Zusammenfassung: Seit einigen Jahren beobachtet die sozialwissenschaftliche Schul- und Unterrichtsforschung die Rolle schulischen Lehr- und Lernmaterials. Fokussiert wird dabei vor allem die soziale Verwendung der meist bereits fertig vorliegenden Materialien im Vollzugsgeschehen des Unterrichts. Dieser Beitrag tritt einen Schritt zurück und beobachtet stattdessen die Herstellung und Verwendung solcher Objekte vor ihrer Produktreife. Anhand eines Fallbeispiels einer Kooperation zwischen zwei Schulen und einem bildungswirtschaftlichen Technologieunternehmen wird die Entwicklung und Erprobung einer Lernsoftware sowie dazugehöriger VR-Technologie untersucht. Es wird analysiert, wie Lehrkräfte und Firmenmitarbeiter/innen in die jeweils anderen Praxiskontexte eingebunden werden und dabei ihr technisches resp. didaktisches Wissen wechselseitig füreinander verfügbar machen. In der kooperativen Arbeit an digitalen didaktischen Objekten werden Grenzziehungen zwischen Schule und Unternehmen temporär transzendiert. Die Objekte, die auf dieser Basis anwendungsorientiert entwickelt werden, erweisen sich als Resultat einer trans-epistemischen kooperativen Regulation von didaktischen „Visionen" und technischer „Machbarkeit". Indem die verschiedenen Dimensionen der kooperativen gewerblichen Fertigung digitaler didaktischer Objekte sowie deren prototypisches Versuchsstadium in den Blick genommen werden, analysiert der Beitrag den Prozess der Digitalisierung von Unterricht als ein innovatives soziales Geschehen, das durch ökonomische, technische und didaktische Rationalitäten strukturiert wird.
In recent years, classroom researchers have increasingly turned to the use of didactical teaching materials. Mostly addressing objects already designed and fabricated, the majority of studies have focused on the social use of such resources in class. This paper takes a step back in order to observe how didactical objects are developed and tested before going into production. Looking at a cooperation between two schools and a company specialized in digital teaching materials, it investigates the development of a learning software and its corresponding VR technology. It analyzes how teachers and company employees involved one another into each other's working environments and how they, in doing so, made their technical and didactic knowledge mutually available, thereby temporarily transcending the boundaries between school and company. The educational objects developed for application in class thus result from a trans-epistemic process of cooperative regulation between educational "vision" and technological "feasibility". By looking at the various dimensions of the cooperative commercial production of digital educational objects at the stage of prototype development and testing, the paper analyzes the digitalization of school teaching as an innovative social process structured by economic, technological and educational rationalities.
Résumé: Depuis quelques années, la sociologie de l'école et de l'éducation s'intéresse de plus en plus aux ressources éducatives utilisées en classe. Dans ce contexte, l'accent est mis sur l'utilisation sociale de ressources généralement préexistantes dans le cadre de l'enseignement. Cet article fait un pas en arrière en observant la production et l'utilisation de ces objets avant leur arrivée à maturité. A partir de l'exemple de la coopération entre deux écoles et une entreprise technologique du secteur de l'éducation, cet article étudie le développement et l'expérimentation d'un logiciel éducatif et de la technologie de réalité virtuelle associée. L'analyse porte sur la façon dont les enseignants et les collaborateurs de l'entreprise sont introduits dans le contexte de la pratique de l'autre et rendent leur savoir, respectivement technique et didactique, accessible à l'autre. Le travail de coopération sur des objets numériques didactiques transcende temporairement les frontières entre l'école et l'entreprise. Les objets développés sur cette base en vue d'un usage pratique se révèlent être le résultat d'une régulation coopérative trans-épistémique entre « visions » didactiques et « faisabilité » technique. En se penchant sur les différentes dimensions de la production commerciale coopérative d'objets didactiques numériques et en particulier sur le stade de l'expérimentation de prototypes, cet article analyse la numérisation de l'enseignement comme un processus social innovant structuré par des rationalités économique, technique et didactique.
