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Männlichkeit – ein weites Feld: Marcus Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen. Eine videografische Studie in Kindertagesstätten, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, 531 S. J J Bola, Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist, München, Hanser Verlag 2020, 157 S.Blu Doppe

Daniel Holtermann (Hrsg.), Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern. Kritische Reflexionen von Männlichkeiten, Münster: UNRAST Verlag 2021, 270 S.Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit leben. Die Stärkung des Maskulinen, Hamburg: Ellert & Richter Verlag (13. Auflage) 2020, 320 S.Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit genießen. Die Freude am Maskulinen, Hamburg: Ellert & Richter Verlag (3. Auflage) 2019, 288 S.Ann-Madaleine Tietge, Make Love, don't Gender!? Heteronormativitätskritik und Männlichkeit in heterosexuell definierten Paarbeziehungen, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, 300 S.Jack Urwin, Boys don't cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit, Hamburg: Edition Nautilus Verlag 2017, 232 S
In: Soziologische Revue, Jg. 44 (2021-10-01), Heft 4, S. 550-562
Online review

Männlichkeit – ein weites Feld: Marcus Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen. Eine videografische Studie in Kindertagesstätten, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, 531 S. J J Bola, Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist, München, Hanser Verlag 2020, 157 S.Blu Doppe / Daniel Holtermann (Hrsg.), Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern. Kritische Reflexionen von Männlichkeiten, Münster: UNRAST Verlag 2021, 270 S.Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit leben. Die Stärkung des Maskulinen, Hamburg: Ellert & Richter Verlag (13. Auflage) 2020, 320 S.Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit genießen. Die Freude am Maskulinen, Hamburg: Ellert & Richter Verlag (3. Auflage) 2019, 288 S.Ann-Madaleine Tietge, Make Love, don't Gender!? Heteronormativitätskritik und Männlichkeit in heterosexuell definierten Paarbeziehungen, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, 300 S.Jack Urwin, Boys don't cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit, Hamburg: Edition Nautilus Verlag 2017, 232 S 

Keywords: Männlichkeit; Heteronormativität; Patriarchat; Gleichstellung

Jack Urwin, Boys don´t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit, Hamburg, Edition Nautilus- Verlag 2017, 232 S.

Ann-Madaleine Tietge, Make Love, don´t Gender!? Heteronormativitätskritik und Männlichkeit in heterosexuell definierten Paarbeziehungen, Wiesbaden, Springer Verlag 2019, 300 S.

Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit genießen. Die Freude am Maskulinen, Hamburg, Ellert & Richter – Verlag (3. Auflage) 2019, 288 S.

Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit leben. Die Stärkung des Maskulinen, Hamburg, Ellert & Richter – Verlag (13. Auflage) 2020, 320 S.

Blu Doppe / Daniel Holtermann (Hrsg.), Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern. Kritische Reflexionen von Männlichkeiten, Münster, UNRAST-Verlag 2021, 270 S.

J J Bola, Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist, München, Hanser-Verlag 2020, 157 S.

Marcus Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen. Eine videografische Studie in Kindertagesstätten, Wiesbaden, Springer - Verlag 2019, 531 S.

1. Traditionelle Männlichkeit als Problem: Einleitung

Spätestens mit den Ergebnissen der PISA-Studie von 2000 (vgl. OECD, 2000) über schulische Lerndefizite der Jungen wurde die öffentliche Debatte zum Doing Gender ausgesprochen hitzig. Der Cover-Titel des „Der Spiegel" von 2004 „Schlaue Mädchen, dumme Jungs. Das überforderte Geschlecht der Jungen – Katastrophe an deutschen Schulen" war eine irgendwie gewollte öffentliche Skandalisierung der – weiblich konnotierten – Schule (Der Spiegel, 2004: 1). Und wenn man den Anfangssatz des Artikels las: „Pädagogen sorgen sich um die Männer von Morgen", dann war zu mutmaßen, dass der Aufschrei „Schlaue Mädchen-dumme Jungs" ein prototypischer männlicher Aufschrei gegen die Infragestellung männlicher Hegemonie sei – Ausdruck eines erschütterten Männlichkeitsbildes.

Als der Verband der nordamerikanischen Psychologen (APA) im Jahre 2018 in seinem Ratgeber zur therapeutischen Behandlung von traditioneller Männlichkeit formulierte: „Psychologists strive to reduce the high rates of problems boys and men face and act out in their lives such as aggression, violence, substance abuse und suicide" (APA, 2018: 15) mutierte der Begriff „Männlichkeit" zu einem Krankheitsbild: Toxische Männlichkeit. Die traditionelle Männlichkeit schade mit ihrem Dominanzgehabe nicht nur Frauen; sie wird zudem verantwortlich gemacht für insbesondere psychosomatische Störungen der Männer selbst: Der traditionelle Mann, der – nach klassischer Lesart – weder Gefühle noch Schwäche zeigen soll, generiert bei sich selbst laut APA auf Dauer Probleme wie Depression und chronischen Stress, befördert weitaus häufiger als bei Frauen suizidales Verhalten. Dass die APA das traditionelle Macho-Verhalten in die Nähe von psychischen Krankheiten rückte, rief z. B. die Neue Zürcher Zeitung in kritischer Absicht auf den Plan: „Liest man den Ratgeber weiter, fragt man sich, ob man es mit einer psychologischen Studie oder nicht eher mit dem Flugblatt einer jungsozialistischen Studentengruppe zu tun hat" ([2], 2019: 3).

