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Belastete Demokraten.

Wiczlinski, Verena von
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 363-365
Online review

Belastete Demokraten  SABINE SCHNEIDER: Belastete Demokraten. Hessische Landtagsabgeordnete der Nachkriegszeit zwischen Nationalsozialismus und Liberalisierung (Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 47), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2019, 560 S. ISBN: 978-3-923150-74-8.

Sabine Schneider hat mit ihrer von der Universität Marburg im Jahr 2017 als Dissertation angenommenen Arbeit eine Studie zur nationalsozialistischen Belastung hessischer Parlamentarier vorgelegt. Die Autorin untersucht die Biographien von elf Landtagsabgeordneten zwischen 1946 und 1970 vor dem Hintergrund ihrer Lebenswege in der Zeit von 1933 bis 1945. Sie will in ihrer Gruppenbiographie der Frage auf den Grund gehen, welche Rolle diese Politiker im Prozess der Demokratisierung spielten. Im Zentrum der Arbeit stehen „politische Einstellungen und ihre Entwicklungen nach 1945" (S. 10). Die Autorin differenziert dabei zunächst den Begriff der Belastung, den sie in Übereinstimmung mit der jüngeren Forschung nicht nur an formale Kriterien wie die Zugehörigkeit zur NSDAP oder das Datum und das Alter beim Eintritt in die Partei knüpft, sondern an das Verhalten ihrer Protagonisten in bestimmten Situationen sowie deren tatsächliche Einstellung, die sie etwa am Karriereverlauf in der NS-Zeit und an Fremdwahrnehmungen festmacht, wie sie sich aus Beförderungen, Beurteilungen und Auszeichnungen ergaben. Dem Begriff der Belastung stellt sie jenen des Demokraten gegenüber, wobei beide, so Schneider, im Untersuchungszeitraum einer dynamischen Veränderung und damit Historisierung unterlagen.

Sie geht ihrer Fragestellung anhand von drei Kategorien nach: der Haltung der Parlamentarier zum Nationalsozialismus allgemein, ihren demokratisierenden Lern- und Wandlungsprozessen und dem Umgang mit ihrer persönlichen NS-Vergangenheit. Basierend auf der Arbeit von Albrecht Kirschner1 wählt sie aus insgesamt 92 ermittelten NS-belasteten hessischen Landtagsabgeordneten elf Parlamentarier für ihre Studie, die in mindestens drei Legislaturperioden zwischen 1946 (erste hessische Landtagswahl nach dem Krieg) und 1970 (Trennung von Amt und Mandat) Mitglieder des Landtags waren und der SPD, CDU, FDP oder dem BHE/GDP angehörten. Deren Einstellungen untersucht sie anhand von sieben Themenfeldern mit NS-Bezug: Opfergedenken, Vertreibungsdiskurs, Personalpolitik, Umgang mit Radikalismus, Antiamerikanismus, Europabilder und Militarismus. Als Quellen dienen ihr dabei einerseits personenbezogene Archivalien, darunter Personalakten, Spruchkammerakten oder Stammdatenblätter, und andererseits Materialien, die Haltungen und Einstellungen ihrer Protagonisten dokumentieren, insbesondere Siteungsprotokolle als die zentralen Quellen der Studie, aber etwa auch Redemanuskripte, publizistische Quellen und Zeiteeugeninterviews.

Die in fünf Großkapitel gegliederte Arbeit skizziert zunächst den Umgang der relevanten hessischen Parteien mit dem Nationalsozialismus und stellt danach die Lebensläufe der elf Abgeordneten bis zum Kriegsende 1945 vor, um im dritten Teil deren Nachkriegsbiographien zu erörtern. Dabei geht Schneider auf das „Ankommen in der demokratischen Gesellschaft" (S. 39), die berufliche Reintegration, die Motivationen für das parteipolitische Engagement, die Übernahme erster politischer Ämter und die Verneteung ihrer Protagonisten ein. Im vierten Teil, dem Kernstück ihrer Arbeit, diskutiert die Autorin anhand der sieben oben genannten Politikfelder das Verhältnis der elf Abgeordneten zu Nationalsozialismus und Demokratie und geht dabei deren Wandlungs- und Lernprozessen nach. Im folgenden Kapitel beschreibt sie den Umgang der Presse und Öffentlichkeit mit den NS-belasteten hessischen Parlamentariern und stellt die Frage nach ihrer Selbstreflexion.