Keywords: Bildung; Unterricht; Digitalisierung; Objekte; Wissen; Ethnographie; Education; Teaching; Digitalization; Objects; Knowledge; Ethnography; Éducation; Enseignement; Numérisation; Objets; Savoir
Die sozialwissenschaftliche Schul- und Unterrichtsforschung hat bislang umfangreich und detailliert verschiedene Dimensionen des schulischen Unterrichtens beforscht und den schulischen Alltag empirisch wie theoretisch detailliert in den Blick genommen. Beobachtet wurde u. a., wie schulischer Unterricht organisatorisch vorbereitet sowie räumlich und sprachlich vollzogen wird, welchen Regeln und welcher Logik der kommunikative Austausch zwischen Lehrkräften und Schüler/innen folgt und welche Relevanz die „peer culture" für Schüler/innen und für den Unterricht besitzt (stellvertretend für viele Untersuchungen siehe etwa: Breidenstein [
Zugleich gibt es materialitätstheoretisch ausgerichtete Untersuchungen, welche die Rolle von didaktischen Objekten im Unterrichtsgeschehen in den Blick nehmen, wie etwa Schulbücher, Materialien im Physikunterricht, Darstellungsmedien wie z. B. analoge und elektronische Schultafeln sowie die Schularchitektur und die Raumausstattung. Für diese Forschungen ist die Schule der zentrale Ort, an dem der Gebrauch, die Wirkung und die Bedeutung didaktischer Objekte erforscht und rekonstruiert werden können. Dabei wird mit kultur- bzw. materialitätstheoretischen Überlegungen (u.a. Latour [
Wenngleich diese Arbeiten die Gebrauchsweisen didaktischer Materialien im Kontext des schulischen Unterrichts untersuchen, sind ihre Befunde durchaus heterogen, was unter anderem auf unterschiedliche theoretische Bezüge und Annahmen zurückgeführt werden kann. Zu nennen sind hier erstens ein Bezug zur Actor-Network-Theory (Latour [
Trotz ihrer konzeptionellen wie empirischen Heterogenität teilen diese Arbeiten indes einen gemeinsamen Ausgangspunkt: In Bezug auf die Zeitdimension dieser Praxis setzen sie nach der Fertigstellung der Lehr- und Lernmaterialien und deren Distribution über den Markt der Bildungsgüter an. Das heißt: Die Forschung beginnt, wenn diese Güter entwickelt und erprobt, auf Messen und in Katalogen beworben, von Kultusadministrationen finanziert, von Schulen eingekauft, inventarisiert und einsortiert oder von Schüler/innen bzw. ihren Familien käuflich erworben wurden.[
Diejenige Forschung, die sich bereits auf diese theoretische Spur begeben hat (etwa Lange [
Im vorliegenden Aufsatz schließen wir an diese Perspektive an, ergänzen sie aber auch. Am Beispiel der Bildungswirtschaft untersuchen wir die Zirkulation und damit den Austausch von Wissen zwischen Schulen, die neue Lehr- und Lernmaterialien vor ihrer Produktreife erproben, und einem gewerblichen Unternehmen, das diese Güter herstellt. Wir explorieren damit eine trans-epistemische Kooperation zwischen einem Unternehmen, das digitale didaktische Objekte entwickelt, und seinen Pilotschulen, die diese Objekte in ihrem Unterricht erproben. Im Anschluss an Hans-Jörg Rheinbergers praxeologische Phänomenologie von Experimentalkulturen erörtern wir die „techno-epistemische Umgebung" (Rheinberger [
Das Feld der Bildungsökonomie mit seinen Organisationen und Praktiken, Produkten und Rationalitäten, Sprachen und Wissensformen stand bislang nicht im Fokus sozialwissenschaftlicher Schul- und Unterrichtsforschung. Geht man allerdings davon aus, dass es sich bei den Unternehmen der Bildungswirtschaft um ökonomische Akteure handelt, die nicht nur mit zentralen Herausforderungen und Konstellationen ökonomischen Handelns konfrontiert sind, sondern auch in Schule und Politik hineinwirken (Williamson [