Das „Drehbuch" Männlichkeit wird im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess zunehmend uneindeutiger: Eine Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit (vgl. [6], 2015) von

  • – traditionell männlichen Überlegenheitsnarrativen

• und

  • – neuen Gleichstellungimperativen für Mann und Frau

ist geeignet, die Identität von Jungen und Männern zu verstören. Die hier vorgestellte Sammelbesprechung nimmt Teil am Problem- und Krisendiskurs über die Konstruktion und Destruktion von Männlichkeit. Dazu formuliert Lothar Böhnisch „Die Krise des Mann-Sein bricht erst mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Frau auf, denn da wird deutlich, dass die Stärke des Mannes lange Zeit an die behauptete Schwäche der Frau gebunden war und mit der weiblichen Emanzipation ihre selbstbehauptete und darin tradierte Legitimation verliert" ([3], 2018: 9). Das heißt: Männlichkeit – besser Männlichkeiten – ist zunehmend in aller Munde – wird zum Objekt ganz unterschiedlicher Lesarten und ist im Kontext vielfältiger Gelegenheitsstrukturen zu reflektieren.

Sieben Publikationen mit aufsteigender Komplexität in ihrer Thematisierung werden besprochen. Das inhaltliche Spektrum dieser Bücher reicht von

  • – eher essayistischen Annäherungen an den Männlichkeitsdiskurs mit einer postulierten Negation (Urwin und Bola) und/oder einer gewünschten Affirmation (Leimbach und Leimbach) traditioneller Männlichkeit einerseits und
  • – andererseits hochdifferenzierten genderpolitischen Perspektiven und Diskussionen (Doppe / Holtermann), in denen das Geschlecht keine Ungleichheiten, Gewalt und Hierarchien mehr erzeugt.

Die argumentativen Plädoyers zur Negation und/oder zur Affirmation von traditioneller Männlichkeit sind implizite Ratgeber – in der einen oder der anderen Richtung.

Zwischen diesen beiden thematischen Blöcken werden zwei veröffentlichte Dissertationen (Andrä und Tietge) zur Herstellung von Praxen der Männlichkeit thematisiert.

2. Negation und Affirmation traditioneller Männlichkeit

Jack Urwins „Boys don't cry" und JJ Bolas „Sei kein Mann" problematisieren in ihren Publikationen starre traditionelle Männlichkeitsbilder, strukturelle Geschlechterungleichheiten und machohafte sowie gewaltaffine Verhaltensweisen von Männern. Beide entwerfen zudem Perspektiven einer Gesellschaft, in der Männer und Frauen gleiche biografische Verwirklichungschancen haben. Der Fokus ihrer Kritik richtet sich sowohl auf individuelle Verhaltensweise als auch auf Institutionen, Subsysteme und gesellschaftliche Strukturen. So schreibt Bola: „Eine patriarchale Gesellschaft normalisieret männliche Dominanz" (Bola, 2020: 73). Und Urwin stellt kritisch fest: „Die Gesellschaft betrachtet heterosexuell als ‚Voreinstellung' für Männer und Frauen" (Urwin, 2017: 180).

In den beiden Büchern von Björn Thorsten Leimbach „Männlichkeit leben" und „Männlichkeit genießen" dominiert hingegen eine Kritik am Feminismus: „Wir leben heute in einer feministischen und überwachten Gesellschaft, die uns weichspült und jede Männlichkeit erstickt" (Leimbach, 2019: 27). Leimbach beklagt eine „Übermutterung": „Das Ergebnis sind immer mehr verweichlichte, verängstigte und feige Männer" (Leimbach, 2019: 27).

In den Publikationen von Bola und Urwin wird hervorgehoben, dass der sozial-ökonomische und kulturelle Wandel und die Frauenemanzipation zur Verwerfung von traditionellen Männlichkeitsbildern führte. So schreibt Urwin plakativ: „Durch den Feminismus haben Frauen bewiesen, dass sie alles können. Nun ist es an der Zeit, dass Männer beweisen, dass sie alles das können, was Frauen können" (Urwin, 2017: 222). Leimbach hingegen sieht den „Problemfall" Männlichkeit (Leimbach, 2020: 12) im Kontext der Mädchen- und Frauenförderung verursacht. Und er folgert: Den „Jungen werden Aggression und Freiheitsdrang abtrainiert, damit sie ungefährlich, demokratisch und einfühlsam werden. Die Jungs werden die besseren Mädchen – sanft und verständnisvoll bis hin zu naiver oder einfach feiger Angepasstheit" (Leimbach, 2020: 12).

Urwin und Bola diagnostizieren eine starke – objektive und subjektive – Hilfsbedürftigkeit traditionell orientierter Männer, um im gesellschaftlichen Wandel der Geschlechterverhältnisse Schritt halten zu können.

