Keywords: Lehre; Einführung; Wissenschaftliches Schreiben
Hans Joas / Steffen Mau (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Frankfurt am Main / New York : Campus 2020, 992 S, gb., 49,95 €
In seiner weit über die Soziologie hinaus bekannten Studie „Wir alle spielen Theater" formuliert Erving Goffman – neben vielen weiteren instruktiven Einsichten in den dramatischen Charakter sozialer Interaktion – die Grundzüge einer Theorie des Ensembles. Er versteht darunter „eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muß, wenn eine bestimmte Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll" ([
Das Ensemble, um das es auf den folgenden Seiten gehen soll, umfasst 41 Personen, darunter Dieter Geulen und Hartmut Häußermann, die bereits verstorben sind. In dieser Besetzung spielt es zum ersten Mal zusammen, wohingegen das Stück, das sie aufführen, schon älteren Datums ist. Das „Lehrbuch für Soziologie" geht mittlerweile in seine vierte Spielzeit (2001, ebenfalls 2001 als Studienausgabe, grundlegend überarbeitet 2007 und nun 2020). Das grundsätzliche Thema ist über die Jahre im Grunde dasselbe geblieben. Es geht um „einen leicht verständlichen Überblick über das Fach", das einerseits faszinierend sei und einen „Reichtum seriöser [...] Forschung und Theoriebildung" vorzuweisen habe, andererseits der interessierten Öffentlichkeit „ein verwirrendes Bild" biete (Vorwort der Herausgeber, 5). Es handelt sich hier letztlich um den zentralen Konflikt, der das Drama antreibt: Das unverstandene Bürgerkind aus gutem Hause, das auch auf der Straße mitspielen möchte.
Dramaturgie, Umfang und Inhalt sowie Regie und Besetzung haben sich gleichwohl verändert, wenngleich nur moderat. 2020 gibt es keine Akte mehr wie noch 2007 (von „I. Das Wissen von der Gesellschaft", über „II. Das Individuum und die Gesellschaft", „III. Differenz und Ungleichheit" und „IV. Gesellschaftliche Institutionen" bis hin zu „V. Sozialer Wandel und Globalisierung"), sondern nur noch nun insgesamt 27 Aufzüge, drei mehr als noch in der vorherigen Spielzeit. Dazu zählt zum einen der neue Epilog „Das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten in der Soziologie" von Ruth Manstetten sowie die Szene „Digitalisierung", die Philipp Staab gestaltet. Den alten Monolog „Methoden der Sozialforschung" haben zwei neue Szenen abgelöst, „Quantitative Sozialforschung" (Thomas Hinz) und „Qualitative Sozialforschung" (Udo Kelle) – die allerdings nicht dialogisch angelegt sind. Ein Gesamtglossar rundet den Band ab, dafür sind die Literaturangaben nun direkt den einzelnen Aufzügen zugeordnet, was aus meiner Sicht wesentlich publikumsfreundlicher ist.
Die Regiearbeit teilen sich nun Hans Joas, der das Stück bisher allein verantwortete, und Steffen Mau, der, wenn man so will, eine jüngere Generation von Soziologinnen vertritt, die momentan vielerorts in Amt und Würden ist. Beide stammen aus dem Berliner Milieu soziologischer Performativität und bespielen derzeit die Humboldt Universität – wobei man Joas, was Berlin betrifft, eher mit einer anderen Bühne verbindet, an der er 1979 promovierte (Joas, 1980) und zwischen 1990 und 2002 als Professor wirkte, der Freien Universität. Dort kam das „Lehrbuch für Soziologie" auch zum ersten Mal auf den Spielplan, als eine Adaption des amerikanischen Stücks „Sociology", das Craig Calhoun, Donald Light und Suzanne Keller (1994) zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach inszeniert hatten. Das Ensemble insgesamt ist, wen wundert es, jünger geworden. Es überwiegen nun die 1960er-Jahrgänge (+/- einiger Jahre) gegenüber den in und rund um die 1940er Jahre Geborenen. Manche Szenen werden nun durch ein Tandem aus älteren und jüngeren Kollegen präsentiert (z. B. Karl-Siegbert Rehberg und Stephan Moebius über „Kultur"), bei manchen haben die Jüngeren übernommen (z. B. Anja Steinbach und Karsten Hank über „Familie"), bei anderen sind dagegen die Älteren weiter unter sich (z. B. Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt über „Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen")
Während sich Änderungen somit eher im Detail finden, ist das Ensemble durch einen stärkeren Generationswechsel geprägt. Es wäre allerdings eine voreilige „Übergeneralisierung" (Walter R. Heinz und Reinhold Sackmann, „Der Lebenslauf", 246 – die beiden setzen sich hier kritisch mit der Rede von „den Babyboomern" auseinander), die in sozialer und in sachlicher Hinsicht leicht modifizierte Neuinszenierung des Lehrbuchs schlicht als Generationswechsel zu begreifen oder die Modifikationen sogar auf einen solchen zurückzuführen. Dass Personen ähnlichen Jahrgangs sind, macht aus ihnen noch keine Generation, wie Heinz und Sackmann Lebenslauf-soziologisch betonen.
