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Preußen - eine besondere Geschichte.

Mölich, Georg
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 382-385
Online review

Preußen - eine besondere Geschichte  HARTWIN SPENKUCH: Preußen -- eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 532 S. ISBN: 978-3-525-35209-0.

Die Absicht des umfangreichen Bandes ist es, „unter Einbezug aktueller Forschungserkenntnisse neue Fragen an die Geschichte Preußens" zu stellen und sich „Themen, die bisher zu kurz kamen" zu widmen. So die knappe Formulierung auf der Rückseite des Bandes, den der Berliner Neuzeithistoriker Hartwin Spenkuch als eine neue Form einer Gesamtdarstellung zum historischen Phänomen ,Preußen' vorgelegt hat. Ziel seiner Darstellung ist bewusst keine „harmonisierende Synthese": „Gegensätelichkeit und Konflikte kennzeichneten Preußen über lange Perioden" (S. 16).

An Überblicksdarstellungen zur Geschichte Preußens besteht derzeit kein wirklicher Mangel. Und mit dem am Buchmarkt äußerst erfolgreichen magistralen Überblickswerk des in Australien gebürtigen, in Cambridge (GB) lehrenden Historikers Christopher Clark von 2007 (in deutscher Sprache) liegt eine breit angelegte Gesamtdarstellung vor, die trote einiger Kritikpunkte als Gesamtsicht ,von außen' auch im Fachdiskurs überzeugt hat (vgl. die Besprechung von Helmut Berding, RhVjBll 72 [2008], S. 361f.). An diesem Opus magnum arbeitet sich Spenkuch erkennbar ab und man darf unterstellen, dass das Buch von Clark der Auslöser für die vorliegende, auf umfassenden Recherchen und intensiven Lektüren beruhende Publikation war. Spenkuchs engagiertes Buch changiert zwischen Gesamtdarstellung, Handbuch und weit gefasstem Literaturbericht -- als Begriff kommt vielleicht ,Kompendium' der Sache am nächsten (der Autor verwendet am Rande auch den etwas altertümlichen Begriff „Grundriß" [S. 15]). Spenkuch verzichtet auf einen chronologischen Durchgang und gliedert sein immenses Material in sieben sachthematischen Kapiteln. Die Proportionen zwischen den Kapiteln akzentuieren dabei eindeutig die Schwerpunktseteungen des Autors: Die Außenpolitik wird auf 30 Seiten behandelt, während das Thema ,Staatskultur, Kulturstaat und Bürgergesellschaft' (inklusive der beiden christlichen Konfessionen) auf 120 Seiten ausgebreitet wird. Das 17. und 18. Jahrhundert wird insgesamt eher knapp abgehandelt, Spenkuchs Schwerpunkt liegt eindeutig im ,langen' 19. Jahrhundert und in der Zeit des demokratischen Freistaates Preußen zwischen 1918 und 1932/33. Im leteten Kapitel, das etwas plakativ ,Preußen und die Welt' betitelt ist, thematisiert Spenkuch die Historiographie- und Erinnerungsgeschichte Preußens und beschreibt sehr anregend und perspektivenreich „internationale, transnationale, (post)koloniale Bezüge Preußens" und bemüht sich so, das Thema ,Preußen' anschlussfähig zu aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskursen und Forschungsrichtungen zu akzentuieren.

Im ersten Kapitel ,Preußen zwischen Ost und West' widmet sich der Autor sehr knapp und thesenhaft der Außenpolitik zwischen 1648 und 1933 (wobei Spenkuch natürlich chronologisch tatsächlich im späten 16. Jahrhundert beginnt und somit die Erlangung der niederrheinischen Gebiete ab 1609 wenigstens berührt, ohne sie jedoch näher zu thematisieren). Preußen gelangt -- thesenhaft zugespitet -- letetlich „in drei Sprüngen zur Großmacht: durch Friedrichs II. Aggression, durch die Gewinne beim Wiener Kongreß, durch Bismarcks Kriege" (S. 47). Eine neue Gewichtung nimmt Spenkuch bei der positiven Bewertung des SPD-Politikers Hermann Müller vor, der in der Weimarer Republik eine friedensorientierte „kooperative Außenpolitik" vertrat, die preußisch-deutsche Traditionen verließ. Im zweiten, ,Preußens Wirtschaft' benannten Kapitel entwirft Spenkuch einen Längsschnitt durch die komplexe wirtschaftliche Entwicklung, bei der bis zum späten Kaiserreich die zentrale Rolle des Staates überdeutlich wird. Hier gelingen präzise Schneisen durch ältere wie neueste Forschungsergebnisse, die analytisch zu einem spannenden und häufig neuen Bild zusammengeführt werden. Der „Hinzutritt" der westlichen Gebiete 1815 wird als „epochal neuer Faktor" für Preußens Wirtschaftsgeschichte (S. 64) bewertet; die Geschichte der Industrialisierung offenbart dann, dass die staatliche Politik Preußens dabei „keineswegs durchgängig modernisierungsoffen und industriefreundlich" war (S. 65). Die zuweilen trockene Materie der Wirtschaftsentwicklung wird durch zupackende Beispiele und gute Analysen aufgeschlossen und zugänglich gemacht.

