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Leontiy, Halyna / Schulz, Miklas (Hrsg.), Ethnographie und Diversität. Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion. Wiesbaden: Springer VS 2020, 436 S., eBook. 42,99 €.

Greschke, Heike
In: Soziologische Revue, Jg. 44 (2021-10-01), Heft 4, S. 607-611
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Leontiy, Halyna / Schulz, Miklas (Hrsg.), Ethnographie und Diversität. Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion. Wiesbaden: Springer VS 2020, 436 S., eBook. 42,99 € 

Keywords: Diversität; Ethnographie; Reflexivität; Methodologie

Leontiy, Halyna / Schulz, Miklas (Hrsg.), Ethnographie und Diversität. Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion. Wiesbaden : Springer VS 2020, 436 S., eBook. 42,99 €

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die 2017 am Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen stattfand. Den Ausgangspunkt des Bandes bildet ein für die Sozialwissenschaften grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem und seine moralischen Implikationen, im Vorwort von Hotz-Davies und Ammicht-Quinn als „Gefahr" benannt, „die Kategorien, mit denen wir arbeiten und die wir scheinbar nur beobachten, durch unsere Forschungen sogar im Moment der kritischen Befragung in ihrer Existenz und Wirkmacht mitherzustellen oder gar zu zementieren" (V). Wie Forschende dieser Reifizierungsgefahr begegnen, soll im vorliegenden Band diskutiert werden. Hierzu werden insgesamt 16 Beiträge vorgelegt, die für unterschiedliche gesellschaftliche Felder Praxis und Theorie von Diversität ausleuchten und zugleich die eigene – ethnographische – Praxis und Theorie der Differenzierung und Kategorisierung reflektieren sollen. Die Autor:innen sind mithin dazu aufgefordert, ihre eigenen Methoden, Beobachtungs- und Benennungspraktiken daraufhin zu befragen, wie sie kategoriale Grenzen und Differenzen herstellen oder überschreiten und wie jene durch Unterscheidung produzierten Einheiten als miteinander relationiert in ein (wechselseitiges) Beobachtungsverhältnis rücken.

In der Einleitung nehmen die Herausgeber:innen den/die Lesende mit auf einen Streifzug durch die Diskursgeschichte des Diversitätskonzeptes (die leider in nachfolgenden Beiträgen einige Male wiederholt wird). Als Startpunkt werden soziale Bewegungen markiert, die Diversität als normativen Leitbegriff im Kampf gegen Diskriminierung etabliert haben. Diese moralische Konnotation wurde dann aber im Laufe der gesellschaftlichen Aneignung des Begriffs zunehmend durch eine ökonomische überlagert. Der Band will nun zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung des ökonomisch verengten Verständnisses von Diversität beitragen und greift dabei auf die Ethnographie zurück. Diversität wird hier als Perspektive für „die Beschreibung und Analyse sozialer Mehrfachzugehörigkeiten von Personen oder sozialen Gruppen" (7) definiert.

Das Buch verfolgt gleich drei Ziele. Es will erstens die kulturelle(n) Bedeutung(en) von Diversität als Praxis in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, einschließlich der Ethnographie, kritisch reflektieren. Es will zweitens das Potential der Ethnographie ausleuchten, Diversität als intersektionale Verflechtung verschiedener und gleichzeitig wirksamer Differenz- bzw. Zugehörigkeitskategorien zu untersuchen. Drittens strebt der Sammelband eine „methodisch-wissenschaftliche Reflexion und Begriffs- und Theorieschärfung" (7) an und verortet sich damit selbst als Beitrag zur Diversitätsforschung.

Vier der 16 nachfolgenden Beiträge versprechen unter der Überschrift „Konzeptionelle Grundlagen" Beiträge zum letztgenannten Ziel. Vier weitere Beiträge behandeln das Paradox der Differenzierung(snotwendigkeit) in Bildungsinstitutionen unter der normativen Maßgabe der Inklusion. Die übrigen acht Beiträge adressieren Interkulturalität im Zusammenhang mit Migration als Diversitätsphänomen bzw. körperbezogene Kategorien der Humandifferenzierung. Die Beiträge sind entweder stärker an der Diversitätspraxis des untersuchten Feldes oder der Reflexion der eigenen (ethnographischen) Unterscheidungspraxis interessiert.