  • – Bola : „Wir können die aktuellen Probleme nur lösen, wenn wir mit ihnen konfrontiert werden und dann entsprechend angehen; dazu müssen wir lernen, unsere toxischen Verhaltensweisen loszulassen, und miteinander über die Probleme reden. Aber diese Aufklärung und die darauffolgenden Vorgehensweisen erfordern Kühnheit, Verwegenheit, Mut. Es reicht nicht, sich dessen bewusst zu sein, wir müssen auch etwas tun" (Bola, 2020: 147).
  • – Urwin : „Es ist schwierig, etwas zu ändern...(Aber) Wenn Männer erst einmal sehen, dass es nicht entmannend ist, sich zu öffnen oder um Hilfe zu bitten, sind sie auch offener für andere Ideen" (Urwin, 2017: 221).

Leimbach fokussiert eine gänzlich andere Perspektive. Er postuliert den „echten" (Leimbach, 2019: 19) Mann gegen Unselbständigkeit und Unmännlichkeit: „Der Schlüssel hierfür ist der Zugang zum eigenen Jagdinstinkt, zur eigenen Aggressivität" (Leimbach, 2019: 47). Zur Illustration der Stärkung des Maskulinen der „echten" Männlichkeit greift er immer wieder mythopoetisch auf die Topoi „Krieger", „Held", „Kampf" zurück. Im hier und jetzt der Arbeitswelt konkretisiert er dieses Männlichkeitsbild: „Typische Kriegerberufe: Unternehmer, Makler, Militärposten, Staatsanwalt, Stuntman, Positionen im mittleren Management" (Leimbach, 2020: 154). Diesen Berufen ordnet er positive sogenannte maskuline Eigenschaften zu: „Willensstärke, Erfolg, Schnelligkeit, Entscheidungsfreude, Effektivität, Produktivität, Entschlossenheit, Gradlinigkeit, Geistesgegenwart, Realismus und Wahrhaftigkeit" (Leimbach, 2020: 154). Auch eine tiefenexegetische Analyse seiner Texte vermag nicht zu einer Begründung dieser Eigenschaften als „echt" männlich führen.

Einigkeit herrscht zwischen den drei Autoren hingegen in Bezug auf emotionale Defizite in den alltäglichen Männlichkeitsrepräsentationen:

  • – „Männern fehlt oft die emotionale Sprache, um ihre Gefühle auszudrücken" (Bola, 2020: 51)
  • – „Im Augenblick ist das wichtigste Thema um Männer und Männlichkeit und das, bei dem am dringlichsten etwas getan werden muss, emotionale Verdrängung" (Urwin, 2017: 57)
  • – „Die meisten Männer [...] haben wenig Körperspannung und sind emotional gepanzert" (Leimbach, 2019: 10)

Ihr gemeinsamer Ratschlag an starre Männlichkeit unisono: „Maske ab [...] Demaskieren" (Leimbach 2020, 65, Bola 2020, 19, Urwin 2017, 122).

Männer und Männlichkeiten sind – so alle drei Autoren – zum Problem geworden. Allerdings sind die Lesarten des Problems in den Publikationen von Leimbach, Bola und Urwin ausgesprochen unterschiedlich – ebenso die Bewältigungskonzepte. Während Urwin und Bola explizit die Geschlechtergerechtigkeit als unveräußerliches Ziel formulieren, sieht Leimbach eine Resouveränisierung dominanter Männlichkeit als Goldstandard.

Die vorgestellten Ergebnisse der vier Bücher sind an sich hinlänglich bekannt (Feministische Literatur, Kritische Männerforschung). Hier dient die exemplarische Spiegelung der Positionen zur Negation und Affirmation traditioneller Männlichkeit als Einstiegsdiskussion zur Entdramatisierung und/oder Dramatisierung von Männlichkeiten.

Die Themen in den vier Publikationen unterscheiden sich: Leimbach konzentriert sich in den Kapiteln seiner beiden Bücher auf einen Bogen von der männlichen Identität, über Männerfreundschaften und Beziehungen zu den Eltern bis hin zur männlichen Sexualität. Er bleibt dabei vollständig dem bipolaren maskulinen und heteronormativen Männlichkeitsbild verbunden. Urwins und Bolas Erörterungen kreisen immer um das Verhältnis zwischen Männlichkeitskonstruktion und patriarchaler Gesellschaft. Beide nehmen in ihren Büchern häufig Bezug auf unterschiedliche sexuelle Orientierungen von Männern.

3. Tiefenstruktur: Prozesse der Herstellung von Männlichkeit

Dissertationen des hochschulischen „Mittelbaus" sind in der Regel wahre Fundgruben für Erkenntnisfortschritte. In zwei veröffentlichten Promotionsarbeiten von Markus Ändrä einerseits und Ann-Madeleine Tietge andererseits werden – jeweils empirisch orientiert – zentrale Sozialisations- und Gestaltungsprozesse von Männlichkeit forschend unter die Lupe genommen.

Andrä führte eine Videoanalyse über „Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen" durch, um folgenden drei Fragen nachzugehen:

„Was passiert zwischen den Jungen und den männlichen bzw. weiblichen Fachkräften? Welche geschlechtlich konnotierten Inhalte werden in welcher Weise zu Bestandteilen der Interaktionen? Welcher Beitrag zur Ausbildung einer geschlechtlichen Identität der Jungen kann diesen Phänomenen zugeschrieben werden?" (Andrä, 2019: 4).