Ein eigenes kurzes Kapitel widmet der Autor ,Preußens Regionen', wobei es präziser um „Autonomiestreben und Integration in den (eroberten) Territorien" geht. Hier wird ein Gesamtbild der vielfältigen ,Erwerbungen' Preußens entwickelt, wobei sich die Hauptprobleme natürlich bei den neuen Provinzen ab 1815 und ab 1866 ergeben, die etwa bezogen auf das Rheinland nach 1815 mit wenigen Strichen skizziert werden. Dabei wird deutlich herausgearbeitet, dass in diesem langwierigen In- tegrationsprozess Preußen „quasi übersprungen wurde": „Man wird deshalb sagen können, dass die Integration der neuen Provinzen von 1815/1866 erst wirklich gelang, als sich durch deutschen Nationalstaat und innere Reformen der 1870er Jahre eine dezidierte preußische Identifikation erübrigte" (S. 100). Wie weit es mit der von Spenkuch wiederum bemühten „antipreußischen Mentalität" (S. 104) im Rheinland in der Realität her war, ist weiterhin ein beliebtes Argumentationsfeld im lokalen wie regionalen Selbstbewusstsein -- das wird wohl auch so bleiben.

Einen umfangreichen Abschnitt lang beschäftigt sich Spenkuch mit ,Preußens Gesellschaft', die hier als Sammelbecken ganz unterschiedlicher Formationen verstanden wird -- insofern wäre hier sogar der Plural Gesellschaften' durchaus angebracht. Recht ausführlich dargelegt wird die Entwicklung des städtischen Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert, während Bauern und Grundherren eher knapp angesprochen werden -- was für den Agrarstaat Preußen doch eine gewisse Unausgewogenheit darstellt, aber natürlich der jüngeren Forschungsgeschichte geschuldet ist. Spenkuch weist hier wie auch an anderen Stellen dezidiert darauf hin, dass viele ältere quellenfundierte Studien durchaus „bestandskräftig" (S. 115) bleiben und nicht durch neuere Studien ersetet wurden. Ausführlich würdigt Spenkuch die eigenständige Rolle und Bedeutung der Arbeiterbewegung in Preußen, wobei er auch die „preußischen Züge" der sozialdemokratischen Bewegung herausarbeitet (S. 134). Rolle und herausragende Bedeutung des Militärs für Preußens staatliche Existenz modelliert Spenkuch präzise heraus, wobei er neueste Forschungsergebnisse einbezieht, die auch die bürgerliche Annäherung an das Militär im späten 19. Jahrhundert betonen, ohne dabei eben die „extra-konstitutionelle" Stellung der Armee zu vernachlässigen, die als Spezifikum auch des deutschen Kaiserreiches gelten kann: „Extra-konstitutionelle Stellung des Militärs und strikt antiparlamentarische Ausrichtung, monarchische Kommandogewalt und Dualismus von Militär und Politik bilden weiterhin die Kennzeichen preußischen Militärverständnisses" (S. 156f.). Unter dem Oberbegriff „Gesellschaft" werden sodann auch Minderheiten wie Juden, Polen und slawophone Gruppen umrissen, wobei es dem Autor in diesen Kapiteln aufgrund der Einbeziehung neuerer Forschungsergebnisse gelingt, ein konzises Bild der gesellschaftlichen Minderheiten im preußischen Gesamtstaat zu entwerfen.