Der Fokus des Bandes liegt, anders als der Titel erwarten lässt, deutlicher auf „Diversität" als auf „Ethnographie". So steht im ersten Themenschwerpunkt die Genese und transnationale Diffusionsgeschichte von Diversität im Spannungsfeld zwischen Förderung von Vielfalt und Standardisierung von Vielfaltsnormen im Fokus. Müller rekonstruiert anhand von Policy Dokumenten der Vereinten Nationen, ob und wie sich welche Personenkategorien als globale Normen etablieren und dabei einerseits Wertschätzung von Vielfalt befördert wird, gleichzeitig jedoch eine globale Vereinheitlichung erfolgt. Dies lässt sich für die Kategorien Geschlecht und Behinderung feststellen, für die Kategorie Rasse jedoch nicht, so Müller. Irritierend ist bisweilen die unbedachte Verwendung von Begriffen. So behauptet Müller „die Existenz rassifizierter distinkter Kollektive" (48) würde seit den 1950er Jahren infrage gestellt. Gemeint ist vermutlich, dass die Existenz von Rassen angezweifelt und Rassifizierung mithin als illegitime Art der Humandifferenzierung markiert wird. Dass sich die UN um die Etablierung „einer international vergleichbare[n] Rassenstatistik bemüht" (48) ist in diesem Zusammenhang äußerst erstaunlich. Denn im Sinne der Diversitätsnorm müsste ja weniger die „rassifizierte Sortierung" (48) von Menschen, als die statistische Erfassung der benachteiligenden Effekte von Rassifizierung Ziel der UN sein. Dass damit ein Paradoxieproblem einhergeht, das dem gesamten Diversitätsdiskurs anhaftet, bleibt unbenommen und motiviert ja gerade das vorliegende Buch. Es hätte insofern in dem Beitrag wenigstens eine Randbemerkung verdient. Der Beitrag von Bührmann widmet sich der Diffusionsgeschichte des Diversitätsmanagements. Zur Erforschung des Zusammenspiels zwischen lokaler Aneignung und globaler Diffusion von Diversitätsmanagementkonzepten schlägt die Autorin eine reflexive Diversitätsforschung vor. Diese solle ethnographisch inspiriert sein und „das eigene Forschen als performative Praxis" (62) in die Analyse einbeziehen. Näher erläutert werden diese methodologischen Selbstansprüche jedoch leider nicht. Braun und Franke plädieren in ihrem Beitrag dafür, transnationale Mehrfachzugehörigkeit als eine weitere Dimension von Diversität anzuerkennen und lenken den Blick auf das Subjekt als Träger von diversen Zugehörigkeiten. Auch hier ist der Bezug zwischen postulierter „postkolonialer Ethnographie" und dem untersuchten Fall (die Kritik an dem Fußballspieler Mesut Özil, der sich mit Erdoğan fotografieren ließ) nicht offensichtlich. Martins de Menezes arbeitet den paradoxen Charakter von Diversität im Sinne der gleichzeitigen Förderung und Standardisierung von Vielfalt (begrifflich nicht ganz zutreffend als Oxymoron bezeichnet) sehr überzeugend heraus und illustriert sein Argument an der Genese des Genres „Weltmusik".

Im nachfolgenden Themenschwerpunkt werden vier ethnographische Studien präsentiert, welche die Herstellung von und den Umgang mit Differenz in inklusiven Bildungskontexten untersuchen. Diversität und Inklusion, so lässt sich hier schlussfolgern, haben in der pädagogischen Praxis widersprüchliche Wirkungen. So erzeugt die Organisation von Inklusion nicht nur neue Kategorien der Humandifferenzierung („I-Kind"), sondern auch interne Ausschlüsse der so bezeichneten Kinder vom Unterrichtsgeschehen („Auszeiten"). Der dritte Abschnitt des Bandes adressiert Diversität im Sinne ethno-natio-kultureller Verschiedenheit. Hier stehen nun methodologische Fragen im Mittelpunkt. Während Reichertz allgemeine Postulate für die qualitative Sozialforschung im Umgang mit „interkulturellen Daten" (240) aufstellt und dabei das erkenntnisfördernde Potential von Diversität in Forschungsteams hervorhebt, zeigt Aivazishvili-Gehne wie sich Ethnizität ethnographisch als Herstellungsleistung von Mehrfachzugehörigkeit in einem Grenzraum untersuchen lässt. Geier et al. loten die Erkenntnismöglichkeiten ethnographischer Teamforschung aus und schlagen ein „meta-ethnographisches Vorgehen" (290) vor, das die Perspektivendifferenz von Beobachtenden durch systematische Protokollvergleiche produktiv nutzt, um den jeweiligen Beobachtungsfokus und die Beschreibungssprache mit der sozialen Position und dem Erfahrungshintergrund der Beobachtenden zu relationieren. Sie kommen zu dem erhellenden Schluss, „dass das Risiko einer ethnisierenden oder kulturalisierenden subsumtionslogischen Interpretation dann besonders hoch ist, wenn religiöse oder kulturelle Differenzkategorien auf dieser Ebene als analytische Kategorien herangezogen werden, um die Praktiken im Feld zu beschreiben" (303). Geht man also mit einem Hammer ins Forschungsfeld, wird man überall Nägel finden, die es einzuschlagen gilt. Diese Einsicht ist für sich gesehen nichts Neues, jedoch ermutigen dieser, wie auch der folgende Beitrag von Leontiy dazu, sich als Ethnograf:in nicht nur im Feld involvieren zu lassen, sondern diese Involvierung systematisch in der Analyse als Erkenntnisressource zu nutzen und auch im Forschungsbericht die eigene Präsenz im Feld selbstbewusst (im Wortsinne) zu vertreten. Leontiy setzt dabei auf die Analyse des „Erstkontakts" und transformiert methodische Probleme des Feldzugangs methodologisch in eine Wissensquelle über das Feld. In beiden sowie auch in den nachfolgenden Beiträgen des vierten Themenschwerpunkts stehen die Forschersubjekte und ihre Selbst- und Fremdpositionierungen im Forschungsfeld im Fokus der Analyse. Sie tragen mithin autoethnographische Züge, die genutzt werden, um Differenzierungspraktiken und ihre Effekte gewissermaßen am ‚eigenen Leib' nachzuvollziehen.

