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Familiensoziologie.

Wutzler, Michael
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( KZfSS), Jg. 73 (2021-12-01), Heft 4, S. 579-583
Online review

Familiensoziologie  Mortelmans, Dimitri

(Hrsg.): Divorce in Europe. New Insights in Trends, Causes and Consequences of Relation Break-ups. Cham: Springer Open 2020. 383 Seiten. ISBN: 978-3-030-25837‑5. Preis: € 51,99.

Umfassende Publikationen zu Heiratenden und zur Ehe erscheinen inzwischen eher selten. Studien zu ehelichen Paarbeziehungen gehen einerseits mit der Herausforderung einher, die Relevanz des Forschungsgegenstandes hinsichtlich des Bedeutungsverlusts der Ehe im Zuge der Individualisierung und De-Institutionalisierung von (Paar‑)Beziehungen zu erläutern – Ehen repräsentieren bekanntermaßen nur noch einen Teil einer Vielfalt an gelebten Beziehungsmodellen. Gleichwohl kaum noch aufgrund gesellschaftlicher Zwänge geheiratet werden muss, geht mit der institutionalisierten Ehe, die traditionell mit Zweigeschlechtlichkeit, Heteronormativität, Mononormativität, Elternschaft und rechtlichen Privilegien verknüpft ist, andererseits auch weiterhin eine normative Wirkmächtigkeit einher, die wissenschaftlich kritisch zu reflektieren und einzuordnen ist.

Nicht nur das sogenannte „golden age of marriage" der 1950er- und 1960er-Jahre ist graue Vergangenheit, zudem werden in der öffentlichen Wahrnehmung Eheschließungen seit einigen Jahrzehnten mit zunehmend steigenden Scheidungszahlen verknüpft. Betrachtet man jedoch aktuelle Entwicklungen für Deutschland, wird deutlich, dass Scheidungen laut dem Bundesamt für Statistik seit 2004 rückläufig sind: Von fast 214.000 in 2003 ist die Anzahl an Scheidungen auf nicht einmal 144.000 in 2020 um ca. ein Drittel gesunken. Interessant ist dies vor allem deshalb, da die Eheschließungszahlen in Deutschland im selben Zeitraum – ausgenommen dem besonderen Jahr 2020 – dagegen nicht rückläufig waren. Nicht nur in Deutschland ist dieser Trend zu beobachten. Umso spannender ist es, die gegenwärtigen Entwicklungen vergleichend für Europa aufzugreifen. Der Sammelband Divorce in Europe. New Insights in Trends, Causes and Consequences of Relation Break-ups, herausgegeben von Dimitri Mortelmanns, greift dies auf und versammelt Beiträge zu unterschiedlichen europäischen Ländern und Israel. Die Beiträge umfassen thematisch in fünf Abschnitten aktuelle Trends zu Scheidungen (Abschn. 1), Scheidungsursachen (Abschn. 2) und Konsequenzen von Scheidungen für die Ex-Partnerinnen und -Partner (Abschn. 3), die Eltern-Kind-Beziehungen (Abschn. 4) sowie die Kinder selbst (Abschn. 5). Der Einleitung folgen außer dem konzeptionellen Beitrag von de Bel und Van Gasse 15 ausschließlich empirisch quantitative Studien, die für sich unterschiedlich lesenswert sind.

Mortelmans greift in der Einleitung zentrale Herausforderungen der Ehe- und Scheidungsforschung auf. Zunächst hält er fest, dass Scheidungen nicht als einzelne Ereignisse, sondern als Prozesse zu verstehen sind (S. 2). Darüber hinaus sind Scheidungen oder Trennungen für viele Menschen kein einmaliges Erlebnis mehr (S. 3). Unterschieden wird allgemein zwischen Ursachen, Prozessen und Konsequenzen von Scheidungen (S. 3). Die Frage nach dem Prozesshaften von Scheidungen fasst Mortelmans dabei als die größte Forschungslücke (S. 3). Der Sammelband ändert dies leider nicht, beschränkt sich auf die Ursachenforschung und drei Abschnitte zu Konsequenzen von Scheidungen. Zu den paarspezifischen Prozessen wird im Gegensatz zu den Ursachen und Konsequenzen nicht einmal weiterführende Literatur benannt. Ergänzend zum quantitativen Fokus des Sammelbandes fehlen Studien, welche die paarspezifischen Sinnkonstruktionen in den Aushandlungen von Paaren im Zuge von Scheidungen oder Trennungen – bestenfalls im Längsschnittdesign – aufarbeiten.