,Preußens politisches System' steht als Überschrift über dem nächsten Abschnitt, der einen gelungenen Überblick vom monarchischen Absolutismus bis hin zum demokratischen Freistaat der Weimarer Republik vermittelt. Auch wenn hier die Bedeutung der Landtage nach und nach reduziert wurde, überlebte ständische Mitwirkung auf vielfältigen Ebenen und prägte Preußen noch weit in das 19. Jahrhundert hinein. Auch der umstrittene Begriff des „Absolutismus' wird von Spenkuch „mangels besserer Alternativen" bis um 1800 als sinnvoll angesehen (S. 189). Der Herrschaftskompromiss unter Friedrich II. -- „Entmachtung von Adel und Ständen in den großen politischen Fragen auf zentraler Ebene gegen Wahrung der Adelsherrschaft auf lokaler Ebene und Versorgung in zivilen, mehr noch in militärischen Positionen" (S. 191) -- kennzeichnete Preußen im späten 18. Jahrhundert. Im Reformprozess war es das Scheitern Hardenbergs, das eine andere Entwicklung verhinderte. Spenkuch entwickelt dann kenntnisreich und auf der Basis auch der neueren Forschungsergebnisse den Weg bis zur Revolution, dem sich anschließenden ,Konstitutionalismus wider Willen' und dem Verfassungskonflikt. Im von Preußen dominierten Kaiserreich nach 1871 wird dieser Staat zu einer im Grundsate konservativen Bremse vieler denkbarer Alternativen, die sich aus der Dynamik der hochindustrialisierten Gesellschaft ergaben: „Preußen als konservativer Treibanker des Kaiserreichs behinderte das Reichsschiff auf dem Weg politischer Mobilisierung vielfach erheblich" (S. 231). Die erfreulich umfangreiche Darstellung der Entwicklung Preußens als demokratischer Freistaat zwischen 1918 und 1932/33 zeigt die umfangreichen Erfolge nach der Staatsumwälzung auf und macht darauf aufmerksam, dass diese „Errungenschaften […] im öffentlichen Bewußtsein bis heute unzureichend präsent und nicht ausgeforscht" sind (S. 240).

Das umfangreichste Kapitel der Studie widmet sich mit den Themen ,Staatskultur, Kulturstaat und Bürgergesellschaft' einem Themenkomplex, der ansonsten in Abhandlungen zur preußischen Geschichte nur am Rande behandelt wird. Spenkuch sieht in der Beschreibung Preußens als „europäischer Kulturstaat" eine „nötige Ergänzung eines sonst einseitigen Bildes" (S. 251). Was er hier vorlegt, ist eine aus vielen neueren Forschungen erstmals kondensierte Darstellung der unterschiedlichen kulturellen Felder, bezogen auf ihre Wirksamkeit im Gehäuse des preußischen Staates. Die verschiedenen Bereiche (Bildende Künste, Musik, Literatur, Architektur, Denkmäler, politische Feste, Bildung und Wissenschaft) werden systematisch und breit dargestellt -- dies geschieht immer basierend auf dem aktuellen Forschungsstand. Dieses Großkapitel ist eine Summe der Forschungen vor allem der leteten beiden Jahrzehnte. Man merkt, dass der Autor in diesem Bereich forschend und darstellend zu Hause ist. Auf die vielfältigen Anregungen, die sich aus dieser verdichteten Darstellung ergeben, kann hier nur pauschal und empfehlend hingewiesen werden. Auffällig ist an dieser Stelle allerdings, dass Spenkuch trote seiner wirklich umfassenden Literaturkenntnis die neueren kulturwissenschaftlichen Studien rund um die Epochenfigur Friedrich Wilhelm IV. nicht einbezogen hat (beispielhaft etwa von Jörg Meiner und Jan Werquet). Wichtig ist, dass man bei zukünftigen Arbeiten zu Preußen im 19. Jahrhundert nun nicht mehr hinter den hier handbuchartig zusammengefassten Forschungsstand zurückfallen kann. Etwas ,angeklebt' wirkt das ebenfalls in diesem Großkapitel behandelte Großthema ,Protestantismus und Katholizismus vom 17. Jahrhundert bis 1933'. Hier wäre sicher ein eigenes Kapitel angebracht gewesen, denn die Bedeutung der konfessionellen Formationen dürfte unstrittig sein -- besonders für das ,lange' 19. Jahrhundert. Gleichwohl gewähren aber die hier zusammengefassten Ergebnisse der jüngeren Forschungen einen sehr guten Überblick.