Im Kern geht es in unserem Beitrag um Fragen zur Digitalisierung von – in diesem Fall gymnasialer – Schulbildung. Wir behandeln diese Fragen allerdings nicht aus einer allgemeinen und bildungspolitisch intendierten (Hasselhorn und Cress [
Das empirische Material, das wir in diesem Aufsatz ausschnitthaft dokumentieren, haben wir im Rahmen mehrwöchiger Feldaufenthalte erhoben, zunächst in einem Softwareunternehmen, dann in zwei Gymnasien, den schon genannten „Pilotschulen". Unsere ethnografische Forschung (Emerson et al. [
In unserer Studie erörtern wir einen bislang kaum beobachteten Fall trans-epistemischer Wissensprozesse, die die Grenzen der jeweiligen Organisation temporär überschreiten und in denen die Spezifika von Wissensformen aufeinandertreffen.[
Empirisch lassen sich diese Wissensformen in den situierten praktischen und körperlichen Vollzügen und damit in Aktivitäten des Aktualisierens, des Vergessens sowie im Hantieren mit, dem Gebrauch und dem Funktionieren von Objekten beobachten. In Bezug auf die Rolle von Objekten geht es dabei um eine Sozialität und Praxis mit Dingen (Knorr Cetina [
Als Akteure des Bildungsmarktes sind Bildungsunternehmen – hierzu zählen wir Verlage und gewerbliche Unternehmen der Lehr- und Lernmittelindustrie – mit zwei Herausforderungen konfrontiert: mit der technischen Machbarkeit des Produkts einerseits, mit seiner Durchsetzung am Markt andererseits. Wir beginnen mit dem letztgenannten Punkt.
Für die Bildungswirtschaft ist die Durchsetzung eines Produkts auf dem Markt für Bildungsgüter deshalb brisant, weil es sich hier um einen wesentlich staatlich bedingten Markt handelt. Von privaten Schulen einmal abgesehen üben lokale Administrationen, Länderministerien und andere staatliche Einheiten als Träger öffentlich-rechtlicher Schulen einen zentralen Einfluss auf den Markt aus und entscheiden mit über Wohl und Wehe der angebotenen Produkte. Damit sind die ökonomischen Gesetze eines neoklassischen Marktes, in dem Angebot und Nachfrage, Kooperation und Wettbewerb das ökonomische Geschehen bestimmen, tendenziell außer Kraft gesetzt. Stattdessen wird die Marktentwicklung maßgeblich definiert durch starke staatliche Akteure, denen zwar kein Monopol, aber eine ausschlaggebende Markt- und Entscheidungsmacht zufällt.[
Ungewissheit als zentrales Merkmal ökonomischen Handelns (siehe nur Beckert [
Diese Darstellung verband das Unternehmen zweitens mit einer Umstellung seiner Strategie. Zunächst hatte es eine Top-Down-Strategie geplant, die darauf abzielte, die Kultusbürokratie eines Bundeslandes von einer massenhaften Ausstattung der Schulen des Landes mit seinem Produkt zu überzeugen und hierüber dessen Absatz zu sichern. Als sich ein Misslingen dieses Vorhabens abzeichnete, folgte die Kehrtwende zu einem Bottom-up-Ansatz. Man gewann einzelne lokale Schulen, die ihrerseits auf der Suche nach Kooperationspartnern waren und sich bereit erklärten, als Pilotschulen für die Erprobung der Lernsoftware zu fungieren und die praktischen Unterrichtserfahrungen in deren Herstellung und Überarbeitung einzuspeisen.[
Drittens folgte das Unternehmen einer Strategie der wissenschaftlichen Validierung. So kam eine eigens eingeworbene psychologische Expertise zu dem Schluss, dass die Lernsoftware eine erhebliche Lernunterstützung für die Schüler/innen bieten könne. Hiervon berichtet ein Entwickler aus dem Unternehmen:Wir haben hier dann eigene Studien mit aufgesetzt [...]. Was dort erstaunlich ist, [...] dass beim Einsatz [der Lernsoftware] das kognitive Wahrnehmungsverhalten ungewöhnlich stark angesprochen wird und unterstützt wird. Und die Vermutung ist, dass die Kombination, also aus räumlichem Sehen und selber tun, dass das ursächlich dazu beiträgt, dass, ja, ich sag's einfach mal, dass der Lernstoff besser verankert wird. (I1)