Eine begriffliche Einheitlichkeit darüber, welches Phänomen untersucht wird, finden die Beiträge nicht. Ersichtlich wird dies bereits am Titel des Sammelbands, der sowohl von „divorce" als auch untergeordnet allgemeiner von „relation break-ups" spricht. In den Beiträgen selbst werden darüber hinaus unterschiedliche Begrifflichkeiten gewählt, so u. a. „union dissolution", „uncoupeling" oder „separation". Auch in der Einleitung bietet Mortelmans keine allgemeine und feine Definition des Untersuchungsgegenstandes an. Ist diese Unschärfe für einen Sammelband nicht überraschend, wird jedoch auch deutlich, dass der Band von Mortelmans zwar in die Familienforschung eingeordnet wird (S. 1), jedoch den Teilbereich der Ehescheidungen nicht ausgehend von einer allgemeinen paarsoziologischen Forschung, der Forschung zu emotionalen Bindungen oder der Familienforschung aufgreift. Vielmehr wird umgekehrt versucht, die Anknüpfungsfähigkeit bestehender Studien zu Ehescheidungen über eine thematische Öffnung für aktuelle Entwicklungen der Paarbeziehungsrealität aufzuzeigen. Unter Scheidung („divorce") sollen dann auch alle „uncoupling processes, irrespective of gender composition or legal bond" (S. 2) verstanden werden, um über den Fokus auf heterosexuelle verheiratete Paare hinausgehen und andere (Paar‑)Beziehungsformen einbeziehen zu können. Dem Anspruch, auch homosexuelle Paarbeziehungen aufzugreifen (S. 2), folgt jedoch im Sammelband keine weitere Thematisierung. Mononormativität, also die Verengung auf dyadische Paarbeziehungen, wird gar nicht erwähnt. Grundlegend wäre die Bedeutung der rechtlichen Institutionalisierung einer Beziehung zu klären gewesen. Aktuelle konzeptionelle Debatten zu Familienbeziehungen und Paaren werden – in Deutschland beispielsweise Wimbauer et al. (u. a. „Ambivalente Anerkennungsordnung") oder Koppetsch, Bub und Eckert („Paare nach der Trennung") – in den Beiträgen kaum oder gar nicht aufgegriffen und damit Anknüpfungspotenzial verschenkt.

Über welche Beziehungskonstellationen geforscht wird, ist in den Beiträgen unterschiedlich gut herausgearbeitet. Zum Teil wird jedoch erst mit einem Blick auf die Datengrundlage (beispielsweise Register- oder Survey-Daten) ersichtlich, welche Beziehungskonstellationen – meist sind es Ehen – untersucht werden. In nur wenigen Beiträgen wird die eigene Positionierung differenziert aufgezeigt, wie beispielsweise in dem von Boertien. Boertien analysiert anhand von Survey-Daten die Beziehungsstabilität in Großbritannien und kommt zum Ergebnis, dass diese von 1974 bis 1999 zurückgegangen ist, sich für die Kohorte von 2000 bis 2004 jedoch ein Ende dieses Trends zeigt (S. 17). Dabei greift er „self-declared co-residing couples and marriages" (S. 21) heraus. Diese Grenzziehung, so Boertien, stelle sicher, dass diejenigen Paarbeziehungen einbezogen werden, die mit einer hohen gegenseitigen Verpflichtung einhergehen. „Living-apart-together"-Partnerschaften bezieht er nicht ein, denn diese könne man nicht einfach von anderen Beziehungsformen ohne Zusammenwohnen unterscheiden, da es für eine „relatively objective identification of commitment in relationships" (S. 21) keine allgemeinen Konzepte gebe. Sich dennoch für den Trauschein und das Zusammenwohnen als ausreichende Kriterien gegenseitiger Verpflichtung zu entscheiden, begründet er damit, dass diese Kriterien sicherstellen würden, dass Paare ein Minimum an „coordination of legal [or ...], economic and practical responsibilities" (S. 21) leisten müssen. Es ist müßig darauf zu verweisen, dass es keine (Paar‑)Beziehung außerhalb rechtlicher Regularien oder ohne praktischen Abstimmungsbedarf gibt. Boertiens normative Position wird mit dieser Setzung aber unmissverständlich deutlich. Die in sich widersprüchlichen Ausführungen und fragwürdige Differenzierung schließt er mit der unbefriedigenden Feststellung, dass dies eine offene Debatte bleibe (S. 21). Auch in den anderen Beiträgen wird kaum über Ehen und zusammenwohnende Paare („co-residing"/„cohabit") hinausgegangen.