Das schon erwähnte Schlusskapitel ,Preußen und die Welt' entwirft einen knappen Längsschnitt zur Forschungsentwicklung rund um das Thema Preußen, an den sich Hinweise zu Sichtweisen auf Preußen aus kritischer und apologetischer Perspektive sowie aus dem Ausland anschließen. Die Preußen-Rezeption nach 1945 wird umfangreich dargestellt und auf einige Forschungsdesiderate verwiesen. Den Abschluss der Darstellung bildet ein interessanter Überblick zu internationalen, transnationalen und (post-)kolonialen Bezügen Preußens. Hier verdienen besonders die Hinweise zum Gegenstandsfeld des Kolonialismus besondere Aufmerksamkeit. Spenkuch gelingt hier ein spannender Überblick zu den ganz unterschiedlichen Themenfeldern, die unter diesem Gesamtaspekt bei ,Preußen' zu bearbeiten wären -- ein weites Feld zukünftiger Forschungen!

Eine kurze Schlussbemerkung steht am Ende unter dem nicht sehr überraschenden Titel ,Staat als Leitkategorie für die Geschichte Preußens'. Spenkuch konstatiert darin, dass sich die Anwendung der „Leitkategorie Staat" in dem Band bewährt habe. Da Preußen nur den „territoriale[n] Rahmen für unterschiedliche regionale, auch kulturelle Traditionen" gebildet habe, sei neben dem Staat „keine überlegene diachrone Leitachse zur Geschichte Preußens zu erkennen" (S. 445). „Preußens Bauprinzip war bis 1918 die Wahrung staatlicher Autorität […]" (S. 446). Das klingt nach über 400 Seiten eindrucksvoller Forschungsbilanz mit vielen wichtigen Hinweisen für zukünftige Forschungen doch eher ernüchternd. Aber vielleicht ist es auch ein angemessener Schlussakkord für die solide Darstellung.

Der eindrucksvolle Band wird durch ein umfassendes Literarturverzeichnis (S. 450-519) und ein Personenregister beschlossen (leider fehlt ein Sach- bzw. Schlagwortregister, durch das das Buch besser nutebar wäre). Die enorme Belesenheit Spenkuchs zeigt sich nicht nur in der umfassenden Einarbeitung der kaum überschaubaren Sekundärliteratur. Der Autor hat verstreut über die ganze Monographie eine Fülle hochinteressanter Quellenfunde ausgebreitet, die teilweise aus Archivbeständen stammen oder aus sehr verstreuten Quellenveröffentlichungen herangezogen werden. Das macht sie auch zur spannenden Fundgrube, die sich sicher nicht für den Leser und die Leserin, die einen Überblick zur preußischen Geschichte rezipieren will, eignet. Aber für jeden oder jede, der oder die sich intensiver mit einzelnen Epochen oder Sachzusammenhängen der vielfältigen preußischen Geschichte beschäftigen möchte, ist dieser Band ein zuverlässiger, zuweilen pointierter Begleiter beim Einstieg und bei der Erarbeitung von Themenfeldern. Und das gilt sicher auch weit darüber hinaus für die Forschung -- der ,Spenkuch' ist ohne Frage das aktuellste und vollständigste Kompendium zum Gesamtphänomen ,Preußen'. Einige etwas zugespitete Bewertungen und plakative Urteile Spenkuchs nimmt man dabei gerne in Kauf -- gerade, wenn und weil sie zum Widerspruch reizen.

By Georg Mölich, Bonn

Titel:
Preußen - eine besondere Geschichte.
Autor/in / Beteiligte Person: Mölich, Georg
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 85 (2021), S. 382-385
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • PREUSSEN-eine besondere Geschichte: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947 (Book)
  • SPENKUCH, Hartwin
  • CULTURAL history
  • ECONOMIC history
  • NONFICTION
  • Subjects: PREUSSEN-eine besondere Geschichte: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947 (Book) SPENKUCH, Hartwin CULTURAL history ECONOMIC history NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Preußen - eine besondere Geschichte: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947.
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 1841

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