Und seine finale Schlüsselantwort lautet:

„Die Homologien einer ‚willkürlichen Logik' sind in der Kindheit [...] offensichtlich besonders fest verankert. Jungen und Mädchen sind – insbesondere im Vorschulalter – begeisterte Geschlechterforscher, die dabei einem konkret-operationalen, dichotomen Paradigma folgen [...] In ihren Versuchen, ihre Erfahrungen zu strukturieren, können sich Kinder nicht der anatomischen Evidenz männlicher und weiblicher Körper entziehen. Solange sich der weitaus überwiegende Teil der Menschen in so einfacher Weise nach äußerlichen Merkmalen zwei Gruppen zuordnen lässt, werden viele Jungen und Mädchen auf Ritter und Prinzessinnen zurückgreifen, um diese Erfahrungen für sich symbolisch zu deuten. Zudem verfügen sie noch nicht über die Argumente diskursiver Gleichstellung zwischen Männern und Frauen, mit denen Erwachsene operieren können" (Andrä, 2019: 469).

Tietge analysierte in ihrer Dissertation „Make love, don't Gender" die Möglichkeit, innerhalb heterosexuell definierter Paarbeziehungen heteronormative Geschlechterrollenbilder und patriarchalische Strukturen zu unterlaufen. Hierzu führte sie problemzentrierte Interviews mit ausgewählten Paaren durch. Sie hatte zwei zentrale Fragestellungen:

„Auf manifester Ebene sollten die bewussten Möglichkeiten von Heteronormativitätskritik und Undoing Gender innerhalb der heterosexuell definierten Paarbeziehung aufgezeigt werden. Auf latenter Ebene galt es demgegenüber, mit Hilfe der Tiefenhermeneutik unbewusste Mechanismen herauszuarbeiten, welche durch die Reproduktion von Geschlecht – im Speziellen Männlichkeit – heteronormativitätskritische Strategien verhindern und begrenzen" (Tietge, 2019: 263).

Und ihre finale Schlüsselantwort lautet:

„Das erste und zentrale Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass sich Geschlecht bei den befragten Paaren im Rahmen einer inszenierten Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Partnerin und Partner reproduziert. Während beide die Erniedrigung der Partnerin zum Sexualobjekt ablehnen, wird sie dennoch als mütterliches/sich aufopferndes Objekt in eine untergeordnete Position gebracht. Der männliche Partner bewahrt seine Machtposition, indem er sich (zwar undominant, aber) kindlich inszeniert und die Verantwortung für sein Wohlbefinden und die Beziehung an seine Partnerin delegiert. Diese Delegation erfolgt aufgrund der männlichen Abwehrhaltung dagegen, eine weiblich konnotierte bzw. eine fürsorgliche Objekt-Position für andere zu übernehmen. Die Re-Inszenierung einer Mutter-Sohn-Beziehung verhindert eine tatsächlich egalitäre Beziehung und dient der Erhaltung der männlichen Überlegenheitsposition bei gleichzeitigem, vordergründigem Unterlegenheitsgestus" (Tietge, 2019: 264).

Beide zentralen Ergebnisse zusammengenommen, also

  • – die binäre Leiblichkeitserfahrung als Orientierungsrichtschnur für die Kindergartenkinder (Andrä) einerseits und
  • – die unbewussten Mechanismen in der Reproduktion der Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Partnerin und Partner (Tietge) andererseits,

wären – sollten sie so zeit-raum- und kulturunabhängig absolut gelten – eine Doppelfalle für alle Gleichstellungsbemühungen, wären unverrückbare Determinanten eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses – für alle Ewigkeit.

Darüber gilt es weiter nachzudenken: Über die Methoden – jede Methode beschränkt sich selbst –, über den theoretischen Input und über die empirischen Befunde. Einige ausgewählte Deskriptionen und Gedanken hierzu im Folgenden.

Beide Publikationen folgen dem klassischen Dissertationsformat: Einleitung/Fragestellung – Theorie/Forschungsstand – Methode/Durchführung der empirischen Studie – Auswertung/Ergebnisse. Insofern können beide Arbeiten hier quasi vergleichend dargestellt werden:

Andräs Werk fragt ja nach prägenden Kindheitserlebnissen bei Jungs in vorschulischen Kindertageseinrichtungen. Es geht ihm um den Prozess der Aneignung von männlicher Geschlechtsidentität in sozialen Interaktionen (Kap. 1).

Tietges Arbeit fragt nach den Möglichkeiten von Heteronormativitätskritik in Paarbeziehungen und dabei – insbesondere – einer unbewussten Herstellung von Männlichkeit (und Weiblichkeit) – ebenfalls in sozialen Interaktionen (Kap. 1).