Konzeptioneller Konservatismus zeigt sich auch in einigen weiteren Beiträgen. Beispielsweise wenn in den Ausführungen von Mortelmans et al. zu Coping-Strategien migrantischer Ex-Partnerinnen und -Partner hinsichtlich der finanziellen Folgen einer Scheidung in Belgien gefragt wird, was durch die dunklen Zeiten („Dark Times") hilft. Warum für Mortelmans offensichtlich ist, dass der Fokus der Forschung auf den negativen Effekten einer Scheidung liegt (S. 12), gleichwohl in der Einleitung hervorgehoben wird, dass Scheidungen auch befreiend sein können, bleibt leider ungeklärt. Unmissverständlich wird der konzeptionelle Konservatismus auch im Beitrag von de Bel und Van Gasse, in dem sie ihren „Multi-Actor Family Network Approach" vorstellen. Essenziell ist für sie dabei zunächst, sich analytisch nicht auf die Kernfamilie zu begrenzen, sondern Familie als Gesamtheit und Netzwerk bedeutungsvoller Beziehung zu verstehen (S. 244). Anknüpfend an den Konfigurationsansatz, systemische Konzepte und das Konzept der „sharing group" konstatieren sie, dass die unterschiedlichen Familienmitglieder hinsichtlich ihrer praktisch gelebten Familienbeziehungen befragt werden müssen. Zugleich verengen de Bel und Van Gasse Familie jedoch darauf, dass „all family members are related by blood or marriage" (S. 244) und verschenken damit das Potenzial der von ihnen diskutierten Ansätze. Nachbarinnen und Nachbarn sowie Freundinnen und Freunde können sich daran anschließend nur als Familie „fühlen". Nicht nur in Anbetracht von Stief‑, Patchwork- oder Adoptionsfamilien geht diese Grenzziehung an der Lebenswirklichkeit schlicht vorbei. Unklar bleibt auch, was aus der Bedeutung der funktionalen Abhängigkeit als notwendiger Beitrag aller Familienmitglieder für das gemeinsame Familienwohl (S. 243) für die Position der Kinder folgt.

In der Einleitung des Bandes wird angestoßen, dass über das Paar hinausgehend vermehrt auch Kinder, Großeltern oder das soziale Netzwerk in den Blick genommen werden sollten (S. 12). Lobenswert hervorgehoben werden kann, dass in den zwei Beiträgen von Fallesen und Gähler sowie Havermans, Swicegood und Matthijs zumindest auch die Perspektive von Kindern aufgenommen wird. Fallesen und Gähler fragen nach dem Wohlbefinden von Kindern nach der Scheidung und vergleichen dafür 15 unterschiedliche Familienkonstellationen. Havermans et al. untersuchen den Zusammenhang von schulischem Engagement von Scheidungskindern und dem Bildungsstand von deren Eltern.

