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Soziologie in Belgien.

Wagner, Gerhard
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( KZfSS), Jg. 73 (2021-09-01), Heft 3, S. 471-472
Online review

Soziologie in Belgien  Vanderstraeten, Raf, und Kaat Louckx:

Sociology in Belgium. A Sociological History. London: Palgrave Macmillan 2018. 133 Seiten. ISBN: 978-1-137-5566‑2. Preis: € 49,99.

Die Geschichte der Soziologie in Belgien ist noch nicht geschrieben. Raf Vanderstraeten (Universiteit Gent) und Kaat Louckx (Universität Bonn) möchten diese Lücke schließen. Ihre Geschichte soll soziologisch sein, weil sie die gesellschaftlichen Bedingungen expliziert, die die Entstehung und Entwicklung der Soziologie in Belgien seit den Zeiten Adolphe Quetelets bestimmen. Mit ihrer Studie möchten sie zugleich eine neue, die soziologische Fantasie beflügelnde Art der Soziologiegeschichtsschreibung ausprobieren.

Die gesellschaftlichen Bedingungen in Belgien lassen sich im Wesentlichen auf einen Begriff bringen, den der Versäulung (Verzuiling). Versäulung bedeutet, dass sich eine Gesellschaft aus Segmenten zusammensetzt, die sich aufgrund bestimmter Faktoren voneinander isolieren. In Belgien, das 1830 als parlamentarische Erbmonarchie entstand, waren diese Faktoren politisch relevante Weltanschauungen und Sprachen. Vom 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts standen sich Katholiken, Liberale und Sozialisten wie Säulen gegenüber, wie ein von den Autoren zitierter Zeitgenosse schilderte: „There is extraordinary little social intercourse between Catholics and Liberals, and practically none between Catholics and Socialists. Politics enter into almost every phase of social activity and philanthropic effort, and it is the exception, rather than the rule, for persons holding different political opinions to co-operate in any other matter. Thus, in one town there will be a Catholic, a Liberal, and a Socialist trade union, a Catholic, a Liberal, and a Socialist co-operative bakery, a Catholic, a Liberal, and a Socialist thrift society all catering for similar people, but each confining its attention to members of its own political party. The separation extends to cafés, gymnasia, choral, temperance, and literary societies, indeed it cuts right through life" (S. 73). Davon bildeten die wissenschaftlichen Institutionen keine Ausnahmen. Die Katholiken hatten ihre Lehrstühle an der Katholischen Universität Löwen, die Liberalen und Sozialisten an der Freien, später Neuen Universität Brüssel. Diesen Säulen entsprechend wurde die Soziologie an diesen und den staatlichen Universitäten in Lüttich und Gent als katholische, liberale oder sozialistische Wissenschaft institutionalisiert. Mitte des 20. Jahrhunderts begann im Konflikt zwischen den niederländisch sprechenden Flamen und den französisch sprechenden Wallonen der sprachliche Faktor den weltanschaulichen zu überformen, was sich aber weniger separierend auf die Entwicklung der Soziologie auswirkte. Eingedenk dieser Versäulung liefern die Autoren ein facettenreiches Bild der Institutionen der Soziologie in Belgien vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, wobei sie dem Publikationsverhalten in seiner Provinzialität besonders breiten Raum geben. Ihr Fazit lautet: „Sociology in Belgium is highly fragmented. But an applied, policy-directed orientation is dominant, albeit in different ways in the different sociological worlds within Belgium" (S. 129).

Die Autoren liefern in kompakter Kürze eine umfassende und sehr informative Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der Soziologie in Belgien. Die Anwendung des Konzepts der Versäulung auf das belgische Wissenschaftssystem ist ebenso naheliegend wie plausibel, hätte aber systematischer umgesetzt werden können. Anstatt peu à peu in den Kapiteln über Religion (Kap. 2) und Sprache (Kap. 3) hätte es schon im ersten Kapitel „Sociology in Belgium" eingeführt werden können. Seine strukturierende Bedeutung wäre dem Leser dadurch nachvollziehbarer gewesen, zumal die Hinzufügung eines vierten, nur dem Publikationsverhalten gewidmeten Kapitels es zudem erschwert, die Systematik der Studie zu erfassen. So erscheinen die Kapitel mit ihren separaten Abstracts und Keywords selbst etwas versäult.

Alles in allem bietet das Buch eine solide wissenschaftssoziologische Rekonstruktion der Geschichte der Soziologie in Belgien, deren Mehrwert für die Soziologiegeschichtsschreibung und soziologische Fantasie allerdings nicht recht deutlich wird. Im Epilog (Kap. 5) findet sich dazu nichts, was doppelt schade ist, denn die spezifische Situation der Soziologie in Belgien lässt sich durchaus als Brennglas der Soziologie insgesamt begreifen. Was ist sie als sogenannte multiparadigmatische (multi-paradigmatic) Wissenschaft anderes als eine multipel versäulte (multi-pillarized) Disziplin, in der Weltanschauungen seit jeher der Kommunikation und dem wissenschaftlichen Fortschritt im Wege stehen? Das Konzept der Versäulung wäre für die Selbstreflexion der Soziologie also noch zu entdecken, zumal es sich offenbar auch als allgemeines sozialstrukturelles Analyseinstrument empfiehlt.

By Gerhard Wagner

Reported by Author

Gerhard Wagner Prof. Dr., Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Wissenschaftstheorie am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt (a. M.). Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Wissenschaften, Soziologische Theorie, Geschichte der Soziologie. Aktuelle Publikation: Typicality and Minutis Rectis Laws: From Physics to Sociology. Journal for General Philosophy of Science 51, 2020.

Titel:
Soziologie in Belgien.
Autor/in / Beteiligte Person: Wagner, Gerhard
Link:
Zeitschrift: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( KZfSS), Jg. 73 (2021-09-01), Heft 3, S. 471-472
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0023-2653 (print)
DOI: 10.1007/s11577-021-00800-9
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60629, Frankfurt a. M., Deutschland
  • Full Text Word Count: 705

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