Schneider kann in ihrer quellennahen, äußerst umfang- und detailreichen Studie zeigen, dass die meisten Betroffenen, sofern in einem Spruchkammerverfahren als Entlastete oder Mitläufer eingestuft, auch als ehemalige Nationalsozialisten „keineswegs geächtet oder stigmatisiert" waren (S. 495). Vor ihrem Wechsel in die Politik fanden sie überwiegend zunächst den Weg zurück in ihre ursprünglichen Berufe, etwa als Juristen, Lehrer oder Redakteure. Seilschaften ehemaliger Nationalsozialisten wie beispielsweise die Mitgliedschaft im Witikobund blieben die Ausnahme. Gleichwohl wurden in den Landtagsdebatten Bezüge zum Nationalsozialismus als Argument zur Diffamierung politischer Gegner genutet. Die von den elf belasteten Abgeordneten entwickelten Strategien der Selbstkonstruktion reichten vom Eingeständnis der falschen Unterstüteung des NS-Regimes durch ihre NSDAP-Mitgliedschaft über die Verharmlosung des Krieges bis hin zur Selbstentlastung durch die Stilisierung als Sozialist oder resignierter Demokrat. Nur in Einzelfällen kann die Autorin einen Zusammenhang zwischen der NS-Belastung und der Einstellung ihrer Protagonisten zum Nationalsozialismus ausmachen, etwa, wenn der FDP-Fraktionsvorsiteende Heinrich Rodemer in aggressiven politischen Kommentaren keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegenüber den Alliierten und Verfolgten des NS-Regimes machte. Klarer lässt sich ein „integrationistische[s] Opferbild" (S. 500) der belasteten Abgeordneten herausarbeiten, das kaum zwischen Verfolgten und Anhängern des Regimes unterschied und die gesamte deutsche Nachkriegsgesellschaft als Opfergemeinschaft verstand. Dennoch sieht Schneider im Sinne der Liberalisierungsthese von Ulrich Herbert charakteristische Lern- und Wandlungsprozesse bei den untersuchten Politikern, die trote längeren Festhaltens an überkommenen und nationalistischen Denkmustern langsam in die Nachkriegsordnung fanden, das Kriegsende und die Befreiung vom Nationalsozialismus als positives Ereignis wahrnahmen und so das Beharren auf Traditionen mit liberalen Einstellungen vermischten -- ein, wie die Autorin in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Studien unterstreicht, „Charakteristikum der deutschen Nachkriegsgesellschaft" (S. 501). Dabei erleichterte der Rückgriff auf Brücken wie Antikommunismus, Rückbesinnung auf die abendländische Kultur oder die traditionell als deutsch verstandenen Werte Fleiß, Disziplin und Treue, die, anders als Antisemitismus und Rassismus, in der Bundesrepublik nicht diskreditiert waren, die Ankunft in der Demokratie. Dafür sieht Schneider in der Debattenkultur der Nachkriegsgesellschaft einen Schlüsselfaktor: Der diskursive Raum der kommunalen wie auch der Länderparlamente wirkte auf die Abgeordneten durch Verfahren, Reden und Strukturen demokratisierend und modernisierend. Überdies boten die nicht nur auf Bundesebene, sondern auch im hessischen Landtag von allen Parteien geforderte Beendigung der Entnazifizierung und Amnestiegesetegebung den NS-Belasteten private wie berufliche Sicherheit. Deren damit einhergehende Integration in die Demokratie und das Eintreten für die neue Staatsordnung wurden freilich durch „mentale, strukturelle und personelle Kontinuitäten", unzureichende Strafverfolgung und unsensiblen Umgang mit den Opfern des NS-Regimes erkauft (S. 505).

Sabine Schneider bestätigt mit diesen Befunden die Ergebnisse der in den leteten Jahren immer breiteren Forschung zu Vergangenheitspolitik, Elitenkontinuitäten, Institutionen- und Behördengeschichte und kann mithilfe einer regionalgeschichtlichen Arbeit und der Konzentration auf ein kleines, intensiv durchleuchtetes Personensample das Verständnis der Demokratieentwicklung und Belastungsgeschichte in der Bundesrepublik weiter nuancieren und differenzieren. Der Band wird durch Kurzbiographien der elf Parlamentarier sowie ein Personenregister abgerundet.

Footnotes 1 Albrecht Kirschner, Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Vorstudie „NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter" der Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvorhaben „Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen", Wiesbaden 2013.

By Verena von Wiczlinski, Mainz

Titel:
Belastete Demokraten.
Autor/in / Beteiligte Person: Wiczlinski, Verena von
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 363-365
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • BELASTETE Demokraten: hessische Landtagsabgeordnete der Nachkriegszeit zwischen Nationalismus und Liberalisierung (Book)
  • SCHNEIDER, Sabine
  • NATIONAL socialism
  • DEMOCRATIZATION
  • NONFICTION
  • Subjects: BELASTETE Demokraten: hessische Landtagsabgeordnete der Nachkriegszeit zwischen Nationalismus und Liberalisierung (Book) SCHNEIDER, Sabine NATIONAL socialism DEMOCRATIZATION NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 978

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