Berücksichtig man den weitestgehend engen Fokus auf (heterosexuelle) Ehepaare und quantitative Studien, bietet der Sammelband auf Basis des vergleichenden Ansatzes durchaus spannende Einblicke in die aktuelle Scheidungsforschung. Bespielsweise analysiert Wagner in seinem Beitrag über Scheidungsrisiken in Anknüpfung an austauschtheoretische Grundlagen („marital quality, alternative attractions, and barriers", S. 42) unterschiedliche Erklärungsmuster steigender Scheidungszahlen. Über Scheidungsfolgen hinausgehend rekonstruieren Jalovaara und Kreyenfeld in einem doppelten Vergleich, wie sich zwischen Finnland und Deutschland sowie Männern und Frauen unterscheidet, ob diese Kinder mit unterschiedlichen Partnerinnen oder Partnern haben. „Multipartner fertility" ist ihnen zufolge in Finnland und bei Frauen verbreiteter. Eine frühe Elternschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit mehreren Partnerinnen oder Partnern zu haben. Für Deutschland zeigt sich ein Ost-West-Unterschied: Ostdeutsche haben im Schnitt weniger Kinder, aber wenn sie mehr als ein Kind haben, dann auch wahrscheinlicher mit unterschiedlichen Partnerinnen oder Partnern als Westdeutsche (S. 329 ff.). Kaplan et al. arbeiten für die pronatalistische Gesellschaft in Israel den Effekt von Kindern auf die Ehestabilität von Paaren palästinensischer und jüdischer Israelis heraus. Auf israelisch-palästinensische Familien wirken Kinder, ihnen zufolge, im Gegensatz zu israelisch-jüdischen Familien eher stabilisierend (S. 136).

Insgesamt gelingt dem Sammelband – innerhalb der angeführten konzeptionellen und methodischen Grenzen – ein solider Überblick für die ausgewählten Aspekte hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und den Folgen von Scheidungen. Anhand klassisch quantitativer Studien bekommt man auf unterschiedlichem methodischem Niveau vielfältige Einblicke in den Forschungsstand und in aktuelle Entwicklungen der (Ehe‑)Scheidungsforschung aus einer Vielzahl an europäischen Regionen geboten. Die Beiträge leisten weitestgehend eine schnelle Übersicht und sind gut lesbar. Aufgrund der genannten Einschränkung ist das Anknüpfungspotenzial einiger Beiträge zu weiteren Bereichen und Arbeiten der Paar- oder Familienforschung jedoch begrenzt. Skizziert Mortelmans, dass die Scheidungsforschung auf lange Sicht eine Fülle an „new opportunities, new challenges an new exciting discoveries" (S. 13) verspricht, so verweist er auf die auch nach dem Lesen des Sammelbandes leider bleibenden Leerstellen und blinden Flecken. Um die Vielfalt an Beziehungsdynamiken, -biografien und paarspezifischen Aushandlungen des Auflösens erfassen zu können, ist es unabdingbar, über die im Sammelband vertretenen empirischen und theoretischen Ansätze hinauszugehen.

Funding

Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.

By Michael Wutzler

Reported by Author

Michael Wutzler Dr. phil., Projektkoordinator der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts „Vielfalt vor Ort begegnen" an der Fachhochschule Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Paarsoziologie, Kindheitsforschung, Familien- und Ehesoziologie. Aktuelle Publikationen: Paarbeziehungen heute: Kontinuität und Wandel. Weinheim/Basel (hrsg. mit J. Klesse); Kindorientierte Eheschließung revisited: Wie beziehen sich Paare in Deutschland bei ihrer Eheschließung auf Kinder? Österreichische Zeitschrift für Soziologie 46, 2021 (mit J. Klesse); Zwischen Absicherung, Irrelevanzen und Infragestellung der Liebe: Deutungen heiratender Paare in der Thematisierung und Aushandlung von Eheverträgen. Zeitschrift für Rechtssoziologie 41(1), 2021.

Titel:
Familiensoziologie.
Autor/in / Beteiligte Person: Wutzler, Michael
Link:
Zeitschrift: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ( KZfSS), Jg. 73 (2021-12-01), Heft 4, S. 579-583
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0023-2653 (print)
DOI: 10.1007/s11577-022-00814-x
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Fachhochschule Erfurt, Altonaer Str. 25, 99085, Erfurt, Deutschland
  • Full Text Word Count: 1736

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