Beide Studien kreisen also primär um die interaktiven Gestaltungsbedingungen geschlechtsspezifischer – personaler und sozialer – Identität. Die theoretische Aufarbeitung des Themas und die Würdigung des Forschungsstandes nimmt in beiden Publikationen jeweils ca. ein Drittel der gedruckten Seiten in Anspruch – sie ist immer sehr bedeutsam im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Dissertationen:

Bei Andräs Theoriediskussion (Kap. 2 bis 6) geht es zentral um geschlechtsspezifische Unterschiede im Interaktionsverhalten. Dabei werden einschlägige soziologische und psychologische Theoriestränge in Bezug auf die Ausgangsfragen gehaltvoll verknüpft. Tietge fokussiert (Kap. 2 und 3) insbesondere psychoanalytische Subjekttheorien und die Tiefenhermeneutik – jeweils in der Perspektive auf ihre vorangestellten Annahmen zur interaktiven Herstellung von Geschlecht. Sowohl Andrä als auch Tietge differenzieren und fundieren in diesen Diskursen ausgesprochen beeindruckend ihre Fragen. Hier zeigt sich auch die große theoretische Kompetenz der beiden.

Die Methodenteile beider sind relativ kurz und etwas plakativ gehalten. Dies ist möglicherweise eine Referenz an die (limitierenden) Seitenumfangs-Erwartungen der Verlage. Das ist meine Vermutung, zumal ich in aller Regel Dissertationen mit umfangreicheren und differenzierten Methodenteilen zum Lesen bekomme. Beide empirischen Studien arbeiten mit qualitativen Methodenansätzen; beide priorisieren das interpretative Paradigma gegenüber der Magie der großen Messzahlen im normativen Paradigma:

Andrä (Kap. 7) begründet diese Priorität: Den Konzepten des interpretativen Paradigmas „liegt die Annahme zugrunde, dass sich das Soziale aus den Begegnungen handelnder Menschen ergibt [...] Interaktion ist die Grundeinheit des Sozialen" (Andrä, 2019: 215). Und Tietge (Kap. 4) argumentiert mit Verweis auf Alfred Lorenzers tiefenhermeneutischen Ansatz (vgl. Lorenzer , 1988), dass es dem interpretativen Paradigma „entgegen positivistischer Objektivitätsansprüche" des normativen Paradigmas um die „intersubjektive Nachvollziehbarkeit ginge, welche vor allem die Explikation des Kontextes und ein induktives Verfahren voraussetzt" (Tietge, 2019: 152). Es geht also beiden nicht um die Identifizierung des Männlichen im Sinne einer Messzahl; es geht um die Erschließung subjektiver Relevanzkriterien im interaktiven Prozess.

Andrä (Kap. 5 und 6) generiert in seiner Studie in den Kindertagesstätten videografisches Datenmaterial. Tietge (Kap. 5.) führt problemzentrierte Interviews durch:

Andrä: „Videotechnik kann soziale Prozesse in großer Detailliertheit und in ihrem natürlichen Kontext aufzeichnen" (Andrä, 2019: 222).

Für die prozessuale Interpretationsarbeit hat Tietge eine „Interpretationsgemeinschaft" von vier Personen (Tietge inklusive) gebildet: „Bei der Suche nach Mitinterpret*innen war es mir wichtig, feministisch orientierte Personen zu fragen" (Tietge, 2019: 182).

Die Auswertungsprozesse verliefen in beiden Studien in jeweils zwei Schritten: Andrä (Kap. 8 bis 11) verdichtet im ersten Schritt (Collage I) zunächst deskriptiv und auf der Grundlage der theoretischen Vorarbeiten die Videosequenzverschriftlichungen „weitgehend geschlechtsblind" (Andrä, 2019: 237) – wie er formuliert. Im 2. Schritt (Collage II) wertet er das in der ersten Phase deskriptiv und interaktionstheoretisch vorbereitete Material unter geschlechts- bzw. männlichkeitsspezifischen Fragestellungen aus. Dabei verschweigt er nicht, dass die Frage „Was ist Männlichkeit" in einem „weiblich konnotierten Arbeitsfeld" (Andrä, 2019: 364) ausgesprochen schwierig zu beantworten ist. Dieses Problem, so Andrä, „kann nicht aufgelöst werden, sondern nur offen eingestanden und an den geeigneten Stellen reflektiert werden" (Andrä, 2019: 365).

Tietges Schrittfolge (Kap. 5 bis 7) besteht zunächst aus einer eher deskriptiven Analyse der Texturen der problemzentrierten Interviews hinsichtlich manifester Inhalte zu bewussten Eigenschaften, Gefühlen und Idealen der befragten Personen. Beispielhaft schreibt sie hier zu den entsprechenden Ergebnissen ihrer Interviewfrage, was den Interviewten „Liebe" im Sinne manifester Inhalte bedeutet: „Liebe wird einerseits als ein besonderes Gefühl, andererseits als eine besondere Form der Verbindlichkeit beschrieben; wobei Ersteres eher die Erfahrung der Männer, Letzteres eher der Erfahrung der Frauen entspricht" (Tietge, 2019: 202). Im zweiten Schritt kommt es mittels szenischer Verdichtung zu der tiefenhermeneutischen Analyse. Hier erarbeitet sie – im Einvernehmen mit der Interpretationsgemeinschaft als Resonanzgruppe – das Konstrukt der oben bereits vorgestellten Reinszenierung einer Mutter-Sohn-Beziehung in der Partnerschaft als zentrales Ergebnis ihrer Studie.

