern mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit akzeptiert. Die Tagebuchschreiberinnen, die immer wieder Angst vor ihren Liebhabern und Ehemännern empfanden, fühlten zugleich eine tiefe Scham über das Erlebte, die das Sprechen über die Gewalt unmöglich machte und damit zugleich die Frauen mit ihren Gewalterfahrungen allein ließ. Gewalt war, dies arbeitet Führer auch in anderen Kontexten heraus, ein wesentlicher Faktor in der Aufrechterhaltung der hierarchischen Ordnung, die -- nicht nur durch Frauen -- zunehmend in Frage gestellt wurde.

Führer destilliert aus den Tagebüchern so viele interessante Beobachtungen heraus, dass die weniger ergiebige Analyse der Idee der Volksgemeinschaft, die dem Autor als eine Art Leitfaden dient, zu verkraften ist. Er konstatiert zwar bei den Tagebuchschreibenden ein Bedürfnis nach einer Volksgemeinschaft, aber sowohl die Selbstbeschränkung auf die jeweiligen Milieus als auch die Unzufriedenheit mit dem Parteiwesen verhinderten dessen Verwirklichung und erleichterten es Adolf Hitler, das Mangelempfinden anzusprechen und auszunuteen. Die Untersuchung dieser These beruht an dieser Stelle zu stark auf den Niederschriften von Luise Solmite, einer Antisemitin, die schon seit 1930 die NSDAP wählte und wohl die am weitesten rechtsstehende der in dem Buch vorgestellten Tagebuchschreibenden war. Das mit sechs Personen ohnehin kaum repräsentative Sample gerät hier an seine Grenzen. Interessant ist allerdings im Kontext der politischen Aussagen der Tagebücher erneut ein scheinbares Detail: So genoss Friedrich Ebert bei den bürgerlichen Schreibenden offenkundig ein hohes Ansehen, was in einem auch zeitgenössisch benannten Gegensate zu den bürgerlichen Angriffen auf den ersten Reichspräsidenten steht.

In der Summe ist Führer eine lesenswerte Dissertation gelungen, die in vielen Belangen bestehende Forschungsansichten untermauert, aber zugleich mit zahlreichen Details Anregungen zu neuen Fragestellungen gibt. Wer sich mit dem Alltag der Menschen in der Weimarer Republik beschäftigt oder sich für die politischen Ansichten jenseits der gesellschaftlichen und politischen Elite interessiert, liest das Buch mit Gewinn.

By Patrick Bormann, Bonn

Titel:
Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte.
Autor/in / Beteiligte Person: Bormann, Patrick
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 348-349
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • ALLTAGSSORGEN und Gemeinschaftssehnsuchte: Tagebucher der Weimarer Republik 1913-1934 (Book)
  • FUHRER, Daniel
  • DISCOURSE analysis
  • NATIONAL socialism
  • NONFICTION
  • Subjects: ALLTAGSSORGEN und Gemeinschaftssehnsuchte: Tagebucher der Weimarer Republik 1913-1934 (Book) FUHRER, Daniel DISCOURSE analysis NATIONAL socialism NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 815

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