Der französische Ministerpräsident Clemenceau beanspruchte bei den Friedensverhandlungen in Versailles die Annexion des Saarlandes als Wiedergutmachung für die erlittenen Kriegsschäden, konnte sich aber mit seinen Forderungen nicht durchseteen, denn der amerikanische Präsident Wilson bestand auf dem Selbstbestimmungsrecht der Saarländer. Als Zwischenlösung wurde ein neu zu schaffendes Saargebiet für 15 Jahre einer internationalen Regierungskommission des Völkerbundes unterstellt. Nach Ablauf dieser Frist sollten die Saarländer abstimmen, ob sie den Status quo beibehalten, eine Angliederung an Frankreich oder eine Rückgliederung in das Deutsche Reich wünschten. Als Kompensation erhielt Frankreich die staatlichen Saargruben und wurde so Arbeitgeber von rund 70.000 Bergleuten. Das am 1. Januar 1920 in Kraft getretene Saarstatut verfügte die Zusammenlegung der preußischen Kreise Saarbrücken, Saarlouis und Ottweiler, Teile der Kreise Merzig und St. Wendel mit den ehemaligen bayerischen Bezirken Homburg und Zweibrücken. Letetlich wurde mit den internationalen Friedensverhandlungen das moderne Saarland als eigenständige Gebietskörperschaft geschaffen. Dabei lagen der Grenzziehung rein ökonomische Argumente zu Grunde: Das Gebiet umfasste nicht nur die Montanindustrie und die Hüttenwerke, sondern auch die Wohngebiete der einpendelnden Arbeiter.
Die Regierung übernahm eine Kommission, die sich aus je einem Franzosen, einem Saarländer und drei Abgeordneten anderer Länder zusammensetete. Der erste von Clemenceau ausgewählte Präsident, Staatsrat Victor Rault, war der deutschen Sprache nicht mächtig und setete vehement französische Belange durch. Die Menschen an der Saar fühlten sich regelrecht bestraft, und es kam zu heftigen Auseinanderseteungen mit den französischen Besateern. Hierüber liegen seit Langem Forschungen vor. Mit ihrer Ausstellung zum hundertjährigen Gründungsjubiläum des Saarlandes im Historischen Museum Saar und dem vorliegenden Katalogband beschreiten Simon Mateerath und Jessica Siebeneich aber weitgehend neue Wege. Sie fragen danach, ob die 20er Jahre nicht auch eine Zeit des Aufbruchs in die Moderne waren. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem täglichen Leben. In 26 Artikeln werden politische Akteure, die Kulturpolitik, das für die Freizeitgestaltung enorm wichtige Vereinswesen und die neue Mobilität thematisiert. Im Saargebiet fuhren 1930 überproportional viele Autos, das Straßenbahnnete wuchs rasch und verband auch einzelne Städte miteinander; 1928 landete die erste Passagiermaschine. Saarbrücken entwickelte sich zur Handelsmetropole des Südwestens mit prächtigen Kaufhäusern, einem guten Kinoangebot, einem Theater, zahlreichen Restaurants und Hotels, die zum Freizeitvergnügen einluden. Für die jüdische Bevölkerung bedeuteten die 15 Jahre unter dem Völkerbund eine Blütezeit. Die Arbeitswelten der Frauen veränderten sich. Sie verdingten sich weniger als Dienstmädchen, sondern fanden vermehrt neue Chancen als Angestellte und Fabrikarbeiterinnen. Der Aufbruch in die Moderne spiegelte sich auch in der Modewelt, der Musik, der Photographie sowie der Architektur und nicht zuletet im medizinischen Fortschritt. Alle diese Aspekte werden mit üppigem Bildmaterial und Ausstellungsstücken dokumentiert, viele Fotografien und Gegenstände sieht man zum ersten Mal.
Und doch werden auch die Schattenseiten und Misserfolge nicht verschwiegen. Viele Saarbrücker lebten im Elend, 75% der meist vielköpfigen Familien in Wohnungen mit weniger als vier Zimmern, lediglich 20% der Wohnungen hatten ein Bad, die Mehrzahl keine Heizung, allein der Herd in der Küche brachte Wärme. Jedoch entwickelten sich Siedlungsgesellschaften und Baugenossenschaften zu den nachhaltig erfolgreich wirkenden Instrumenten, die soziale Frage im Bereich des Wohnens zu lösen. Sie bauten in den 20er Jahren ganze Straßenzüge aus. Ferner bildeten die französischen Domanialschulen in Grubennähe einen ständigen Streitpunkt. Auf dem Höhepunkt besuchten rund 5.000 Kinder bei einer Gesamtschülerzahl von 110.000-125.000 diese Schulen. Nur französische Kinder wurden in eigenen Klassen in ihrer Muttersprache unterrichtet, alle anderen hatten sechs bis acht Wochenstunden Französisch, und sie wurden in wesentlich kleineren Klassen als in den deutschen Schulen unterrichtet. Dennoch wurde das bilinguale Angebot in der saarländischen Presse in Bausch und Bogen verdammt. Man sah sich im Ausnahmezustand: getrennt von der ,deutschen Mutter', gedemütigt vom unverdienten Kriegsgewinner. Auch die elitären französischen Kulturangebote wurden kaum angenommen, denn sie hoben stets die ,Grande Nation' und die Errungenschaften der französischen Zivilisation hervor. Alles in allem bietet der sehr anschauliche Band vor allem städtische Elitenkultur, das platte Land und die Arbeiterschicksale bleiben hingegen weitgehend ausgeblendet und damit 80% der Bevölkerung.
By Gabriele B. Clemens, Saarbrücken