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Musik und Gedächtnis.

Wetzel, Dietmar J.
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( KZfSS), Jg. 73 (2021-09-01), Heft 3, S. 457-460
Online review

Musik und Gedächtnis  Jost, Christofer, und Gerd Sebald (Hrsg.):

Musik – Kultur – Gedächtnis. Theoretische und analytische Annäherungen an ein Forschungsfeld zwischen den Disziplinen. Wiesbaden: Springer VS. 317 Seiten. ISBN: 978-3-658-29608‑7. Preis: 64,99 €.

Dass es sich bei einer relational angelegten Betrachtung von Musik – Kultur – Gedächtnis um ein äußerst ambitioniertes und lohnendes Unterfangen handeln könnte, versucht der von Christofer Jost (Freiburg) und Gerd Sebald (Nürnberg-Erlangen) herausgegebene Band „Musik – Kultur – Gedächtnis. Theoretische und analytische Annäherungen an ein Forschungsfeld zwischen den Disziplinen" zu demonstrieren. Der Band, der in der interessanten Reihe „Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies" erschienen ist, geht auf eine gemeinsame Tagung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) der Universität Freiburg und des Arbeitskreises Gedächtnis-Erinnern-Vergessen der Sektion Wissenssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zurück.

Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung bemerken, schlagen sie eine doppelte Perspektivierung der Thematik vor: Erstens ist Musik „immer eine soziale bzw. soziokulturelle Form oder, wie das Adorno formuliert, ihr ‚eignet ein kollektiver Gehalt: jeder Klang allein schon sagt Wir (Adorno 1997a, 18)'" (S. 14). Jedes Musikstück steht in einem je spezifischen kulturellen Kontext und muss dementsprechend aus diesem heraus auch interpretiert und in den zeitgeschichtlichen Horizont eingeordnet werden. Zweitens ist Musik „immer ein zeitlicher Ablauf, ein mehr oder weniger komplexer Strom von Tönen. Deshalb ist sie eng mit unterschiedlichen Formen von Gedächtnissen verbunden" (S. 14). Jede musikalische Darbietung ist gedächtnishaft organisiert und als wesentlich temporale Kunstform ist jede ästhetische Erfahrung von Musik konstitutiv auf Gedächtnisleistungen angewiesen. In diesem Kontext sind weitere Dimensionen subjektiver und sozialer Zeit involviert: „die Geschichtlichkeit der einzelnen Stücke bzw. Werke selbst, die soziokulturelle zeitliche Lagerung von Ordnungsprinzipien wie Gattungen, Kunstformen, Stilen etc., der Wandel von basalen Formen des Musikmachens" (Klappentext).

Der Sammelband enthält eine kurze Einleitung der beiden Herausgeber sowie zum einen sechs Beiträge, die in einem ersten Teil als „theoretische Überlegungen" überschrieben sind, zum anderen sieben Aufsätze, die als „analytische Betrachtungen" gerahmt werden. Es ist besonders erwähnenswert, dass der Text „Das kollektive Gedächtnis in der Gruppe der Musiker" (orig. 1939) des französischen Klassikers der Gedächtnissoziologie Maurice Halbwachs Eingang in den Band gefunden hat – und das in einer gelungenen Übersetzung von Ingrid Nassios. Halbwachs, der die musikalischen Erinnerungen von Noten Lese- und Nichtlesefähigen unterscheidet, arbeitet vor allem den zeitlichen Aspekt der Musik in Verbindung mit dem kollektiven Gedächtnis heraus: Musik sei eine besondere Kunst, „da sie sich vollständig in der Zeit entfaltet, sich an nichts Bleibendes bindet und da man sie, um ihrer habhaft zu werden, stets von Neuem hervorbringen muss. Es gibt daher kein Beispiel, an dem man nicht deutlicher erkennen könnte, dass eine große Menge Erinnerungen mit all ihren Nuancen bis hin zum kleinsten Detail nur dann bewahrt werden kann, wenn alle Ressourcen des kollektiven Gedächtnisses eingesetzt werden" (S. 57).

An Halbwachs anschließend beschreibt Gerd Sebald in seinem instruktiven Beitrag die Unterschiede von Musik und Gedächtnis in den Werken von Maurice Halbwachs und Alfred Schütz. Thorsten Benkel beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit Einschreibungs- und Koordinationspraktiken in puncto Körper und Gedächtnis, wobei er überzeugend vor allem die häufig vergessene „Körperlichkeit der Musik" betont. Das für den Band zentrale Thema zum Verhältnis von Musik, Zeit und Gedächtnis ist Gegenstand der Arbeit von Timo Fischinger. Zeit strukturiert als Ordnungsprinzip die Wahrnehmung, aber auch Wahrnehmungsprozesse sind wiederum zeitkritischen Grenzen unterworfen. Eine anregende theoretische Skizze im Hinblick auf eine erinnerungskulturelle Dimensionierung musikalischer Praktiken liefert Jens Wietschorke anhand der Dimensionen Raum, Körper und Emotion. Den ersten Teil des Bandes beschließt Kathrin Dreckmann mit Überlegungen zum akustischen Gedächtnis und den medialen Ordnungen des Speicherns und Übertragens. Sie begreift diese als eine Vorstudie zu einer zu schreibenden Geschichte sozialer Resonanz.

