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Bernd Braun und Ulrike Hörster-Philipps, In jeder Stunde Demokratie. Joseph Wirth (1879–1956). Ein politisches Porträt in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von der Joseph-Wirth-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit der Stadt Freiburg, Freiburg i.Br.: Modo 2016, 216 S., EUR 49,00 [ISBN 978‑3‑86833‑159‑2]

Storkmann, Klaus
In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-11-01), Heft 2, S. 385-387
Online review

Bernd Braun und Ulrike Hörster-Philipps, In jeder Stunde Demokratie. Joseph Wirth (1879–1956). Ein politisches Porträt in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von der Joseph-Wirth-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit der Stadt Freiburg, Freiburg i.Br.: Modo 2016, 216 S., EUR 49,00 [ISBN 978‑3‑86833‑159‑2] 

Bernd Braun und Ulrike Hörster-Philipps, In jeder Stunde Demokratie. Joseph Wirth (1879–1956). Ein politisches Porträt in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von der Joseph-Wirth-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit der Stadt Freiburg, Freiburg i.Br.: Modo 2016, 216 S., EUR 49,00 [ISBN 978‑3‑86833‑159‑2]

Bundeskanzler Joseph Wirth? Den kennt die Geschichte nicht. Da war Konrad Adenauer, sein langjähriger persönlicher und politischer Gegenspieler im eigenen Lager, davor. Wohl aber kennt die Geschichte den Reichskanzler und mehrfachen Reichsminister Wirth. Im Mai 1921 übernahm Reichsfinanzminister Wirth die Kanzlerschaft in schwieriger Zeit. Innerparteilich war der damalige Kölner Oberbürgermeister und Vorsitzende des preußischen Staatsrats Adenauer sein direkter Gegenkandidat. Es war der Beginn einer persönlichen Gegnerschaft, die Wirths gesamtes weiteres Leben prägte und bei der es auch und nicht zuletzt um die politische Ausrichtung des Zentrums und des politischen Katholizismus ging. Wirth plädierte als Vertreter des linken Parteiflügels stets für eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie. Er war zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme mit erst 41 Jahren der bis heute jüngste Kanzler an der Spitze einer deutschen Regierung. In seine (für Weimarer Verhältnisse beachtliche) achtzehnmonatige Kanzlerschaft fielen der Vertrag von Rapallo und damit die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion im April 1922, aber auch der Mord an Reichaußenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922.

Wirths Reichstagsrede am Tag nach dem Mord war zweifellos eine der, wenn nicht die heute noch bekannteste Rede aus der Weimarer Zeit. Sie findet sich auch in dem Buch wieder, allerdings nur als Auszug: An seinem Platz auf der Regierungsbank stehend nach rechts, zu den Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei, gewandt rief der Kanzler: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!« Weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig sind Wirths dem Zitat vorangegangene Worte: »In jeder Stunde, meine Damen und Herren, Demokratie! Aber nicht Demokratie, die auf den Tisch schlägt und sagt: wir sind an der Macht! – nein, sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für das eigene unglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht!« Wirths Worte sind auch heute noch, nach fast einhundert Jahren, bestechend überzeugend – und erschreckend aktuell und daher wichtig. Leider haben Hörster-Philipps und Braun die Wiedergabe dieses mit Abstand wichtigsten Zeugnisses des politischen Wirkens Wirths fast auf nur den hier zitierten kurzen, allgemein bekannten Auszug reduziert. Der vollständige Wortlaut der Rede oder auch die Abbildung des Faksimiles des Reichstagsprotokolls wären wünschenswert gewesen, zumal für ein Buch dessen Titel und Anspruch lautet: »Ein politisches Portrait in Bildern und Dokumenten«.

Ohnehin liegt der Schwerpunkt des Buches deutlich mehr bei Bildern denn auf Dokumenten, was den thematisch interessierten Leser etwas unbefriedigt zurücklässt. Bei Lichte betrachtet ist es mehr ein Bildband, eine Art Festschrift zu Ehren Wirths, keinesfalls aber eine kritische Quellenedition. Diesen Anspruch haben die Autoren Bernd Braun und Ulrike Höster-Philipps aber auch nicht formuliert. Höster-Philipps, Mitbegründerin und Vorsitzende der Joseph-Wirth-Stiftung, hatte zuvor schon mit einer politischen Biografie über Wirth habilitiert, Braun, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, über die Kanzler der Weimarer Republik publiziert. Auf den Charakter der Publikation als eine Art Denkmal in Buchform deutet schon das Vorwort der Autorin und des Autoren hin. Sie preisen Wirth als »herausragenden Politiker des 20. Jahrhunderts«, wollen »ein Bild davon vermitteln, für welche politischen Ideen und Werte« er eintrat, und »den Menschen Joseph Wirth« zeichnen. Neben dem Mangel an schriftlichen Dokumenten vermisst der Rezensent auch jegliche kritischen Gedanken von Höster-Philipps und Braun oder von zeitgenössischen politischen Opponenten zur Politik Wirths. Derlei ließe sich sicher finden. Einzig eine Schmähschrift der politischen Rechten von 1933 aus dem Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte wurde abgedruckt, allerdings so klein, dass sie kaum lesbar ist: Wirth »lief mit dem Rohrstock durch die deutsche Politik, war der Vater des ersten Gesetzes zum Schutz der Republik«. Weiter heißt es: »Politisch gesehen war er schließlich nur noch ein Vasall der SPD, mit der er stets in engster Verbindung arbeitete. Dieser eigenartige Vertreter christlicher Belange ging sogar so weit, die Bekenntnisschule zu bekämpfen« (S. 85).