Beide Dissertationen sind ohne jeden Zweifel herausragende Beiträge zur Genderforschung. Aber es gibt meines Erachtens auch „Fragezeichen" – bzw. Hinterfragungen:

Andräs videografische Erschließung von „Interaktionsspielen um Männlichkeit" (Andrä, 2019: 473) geht von der Annahme aus, dass der sozial-räumliche Kontext dieser „Spiele" in den Videosequenzen „in ihrem natürlichen Kontext" (Andrä, 2019: 222) aufgezeigt werden. Drei Seiten später schreibt er: „Eine ‚objektive' Sicht ist aber niemals vollständig möglich" (Andrä, 2019: 225). In diesen Widerspruch müssten die Studienergebnisse äußerst sorgfältig eingewoben werden. Und die Charakterisierung der Auswertung im Rahmen der Collage I als „weitgehend geschlechtsblind" (Andrä, 2019: 237) ist angesichts der Erkenntnis, dass wir alle – bewusst oder unbewusst – permanent selbst gendern (z. B. Bourdieu , 1993:123) ausgesprochen naiv (das kann meines Erachtens nur reflektiert werden, wenn hierüber ein Diskurs mit anderen Forschungspersonen stattfindet).

In der Arbeit von Tietge ist der knappe methodische Hinweis auf die „Interpretationsgemeinschaft" (Tietge, 2019: 182) unzulänglich; gerade, weil ja Interaktionen im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Und die zentralen Ergebnisse zur unbewussten Reinszenierung einer Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Partnerin und Partner lesen sich wie ein Man-Bashing, zumal sie das auch noch nicht gut nachvollziehbar dramatisch zuspitzt als Polarität zwischen „Selbstverwirklichung" (Partner) und „Selbstaufopferung"(Partnerin): Es, so Tietge, „[...] bildet sich eine Polarität zwischen Selbstverwirklichung auf der männlich konnotierten Seite und Selbstaufopferung auf der weiblich konnotierten Seite heraus" (Tietge, 2019: 233). Kritsch anzumerken ist hier die Nicht-Thematisierung der Partnerin als aktiv Handelnde – im Sinne von „Agency". Christine [11] (1989: 86ff.) fokussierte bereits Ende der 1980er-Jahre auf die traditionelle Mann-Frau-Beziehungspraxis mit der methodischen Kategorie „Mittäterschaft der Frau" die mögliche Komplizenschaft von Frauen bei der Herstellung von Geschlechteridentität im Patriarchat.

Schließlich: Idealerweise wäre die alltägliche Reproduktion der patriarchalischen Geschlechterverhältnisse – wie bei Andrä und Tietge differenziert herausgearbeitet – weiter in Sinne des Nexus zwischen Phänomenen und Strukturen zu kontextualisieren. Zum Beispiel mit der Frage, ob Verhalten und Verhältnisse mit einer Abschaffung des Ehegattensteuersplittings (vgl. [7], 2020) durchaus partiell zu delegitimieren sind. Auch sind weitere vergleichende Studien zu den beiden Themenbereichen äußerst sinnvoll.

4. Verhalten und Verhältnisse – Total

Im Mittelpunkt des von Blu Doppe und David Holtermann herausgegebenen Doppelbandes „Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern" stehen kritische Reflexionen über Männlichkeiten. Die Autoren:innen der 15 Artikel sind überwiegend Aktivisten:innen eines profeministischen gut vernetzten Netzwerks zur kollektiven Verständigung über Geschlechterverhältnisse.

Die Mehrzahl der Autoren:innen sind Männer. Es geht ihnen mit den Artikeln primär im pro-feministischen Sinne um die Überwindung patriarchaler Verhältnisse und Verhaltensweisen. So schreibt Gabriel Nox Koenig in seinem Artikel mit den Titel „Vom Versuch, sich verbündet zu zeigen und die eigene männliche Performance zu sabotieren" programmatisch:

„Nichts an Geschlecht ist natürlich. Geschlecht ist gelernt – durch die Normen der Gesellschaft, in der wir leben. Geschlecht ist überall: Wie wir sitzen, wie wir gehen und wie wir sehen, drückt in subtilen und nicht so subtilen Weisen Geschlecht aus. Geschlechterverhältnisse sind durch Machtungleichgewichte strukturiert. Ob ich will oder nicht, ich bewege mich in Macht(un)gleichgewichten. Aber was mache ich mit dieser Erkenntnis – als bei Geburt weiblich einsortierte, nicht binäre Trans-Person, die heute als (schwuler) cis-Mann gelesen wird"? (Koenig, 2021: 43).

Den schreibenden Aktivisten:innen – mit vielfältigen geschlechtlichen Selbstzuschreibungen und sexuellen Orientierungen – geht es um eine Bandbreite der Diskussion von der Selbsterfahrung, über eine kollektive Verständigung bis hin zur politischen Aktion – gegen das Patriarchat. Sie verlassen die bipolare Ebene der Debatte um Geschlechtlichkeit.

