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Sebastian Bondzio, Soldatentod und Durchhaltebereitschaft. Eine Stadtgesellschaft im Ersten Weltkrieg, Paderborn [u. a.]: Schöningh 2020, XII, 390 S. (= Krieg in der Geschichte, 113), EUR 89,00 [ISBN 978‑3‑506‑70427‑6].

Wendt, Bernd Jürgen
In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-11-01), Heft 2, S. 424-426
Online review

Sebastian Bondzio, Soldatentod und Durchhaltebereitschaft. Eine Stadtgesellschaft im Ersten Weltkrieg, Paderborn [u. a.]: Schöningh 2020, XII, 390 S. (= Krieg in der Geschichte, 113), EUR 89,00 [ISBN 978‑3‑506‑70427‑6] 

Die vorliegende Osnabrücker Dissertation hat sich zum Ziel gesetzt, die vielfältigen Rückwirkungen des Sterbegeschehens an der Front auf die Osnabrücker Stadtgesellschaft und ihre Durchhaltebereitschaft im Krieg zu untersuchen. Sie leistet damit einen instruktiven modernen militärhistorischen Beitrag zu der 1999 gegründeten Reihe »Krieg in der Geschichte«, deren Anliegen es ist, »die enge Verknüpfung von Militär und Gesellschaft sichtbar zu machen und aufzuzeigen, wie die historisch unterschiedlichen militärischen Verbände in die zivile Gesellschaft eingebettet sind und von ihr geformt werden, umgekehrt auch in diese Gesellschaft stark normierend und reglementierend eingreifen«. Es geht in der Reihe also darum, »Beziehungen zwischen ›Front‹ und ›Heimat‹, gesellschaftliche Militarisierungsprozesse und Militarismus sowie die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen von Kriegen« verstärkt in den Blick zu nehmen (S. IX). In diesen Untersuchungsansatz fügt sich Sebastian Bondzios Fragestellung nahtlos ein. Wie schaffte es eine Stadtgesellschaft, lautet die Kernfrage dieser Fallstudie für Osnabrück, mehr als vier Jahre zielgerecht und angepasst Krieg zu führen trotz seiner erheblichen materiellen und emotionalen Kosten, und obwohl in der gesamten Zeit Soldaten aus ihrer Mitte starben und Todesangst, Kummer und Trauer der Hinterbliebenen um den verlorenen Vater, Sohn, Verwandten oder Freund ihr Sterben begleiteten? Der Tod vieler Menschen veränderte die Kriegsgesellschaft nachhaltig und stellte nicht selten auch den Krieg generell für kritische und oppositionelle Geister infrage. Diese permanente Wechselwirkung zwischen verlustreichem Geschehen an der Front und hartnäckiger Durchhaltebereitschaft in der Heimat durchzieht die Dissertation wie ein roter Faden. Sie wird für die Leserinnen und Leser konkret nachvollziehbar in einer Fülle von sorgfältig und umsichtig vom Verfasser zusammengetragenen Quellen wie persönlichen Zeugnissen der Akteurinnen und Akteure, Tagebuchaufzeichnungen, Feldpostbriefen, Zeitungsberichten unterschiedlicher Provenienz, Predigten.

Der Verfasser geht in drei wichtigen Arbeitsschritten vor. In einem ersten Schritt »Das Sterben von Soldaten im Krieg« behandelt er die Wege in den Krieg sowie den Verlauf des Sterbegeschehens der Osnabrücker Soldaten in den militärischen Operationskontexten räumlich und zeitlich differenziert, »um darüber aufzuzeigen, auf welche Weise die Stadt Osnabrück über ihre Kriegstoten mit den Kriegsschauplätzen verbunden war und wie sich dies veränderte« (S. 24). Der zweite Schritt »Sterbegeschehen, Stadtraum und Stadtgesellschaft« spannt den Bogen von der Front in die Heimat. Es soll erklärt werden, »wie die Osnabrücker Gesellschaft das Sterben im Krieg aushalten konnte« (S. 163), »in welcher Weise sich die Toten in den vier Kriegsjahren über den Stadtraum verteilt haben« (S. 166) und »wie sich das Sterbegeschehen auf den zivilen Kontext des Osnabrücker Stadtraums übersetzte« (S. 25). Dieser Untersuchungsansatz erfolgt mithilfe einer »Sozialprofilanalyse«, um biografische Attribute der Gefallenen quantitativ auszuwerten, »darüber strukturelle Befunde zu den Kriegstoten [...] zu gewinnen und schließlich Details zu ihrer sozialen Situierung herauszuarbeiten« (S. 25). »Sozialprofilanalyse« besteht also darin, »Befunde zur sozialen Zusammensetzung einer Gruppe (d. h. der Gefallenen) sowie deren Wandel zu produzieren« (S. 25).