Das vorliegende Buch deckt das Feld der Diversitätsforschung in großer Breite ab und bietet durch seine ethnographische Fallstudienorientierung aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln Einblicke in divergente gesellschaftliche Teilbereiche. Es offeriert zudem innovative methodische Zugänge und anregende methodologische Überlegungen, wenngleich diese nicht durchgängig gut ausgearbeitet und erprobt erscheinen. Die zentrale Zielsetzung des Buches, die Praxis der Ethnographie mit der Praxis der Diversität in ein reflexives Beobachtungsverhältnis zu bringen, gelingt daher nicht ganz. Die Bezüge zur Ethnographie fehlen in einigen Beiträgen gänzlich, in anderen scheinen sie eher der Konzeption des Buches, als dem Untersuchungsgegenstand geschuldet zu sein. Auch der Grad der methodologischen Reflexion unterscheidet sich in den Beiträgen stark. In manchen werden ethnographische Methoden schlicht angewendet, in anderen wird die Zielsetzung des Buches, die eigene ethnographische Praxis auf ihre Modi der Differenzierung zu beleuchten, sehr produktiv umgesetzt.

Gemessen an den formulierten Ansprüchen hätte man sich von der Konzeption des Bandes durchaus ein konsequenteres Mehr an Reflexivität gewünscht. Während eine reflexive Grundhaltung an einigen Stellen durch Sprachspiele begrifflicher Spiegelung (z. B. im Untertitel: „Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion") performativ in Szene gesetzt wird, orientiert sich die Gliederung des Bandes an etablierten Kategorien der Differenzierung und fällt damit hinter den pointierten Selbstanspruch an (kritischer) Reflexivität zurück. So erinnert die Einteilung der Beiträge in „konzeptionelle Grundlagen" einerseits und „Bereiche" der Diversität andererseits doch sehr stark an die für die Moderne Wissenschaft konstitutive Differenzierung in Theorie und Praxis. Durch die Bezeichnung selbst („Grundlagen" vs. „Bereiche") und die chronologische Anordnung der Abschnitte (Grundlagen als Rahmen für die Bereiche) wird zudem eine asymmetrische Ordnung nahegelegt, in der die „Grundlagen" eine im Vergleich mit den bereichsspezifischen Beiträgen größere Reichweite bzw. einen allgemeineren Geltungsanspruch für sich reklamieren können. Dass diese Differenzierung fragwürdig ist, zeigt sich dann auch sehr klar an den Texten. Die sogenannten Grundlagentexte sind bei genauerer Betrachtung nicht weniger fallspezifisch als die übrigen Texte, nur dass die untersuchten Felder selbst eine globale (geographische) Reichweite bzw. Geltung für sich beanspruchen.

Auch die Unterscheidung der Themenschwerpunkte folgt mit Ausnahme des zweiten Abschnitts, der einen Funktionsbereich von Gesellschaft adressiert, bekannten Kategorien der Diversität (natio-ethnische Kultur, Körper, Geschlecht, Behinderung) und trägt damit zu deren Reifizierung bei. Eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der gewählten Gliederung des Buches, als Ergebnis der eigenen wissenschaftlichen Praxis der Kategorisierung hätte entsprechend der Zielsetzung des Bandes nicht nur nahegelegen, sondern sicher auch zur Begriffs- und Theorieschärfung der Diversitätsforschung beigetragen.

By Heike Greschke

Reported by Author

Titel:
Leontiy, Halyna / Schulz, Miklas (Hrsg.), Ethnographie und Diversität. Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion. Wiesbaden: Springer VS 2020, 436 S., eBook. 42,99 €.
Autor/in / Beteiligte Person: Greschke, Heike
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 44 (2021-10-01), Heft 4, S. 607-611
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2021-0076
Schlagwort:
  • ETHNOGRAPHIE und Diversitat: Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion (Book)
  • LEONTIY, Halyna
  • SCHULZ, Miklas
  • ETHNOLOGY
  • NONFICTION
  • Subjects: ETHNOGRAPHIE und Diversitat: Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion (Book) LEONTIY, Halyna SCHULZ, Miklas ETHNOLOGY NONFICTION
  • Diversität
  • Ethnographie
  • Methodologie
  • Reflexivität Language of Keywords: German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Professur für Soziologischen Kulturenvergleich und Qualitative Sozialforschung, Technische Universität Dresden, Germany

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