Erstaunlich, aber Ausweis des damaligen Verständnisses von Parteidisziplin: Nachdem Wirth in der Zentrumsfraktion im März 1933 vehement gegen das Ermächtigungsgesetz argumentiert hatte, stimmte er am 23. März doch dem Gesetz, und damit dem Ende der von ihm stets verteidigten Demokratie, im Reichstag zu – »mit Tränen in den Augen«, so sei »verbürgt« (ebd.) Rückblickend betrachtet wäre ein mutiges »Nein!« in der Krolloper an der Seite der Sozialdemokraten sicher das wichtigere Zeichen gewesen als Tränen. Seinem Credo »In jeder Stunde Demokratie!« ist Wirth in dieser dunklen Stunde des deutschen Parlaments nicht gerecht geworden, nur dem Mantra des Fraktionszwangs. Aber die Nachgeborenen können bekanntlich leicht urteilen. Auch diese Frage wird im Band nicht kritisch beleuchtet.

Einen Tag nach seinem letzten »Ja« im Reichstag floh der Ex-Kanzler ins Exil. Sein politisches Comeback nach 1945 scheiterte an Adenauer. Wirth stand gegen dessen Kurs der Westbindung und trat für Verständigung und Ausgleich mit dem Osten, mit der DDR und der Sowjetunion, ein. Dorthin reiste er mehrfach, traf 1952 DDR-Präsident Wilhelm Pieck und sprach 1953 vor der DDR-Volkskammer. Im selben Jahr reiste er nach Moskau, blieb dort dreieinhalb Monate zur Kur, traf Außenminister Vjačeslav Molotov. Bei den Bundestagswahlen kandidierte Wirth auf der gemeinsamen Liste seines »Bundes der Deutschen« mit Gustav Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei. Auf Plakaten war unter seinem Konterfei zu lesen: »Wähle Dr. Joseph Wirth, den Kanzler der Verständigung und des Friedens!« (Abb. S. 172). Die Wählerinnen und Wähler wollten aber Adenauer; Wirts Liste erhielt gerade einmal 1,16 Prozent.

Die Bundesbehörden verweigerten dem Ex-Kanzler und Reichsminister nach 1945 bis zu seinem Tod seine Pensionsansprüche. Die Gründe erfahren die Leserinnen und Leser leider nicht. Es darf spekuliert werden, dass Wirth wegen seiner Ostkontakte und/oder seiner Gegnerschaft zu Adenauer abgestraft werden sollte. Um seinen Unterhalt bestreiten zu können, klagte Wirth auf Wiedergutmachungszahlungen als Verfolgter der NS-Diktatur. Er erhielt nur interimistische Vorauszahlungen, welche die Behörden nach dessen Tod von Wirths Familie auch noch zurückforderten. Eine erschreckende Parallele zur Zeit nach 1933: Auch die NS-Behörden hatten dem Ex-Kanzler im Exil seine Bezüge entzogen und in einem »Reichsfluchtsteuerverfahren« seine Wohnung und die Hälfte »seines bescheidenen Vermögens« beschlagnahmt. Wirth starb 1956 in seiner Heimatstadt Freiburg im Breisgau. Kein Bundes‑ oder Landespolitiker kam zur Trauerfeier. Der frühere badische Zentrumsvorsitzende Prälat Dr. Ernst Föhr nahm Wirth in seiner Trauerrede »gegen den Vorwurf in Schutz, Kommunist [gewesen] zu sein« (S. 183). Die Frage, ob Wirth dies war oder auch nur, warum ihn dieser Ruf bzw. Verdacht verfolgte, wäre eine spannende Frage auch für diese Publikation gewesen.

By Klaus Storkmann

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Titel:
Bernd Braun und Ulrike Hörster-Philipps, In jeder Stunde Demokratie. Joseph Wirth (1879–1956). Ein politisches Porträt in Bildern und Dokumenten. Hrsg. von der Joseph-Wirth-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit der Stadt Freiburg, Freiburg i.Br.: Modo 2016, 216 S., EUR 49,00 [ISBN 978‑3‑86833‑159‑2]
Autor/in / Beteiligte Person: Storkmann, Klaus
Link:
Zeitschrift: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-11-01), Heft 2, S. 385-387
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 2193-2336 (print)
DOI: 10.1515/mgzs-2021-0059
Schlagwort:
  • IN jeder Stunde Demokratie: Joseph Wirth (1879-1956): Ein politisches Portrat in Bildern und Dokumenten (Book)
  • BRAUN, Bernd
  • HORSTER-Philipps, Ulrike
  • DEMOCRACY
  • NONFICTION
  • Subjects: IN jeder Stunde Demokratie: Joseph Wirth (1879-1956): Ein politisches Portrat in Bildern und Dokumenten (Book) BRAUN, Bernd HORSTER-Philipps, Ulrike DEMOCRACY NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Potsdam, Germany
  • Full Text Word Count: 1116

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