Ricci Eggemann schreibt in ihrem Artikel „Depression, who cares?" über Depression und Männlichkeit, über depressionsfördernde Probleme unter Heteronormativitätsbedingungen:

„Die Folgen sind oft geprägt von einem immensen Leidensdruck und enden im schlimmsten Fall tödlich. Dem Bild von Männlichkeit zu widersprechen, z. B. durch Benennen, Behandeln oder Sichtbar-Machen einer Depression, ist für viele schwierig. Geschlechtsanforderungen führen häufig dazu, dass cis Männer keine externe Hilfe in Anspruch nehmen. Dies erklärt auch die doppelt so hohe Suizidrate und das härtere Vorgehen bei der Selbsttötung von cis Männern. Auch hier wird deutlich, dass individuelle anstatt kollektive Auseinandersetzungen den Heilungsprozess hemmen" (Eggemann, 2021: 142f.). Sie schließt ihren Artikel ab mit einer Wunschperspektive:

„Ich wünsche mir für alle cis Männer, dass sie die Möglichkeit haben, auch ihre Krisen und Schwächen zu teilen und sichtbar zu machen, Vorstellungen von Männlichkeitsanforderungen widersprechen [...] Und ich wünsche mir, dass es einen grundsätzlichen strukturellen Wandel gibt, der Depressionen als gesellschaftliches Problem und vor allem als Produkt anerkennt, das aus den neoliberalen und kapitalistischen Konkurrenzzwängen entsteht" (Eggemann, 2021: 145).

Auch in einem Artikel mit dem Titel „Im Stuttgarter Schlosspark: Schnittstellen von zwei Marginalitäten" von Gustavo Hernandez wird mit der Problematisierung der Lebenswelten von marginalisierten Männern dieser Nexus zwischen Verhalten und Verhältnissen hervorgehoben:

„Es braucht vielschichtige Interventionen sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der individuellen Ebene. Auf der aktivistischen Ebene wäre z. B. eine enge Kooperation zwischen den Initiativen, die sich bisher z. T. nur mit einer Diskriminierungsdimension (z. B. Rassismus oder Homophobie) beschäftigt haben, vonnöten. Es sind zwar verschiedene soziale Bewegungen, Theorien und politische Initiativen des Widerstands entstanden, aber es gilt, nun eine gemeinsame Agenda zu verfolgen und neue Strukturen der Zusammenarbeit zu schaffen, die ein gemeinsames solidarisches politisches Handeln ermöglichen" (Hernandez, 2021: 157).

Geschlecht und Gesellschaft: Der Tenor aller Artikel: Das Private ist politisch.

Kim Posster charakterisiert diesen Zusammenhang von Geschlecht und Gesellschaft in einem im Buch dokumentierten Interview mit den Herausgebern des Sammelbandes:

„Deswegen wäre meine Frage immer, wie solch eine Art von Politik ‚radikale' feministische Bewegung und ‚radikale' feministische' Kritik mittragen und unterstützen kann. Da geht es nicht nur um ‚Fernziele', denn eine revolutionäre Perspektive ändert auch die konkrete Praxis im Hier und Jetzt. Zum Beispiel bei der Frage, wie geht man mit männlicher Identität um? Will man sie stärken oder ‚feministisch füllen' oder will man Verhältnisse schaffen, in denen sich die Scheißfrage: „Bin ich ein richtiger Mann" endlich erledigt hätte?"

Der Mitherausgeber des Buchs Daniel Holtermann fragt ihn: „Wie würde denn dein revolutionäres Ideal aussehen?"

Kim Posster: „[...] in Verhältnissen leben zu können, in denen Geschlecht als Herrschaftskategorie die Bedeutung verloren hat; Was etwas anderes ist als eine Flexibilisierung oder eine Pluralisierung dieser Herrschaft in bunte, vielfältige Identitäten. Es geht eben um die Überwindung der Herrschaftskategorie selbst. Und das können Individuen einfach nicht leisten. Mit keinem Ausmaß an ‚Auseinandersetzung' oder ‚Reflexion' ist das zu schaffen, sondern es müssen die gesellschaftlichen Mechanismen und Zusammenhänge verändert werden, die Menschen herrschaftsförmig vergeschlechtlichen und vor allem Männlichkeit als dominanteste Form dieser Vergeschlechtlichung hervorheben. Herumreflektieren reicht nicht dafür" (Pooster, 2021: 39).

Die vorgestellte Zitatfolge aus Artikeln verweist auf die Themenbreite des Sammelbandes und auf die Perspektive, wie und wieso aus der Sicht der Autoren:innen traditionelle Männlichkeit dekonstruiert werden sollte. Dabei postulieren die Autoren:innen des antipatriarchalen Netzwerks, dass sowohl auf die gesellschaftlichen Strukturen als auch auf die individuellen Phänomene geachtet werden müsse.

5. Schluss und Ausblick

Die mediale Verbreitung der rezensierten Texte in Printform ist – hinsichtlich der Anzahl der Exemplare – extrem unterschiedlich: Gemäß Verlagsangaben auf Anfrage per E-Mail werden im Springer Verlag – auch bezogen auf die Arbeiten von Andrä und Tietge – in der Regel Dissertationen mit einer 1. Auflage von 60 Stück gedruckt. Zudem verwies der Verlag auf die Vertriebspraxis: Print on Demand. Der Sammelband von Doppe und Holtermann wurde nach Aussage des UNRAST-Verlags mit 300 Exemplaren gedruckt. Bestseller und Bestreader sind die eingangs besprochen Bücher von Bola, Urwin und Leimbach mit mehreren zehntausenden Exemplaren – dabei führt Leimbach die Liste an mit etwa 40.000 Exemplaren. Ein Verlag antwortete, dass derlei Daten nur verlagsintern kommuniziert werden. Die Zahlen über die gedruckten Exemplare sind auch ein Brennglas zum Zusammenhang von Männlichkeit und Gesellschaft.