Die „analytischen Betrachtungen" eröffnet Christofer Jost, indem er über kulturelle Bekenntnisse, Selbstthematisierung und den „Erlösungs-Diskurs" in der populären Musik räsoniert. Oliver Dimbath gelingt es, in Anlehnung an Gabriel Tardes Überlegungen zu Wiederholung und Differenz Coverversionen gedächtnissoziologisch zu erschließen. Andreas Fischer und Daniel Dravenau zeigen eindrücklich die Verwicklungen der Stilrichtung des Country-Rap in nostalgische, dystopische und klassenunbewusste Diskurse sowie deren Praktiken. Filmische Musikdokumentationen von Jugend- und Musikkulturen untersucht Carsten Heinze mit dem Schwerpunkt auf Pop und Rock im aktuellen dokumentarfilmischen Diskurs. Dessen Tendenz zur Heroisierung von Musikerinnen und Musikern, aber auch die Gestik des Konservierens in Zeiten beschleunigten Wandels, betrachtet er kritisch. Cristina Pileggi beschäftigt sich anhand des Fallbeispiels „40 Years of Hip-Hop" mit dem Musikvideo-Mashup und der Frage, wie die Digitalisierung das Erinnern des Alten im Neuen nicht nur verändert, sondern gleichsam überschreibt. Den ambivalenten Erfolgen der Maloya-Musik der Insel La Réunion, genauer unter dem Titel „Von der Batarsité zum Welterbe", spürt der Beitrag von Carsten Wergin nach. Der ursprünglich von Sklaven auf die Insel gebrachten Musik Maloya drohe die Gefahr, zu einem „leblosen" Kulturerbe zu verkommen. Den Band schließt ein englischer Beitrag von Karen Painter zum Thema „Music and Memory on Volkstrauertag/Heldengedenktag". Überzeugend rekonstruiert sie, wie es dem nationalsozialistischen Deutschland gelang, die beiden Feiertage zu instrumentalisieren und ins kollektive Gedächtnis so einzuschreiben, dass Opferfreude und Patriotismus das Gedenken an gefallene Soldaten im wahrsten Sinne des Wortes „übertönen" konnten. Diese kurze Übersicht verdeutlicht die Vielfältigkeit und Interdisziplinarität der gewählten Themen und Aspekte.

Fazit: Bei dem Band handelt es sich um eine durchgängig anregende und vielseitige Auseinandersetzung mit dem bekanntermaßen weiten Feld Musik – Kultur – Gedächtnis. Die Heterogenität der Beiträge ist kein Nachteil, sondern verdeutlicht vielmehr die unterschiedlichen disziplinären und inhaltlichen Zugriffsweisen der beteiligten Autorinnen und Autoren. Wünschenswert wäre gewesen, dass die Herausgeber eine etwas ausführlichere Einleitung verfasst hätten. Alternativ hätte eine Schlussbemerkung im Sinne eines Fazits die Möglichkeit geboten, die versammelten Beiträge auf ihre Erträge kritisch zu sichten und in relationaler Perspektivierung in die Begriffe/Konzepte Musik – Kultur – Gedächtnis einzuordnen. Dies hätte den überaus instruktiven und meistens gut lesbaren Band gleichsam abgerundet und nochmals neue, gebündelte Perspektiven auf ein weiter zu erkundigendes Forschungsfeld eröffnet.

Funding

Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.

By Dietmar J. Wetzel

Reported by Author

Dietmar J. Wetzel Professor für Sozialwissenschaften der MSH Medical School Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnissoziologie, Resonanz- und Körpersoziologie, Nachhaltigkeits- und Gesundheitssoziologie. Aktuelle Publikationen: Transformative Communities as Alternative Forms of Life? Conceptual Reflections and Empirical Findings (Co-Housing in Switzerland). In: Th. Claviez, K. Imesch u. B. Sweers (Hrsg.): Critique of Authenticity. Wilmington 2020; Metamorphosen der Macht. Soziologische Erkundungen des Alltags. Norderstedt 2019.

Titel:
Musik und Gedächtnis.
Autor/in / Beteiligte Person: Wetzel, Dietmar J.
Link:
Zeitschrift: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( KZfSS), Jg. 73 (2021-09-01), Heft 3, S. 457-460
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0023-2653 (print)
DOI: 10.1007/s11577-021-00801-8
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Fakultät Humanwissenschaften, MSH Medical School Hamburg - University of Applied Sciences and Medical University, Am Kaiserkai 1, 20457, Hamburg, Deutschland
  • Full Text Word Count: 1039

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