Der dritte Schritt »Verlusterfahrungen und Kriegskultur« stellt so etwas wie eine Synthese zwischen erstem und zweitem Arbeitsschritt, zwischen Front und Heimat dar. Er thematisiert als Reaktion auf die Verlustmeldungen von der Front die Gefühle, Handlungen und kulturellen Veränderungen in der Osnabrücker Stadtgesellschaft: »Trauer und Furcht« sowie als »Regulierung von Betroffenheit«, »Empathie«, »Unsichtbares Sterben«, »Eine neue Kriegskultur« und »Systemversagen«. Nach Ansicht des Autors ergibt sich aus allen drei kurz skizzierten Arbeitsschritten bzw. Kapiteln insgesamt »ein umfassender Ansatz, der sozial‑ und kulturhistorische Elemente verbindet, um die mit dem Sterbegeschehen im Zusammenhang stehenden Faktoren der Kriegsfähigkeit ermitteln zu können« (S. 25).

Eindrucksvoll konkretisiert, belegt und illustriert der Autor seinen eingangs vorgestellten Theorieansatz (S. 266 ff.) im Verlauf seiner Dissertation mit einer Fülle von sorgfältig recherchierten und treffenden Beispielen und Abbildungen. Er bemüht sich, die Osnabrücker Stadtgesellschaft, ihr Sozialprofil, ihre Verbindungen mit dem Kriegsgeschehen über die Kriegstoten und ihre Veränderungen infolge der Kriegsverluste, ihre sozialen Milieus in zahlreichen Ansätzen zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion einer Datenbank, »die die biografischen Daten zu den Kriegstoten aus der Stadt Osnabrück vereint und auswertbar macht« (S. 37), erfolgt etwa mithilfe der Angaben in den umfangreichen Sterberegistern über die Umstände des Soldatentodes, die Religion, den Stand, das Gewerbe, den genauen Wohnort, das Alter und die verwandtschaftlichen Beziehungen des Gefallenen, über Tagebücher, Kondolenzschreiben, Feldpostbriefe, Predigten und Zeitungen.

Der Rezensent legt das Buch mit einem etwas zwiespältigen Eindruck aus der Hand: Einerseits sind die Forschungsleistung für eine Dissertation und die Konsequenz, mit welcher der Autor die Leitfrage nach der Durchhaltebereitschaft der Osnabrücker Stadtgesellschaft verfolgt und aus immer neuen Perspektiven beantwortet, beeindruckend. Andererseits ist der traditionelle Forschungsstand hinsichtlich des schrittweisen Zusammenbruches der Heimatfront während des Krieges durch den singulären Hinweis am Ende des Buches auf die »schlechte Versorgungslage während des Krieges« (S. 354), die ihre Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert habe, nur unzureichend berücksichtigt.

Denn die »Durchhaltebereitschaft« der Bevölkerung dürfte durch den »Soldatentod« an der Front sehr viel weniger beeinflusst worden sein als etwa durch den »Steckrübenwinter« 1916/17 und die katastrophale Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, der etwa 800 000 Menschen infolge der Unterernährung zum Opfer fielen.

By Bernd Jürgen Wendt

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Titel:
Sebastian Bondzio, Soldatentod und Durchhaltebereitschaft. Eine Stadtgesellschaft im Ersten Weltkrieg, Paderborn [u. a.]: Schöningh 2020, XII, 390 S. (= Krieg in der Geschichte, 113), EUR 89,00 [ISBN 978‑3‑506‑70427‑6].
Autor/in / Beteiligte Person: Wendt, Bernd Jürgen
Link:
Zeitschrift: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-11-01), Heft 2, S. 424-426
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 2193-2336 (print)
DOI: 10.1515/mgzs-2021-0072
Schlagwort:
  • SOLDATENTOD und Durchhaltebereitschaft: Eine Stadtgesellschaft im Ersten Weltkrieg (Book)
  • BONDZIO, Sebastian
  • WORLD War I
  • PERSEVERANCE (Ethics)
  • NONFICTION
  • Subjects: SOLDATENTOD und Durchhaltebereitschaft: Eine Stadtgesellschaft im Ersten Weltkrieg (Book) BONDZIO, Sebastian WORLD War I PERSEVERANCE (Ethics) NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Hamburg, Germany
  • Full Text Word Count: 829

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