Nach meinem Eindruck ist der Charakter des Stücks eh weniger durch die Einzeldarsteller und ihre mit soziodemografischen Merkmalen skizzierbare Stellung zueinander geprägt als vielmehr durch die gewählte Form der Inszenierung. Sicher, es zeichnen sich neben den beiden Jahrgangs-Clustern weitere Muster ab, darunter eine auch zwischen der 2007er- und 2020er-Fassung recht stabile Ratio zwischen denjenigen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Frau bzw. als Mann verstehen. Waren 2007 noch sechs von 32 Ensemblemitgliedern weiblich (oder 18,75 %), sind es nun acht von 41 (19,51 %). Oder dass Frauen weiterhin erst vergleichsweise spät die Bühne betreten (2007 im neunten von 24 Aufzügen, 2020 im zwölften von 26 – Prologe und Epilog jeweils nicht mitgerechnet). Oder dass niemand, für mich zumindest nicht erkennbar, eine nennenswerte inter- oder transkulturelle Migrationserfahrung jenseits von Westeuropa und Nordamerika hat, abgesehen von solchen zwischen Lehrstühlen. Aber durch diese Mustererkennung ist noch nicht viel gewonnen, um Stück und Aufführung zu würdigen.
Goffmans Ensemble-Theorie trägt glücklicherweise eine hilfreiche Alternative zu einer vergleichenden Betrachtung von Ensemblemitgliedern oder ihrer Beschreibung als Gruppe in sich. Er meint nämlich, dass „das gesamte Ensemble [...] einen bestimmten Eindruck entstehen [läßt], der für sich allein als drittes Phänomen zwischen der Einzeldarstellung einerseits und der Gesamtinteraktion der Gruppe andererseits betrachtet werden kann." ([
Vor diesem Hintergrund darf man Ensemblebildung und Aufführung als durchaus gelungen betrachten, nicht zuletzt weil die Beteiligten ihr Handwerk verstehen. Alle ziehen an einem Strang, um den Eindruck einer Situation der Soziologie zu vermitteln, die methodisch in ein „Quanti"- und ein „Quali"-Lager zerfällt und in Spezialthemen aufgegliedert ist, die nur lose miteinander verbunden sind. In dieser Perspektive ist die Soziologie zudem ein Wissensbestand, der sich zu pointierten Aussage-Clustern verdichten lässt, die sich üben und abfragen lassen. (Dazu ist übrigens auch das Begleitheftchen gedacht, das dem Publikum unter
Gut, dramentheoretisch gesehen ist festzuhalten, dass von Seiten der Regie keine Höhepunkte im Stück vorgesehen sind – wo sich jeweils eine besondere Spannung einstellt, liegt dadurch im Auge der Betrachterin. So halte ich persönlich Ruchts und Neidhardts Erörterungen zu sozialen Bewegungen weiterhin für einen Text, den man allen Studierenden getrost in die Hand drücken sollte, um in dieses Forschungsfeld einzusteigen – wobei ich mich weiterhin frage, warum der letzte große theoretische Wurf in diesem Forschungsfeld, der unter der Kurzformel „contentious politics" ([
Die Inszenierung des „Lehrbuchs der Soziologie" ist vor diesem Hintergrund eine Spielart des Brecht'schen epischen Theaters. Die Position, die diese Darstellungsform dem Publikum abverlangt, ist „eine überlegte, damit entspannte, kurz gesagt: die von Interessenten" – sie zielt auf ein Kollektiv derjenigen ([
In der aktuellen Inszenierung des Lehrbuchs findet sich mittlerweile ein Foto von W.E.B. Du Bois. Über ihn schrieb Hans Joas schon in der dritten Aufführung, dass er der prominenteste Vertreter derjenigen schwarzen Intellektuellen und Aktivisten sei, deren Beitrag zur Soziologie stärker berücksichtigt werden müsse (Joas, 2007: 36). In der 2020er Neuaufführung erklärt Joas ihn zwar nun ebenfalls zu einem derjenigen, die neben den „Klassikern der Soziologie" (u. a. Durkheim, Weber und Mead) zum „Charakter des Projekts ‚Soziologie'" beigetragen haben (
Dezentrierung könnte dann auch bedeuten, nicht mehr der gern gepflegten Quali/Quanti-Dichotomie in der Sozialforschung auch noch Vorschub zu leisten, indem man ihnen jeweils ein eigenes Kapitel einräumt. Komparative Ansätze, historisch-soziologische Herangehensweise und das innovative Potenzial von „fraktalen" Quali-Quanti-Verknüpfungen ([
By Thomas Hoebel
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