Koen De Temmerman, The Oxford Handbook of Ancient Biography. 2020 Oxford University Press Oxford, 9780198703013, £ 110,–
In der jüngeren Forschung zur griechisch-römischen Biographie zeigt sich, wie grundlegend sich antike Biographien von Philosophen und Gelehrten, Dichtern und anderen Literaten, Personen der politisch-militärischen Elite, Religionsführern und heiligen Männern und Frauen von wissenschaftlichen oder populären Biographien des 20. und 21. Jahrhundert unterscheiden. Dies betrifft ihre typischen Themen, ihre selektive Fokussierung auf einzelne Phasen eines Lebens statt eines vollständigen Überblickes über das gesamte Leben, eine oft im Prooimion bereits offen ausgesprochene pädagogische Intention der Erbauung und Erziehung der Leser oder die Art und Weise der Verwendung ihrer schriftlichen und mündlichen Quellen. Es ist heute kaum mehr möglich, eine allgemein anerkannte Gattungsdefinition für antike bíoi/vitae mit ihren fließenden Übergängen zu Enkomien, zu biographisch unterfütterten Doxographien oder Kommentaren, Anekdoten- und Apopthegmata-Sammlungen oder in historische Monographien eingelegten biographischen Passagen zu geben (vgl. De Temmerman, Adams, Beneker und Konstantakos). Es gab eine sehr bunte Palette biographischen Schreibens (De Temmerman, S. 3–18).
Der vorliegende Sammelband gibt einen willkommenen Überblick über unterschiedliche Ansätze der jüngeren Biographieforschungen und führt diese zugleich weiter. Er spannt einen chronologisch sehr weiten Bogen von den Anfängen biographischen Schreibens bis in die christliche Spätantike (und mit der Rezeptionsgeschichte weit darüber hinaus). Der Band gliedert sich in sechs Hauptteile: Introduction (S. 1–83), Reading Biographies (S. 85–308, der Kern des Bandes), Tracing Biographees (S. 309–398), Cultures (S. 399–459), Media (S. 461–527) und Reception (S. 529–598). Es folgen eine sehr ausführliche, aktuelle Bibliographie (S. 599–674), ein Index locorum und ein allgemeiner Index. Positiv möchte der Rezensent die Akzente auf das wirkmächtige „Nachleben" antiker biographischer Schriften bis in die Neuzeit (Teil VI), auf die Erweiterung unserer Kenntnisse durch antike epigraphische und papyrologische Quellenfunde, auf biographisch relevante Monumente und Artefakte (Teil V) und die vergleichenden Studien zu biographischem Schreiben in antiken angrenzenden Kulturen hervorheben (Teil IV: Syrien, koptisches Ägypten, Armenien, Arabien). Als gewinnbringend erweist es sich auch, annähernd gleichzeitig entstandene Biographien von zwei Autoren direkt zu vergleichen (Kap. 11–12; Cornelius Nepos und Nikolaos von Damaskos; Tacitus und Plinius d. J.)
Im Rahmen dieser kurzen Besprechung kann ich auf die 42 lesenswerten Einzelbeiträge nicht alle eingehen. Ich greife drei interessante Studien exemplarisch heraus: In vollem Bewusstsein des Problems, ob es in der Antike unter damaligen Produktionsbedingungen für Literatur und mit Blick auf die Leserschaft überhaupt schon ein Äquivalent moderner populärer Literatur (Massenliteratur) gegeben hat, verweist Konstantakos (S. 45–57) zu Recht auf über Jahrhunderte sehr beliebte ‚populäre Biographien' wie das „Leben des Äsop" oder den „Alexanderroman". Dorandi (S. 125–138) nimmt das fragmentarische Material in der hellenistischen Epoche in den Blick, das angesichts der geringen Anzahl von vollständig erhaltenen antiken biographischen Werken für die Untersuchungen zur Entwicklung der Gattung besonders wichtig ist. Er betont entgegen einer älteren Auffassung von der Dominanz der ‚peripatetischen' Biographietradition „a range of distinct models, albeit often only embryonic and not fully defined ones" (S. 137). Auch lange hellenistische inschriftliche Ehrendekrete griechischer Poleis oder Grabinschriften können als biographische Texte in nuce interpretiert werden, wie Schuler und Forster zeigen (S. 477–491).
Insgesamt ist das „Oxford Handbook of Ancient Biography" als ein aktueller, verlässlicher Überblick zur antiken Biographie sowohl Altertumskundlern als auch wegen des Einflusses der Gattung auf nachantike Perioden am Mittelalter und der Neuzeit interessierten Biographieforschern nachdrücklich zu empfehlen.
By Johannes Engels
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