Und: Der Adressatenbezug der Männlichkeitsdiskussion ist – auch heute noch – zumeist einseitig. Das gilt für die Mehrzahl publizierter Studien zum Thema Männlichkeit – auch unabhängig von den hier besprochenen Büchern. Dieser Adressatenbezug zur Problembewältigung richtet sich an Männer. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess individuell verändern. Aber: Männlichkeit ist immer nur im Zusammenhang mit Weiblichkeit und in Bezug auf männlichkeitsgenerierende Normen und Institutionen der Gesellschaft angemessen zu reflektieren. Das heißt: das kritisierte Phänomen – ändern wollen sie es alle – kann überhaupt nicht hinreichend ohne die kontextualisierenden gesellschaftlichen Strukturen erörtert werden. Die häufig individualisierte Adressatenfixierung auf den Mann macht Defizite und Problemlagen nur an Individuen fest. Das ist eine Schreib- und Lesart, die strukturelle Kontexte traditioneller Männlichkeit weitgehend ausklammert. Hier liegen erhebliche Forschungsdesiderate vor. Erst allmählich (zögerlich) geraten soziale Institutionen, Subsysteme, Strukturen und gesellschaftliche Normen wie Normative in den Blick der kritischen Männlichkeitsforschung.

Literatur 1 APA GUIDELINES for Psychological Practice with Boys and Men, Washington 2018. 2 Judith Basad, Toxische Männlichkeit, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.1.2019. 3 Lothar Böhnisch, Der modularisierte Mann, Bielefeld 2018. 4 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn, Frankfurt a. M. 1993. 5 Der Spiegel, Schlaue Mädchen-Dumme Jungs, 2004, Nr. 21, 17.5.2004. 6 Harry Friebel, Von der hegemonialen Männlichkeit zur Parallelkultur von Männlichkeiten, Momentum, Linz Innsbruck University Press 2015. 7 Christian Grübler, Anreizwirkungen und Verteilungseffekte des Einkommensteuersplitting, München 2020. 8 Alfred Lorenzer, Tiefenhermeneutische Kulturanalyse, In: Alfred Lorenzer (Hg.), Ein historisch-materialistischer Entwurf, Frankfurt a. M. 1988. S. 11–98. 9 OECD, Programme for International Student Assessment (PISA), Paris 2000. Profeministische Akademie, Blogspot.de 2021. Christine Thürmer-Rohr, Mittäterschaft der Frau, Berlin 1989.

By Harry Friebel

Reported by Author

Titel:
Männlichkeit – ein weites Feld: Marcus Andrä, Die Konstruktion von Männlichkeit in kindheitspädagogischen Interaktionen. Eine videografische Studie in Kindertagesstätten, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, 531 S. J J Bola, Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist, München, Hanser Verlag 2020, 157 S.Blu Doppe
Verantwortlichkeitsangabe: Daniel Holtermann (Hrsg.), Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern. Kritische Reflexionen von Männlichkeiten, Münster: UNRAST Verlag 2021, 270 S.Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit leben. Die Stärkung des Maskulinen, Hamburg: Ellert & Richter Verlag (13. Auflage) 2020, 320 S.Björn Torsten Leimbach, Männlichkeit genießen. Die Freude am Maskulinen, Hamburg: Ellert & Richter Verlag (3. Auflage) 2019, 288 S.Ann-Madaleine Tietge, Make Love, don't Gender!? Heteronormativitätskritik und Männlichkeit in heterosexuell definierten Paarbeziehungen, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, 300 S.Jack Urwin, Boys don't cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit, Hamburg: Edition Nautilus Verlag 2017, 232 S
Autor/in / Beteiligte Person: Friebel, Harry
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 44 (2021-10-01), Heft 4, S. 550-562
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2021-0071
Schlagwort:
  • DIE Konstruktion von Mannlichkeit in kindheitspadagogischen Interaktionen (Book)
  • SEI kein Mann: Warum Mannlichkeit ein Albtraum fur Jungs ist (Book)
  • BOYS don't cry: Identitat, Gefuhl und Mannlichkeit (Book)
  • ANDRA, Marcus
  • BOLA, J. J.
  • URWIN, Jack
  • NONFICTION
  • Subjects: DIE Konstruktion von Mannlichkeit in kindheitspadagogischen Interaktionen (Book) SEI kein Mann: Warum Mannlichkeit ein Albtraum fur Jungs ist (Book) BOYS don't cry: Identitat, Gefuhl und Mannlichkeit (Book) ANDRA, Marcus BOLA, J. J. URWIN, Jack NONFICTION
  • Gleichstellung
  • Heteronormativität
  • Männlichkeit
  • Patriarchat Language of Keywords: German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Hamburg, WISO-Fakultät und ev. Fachhochschule Rauhes Haus, Hamburg Germany

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