Hier konnte also ein weiterer Akteur für die Unternehmensziele mobilisiert werden, mit dessen wissenschaftlicher Expertise und Autorität etwaigen Zweifeln am pädagogisch-didaktischen Sinn des Produkts begegnet werden sollte.[
Bis hierin ist erkennbar geworden, dass das Unternehmen insgesamt dem trans-organisatorischen Modell einer „extended organization" folgte, ohne dabei die Kontrolle über die Produktentwicklung ganz aus den Händen zu geben. Aber die Grenzen des Unternehmens enden nicht an den eigenen Werkstoren, sondern dehnen sich, wie wir im Folgenden genauer zeigen werden, in andere Bereiche aus – was insbesondere die von uns untersuchten Pilotschulen betraf. Auf die Herausforderung der technischen Anpassung des Produkts an Nutzererwartungen und Bedienbarkeit reagierte das Unternehmen mit einem Entwicklungsprozess, der einerseits die späteren Nutzer/innen ins Zentrum rückte und sich somit an der Idee eines „user-centered design" (Shove et al. [
Graph: Abb. 1 Zirkulation von Wissen
Bei der Entwicklung und Erprobung des hier interessierenden Objektes wurden die Teilnehmer/innen somit in den jeweils anderen Praxiskontext eingebunden: einerseits Lehrkräfte und Schüler/innen als schulische Akteure in die Abläufe des Unternehmens, andererseits Firmenmitarbeiter/innen – vor allem Informatiker/innen – in die schulische Praxis des Unterrichtens. Dieser zeit-räumliche Wechsel von Personen in die jeweils andere Organisation steht für ein Verfügbarmachen von Wissen, Erkenntnissen und Routinen für die jeweils andere Seite. Das Unternehmen bringt sein technisches, ökonomisches und Anwendungswissen in den Prozess ein und übersetzt diese Wissensformen für die Lehrkräfte. Umgekehrt teilen Lehrkräfte und Schüler ihrerseits ihr fachliches, didaktisches und Erprobungswissen mit den Entwickler/innen und der Unternehmensleitung. In diesem Sinne konstituiert sich die neue Lernsoftware als ein „epistemisches Ding" (Rheinberger [
Die Entwicklung der Lernsoftware ging auf die lokale Ansässigkeit der beteiligten Akteure zurück.[
Die Lehrkraft stellt hier in zusammenfassenden Worten das Zustandekommen und die Ausgestaltung der Kooperation zwischen Softwareunternehmen und Schule dar. Bezogen auf die oben dargestellte Reziprozität des Findungsprozesses wird erkennbar, dass auch die Schule und ihr Umfeld am Zustandekommen dieser Kooperation aktiv beteiligt war: Ihr gelang es, Kontakt zu einem lokal ansässigen Unternehmen zu etablieren und die entstehende Kooperation zu kodifizieren. Kern dieser Zusammenarbeit war die gemeinsame Erstellung von Lernmodulen, bei der die Lehrkräfte eine wichtige Rolle spielten. Sie brachten ihre Expertise schon zu Beginn in den Prozess ein, indem sie überlegten, für welche Unterrichtsinhalte eine stereoskopische Visualisierung wünschenswert und brauchbar wäre, und stießen so die Entwicklung neuer Module an. Sie brachten sich aber auch im weiteren Verlauf des Entwicklungsprozesses ein, formulierten Anforderungen und Kriterien an ein jeweiliges Modul und prüften die von den Entwickler/innen erstellten Entwürfe der späteren Bildschirmansichten, die einen wichtigen Zwischenschritt bei der Realisierung der jeweiligen Module darstellten. Der Interviewausschnitt lässt dabei erkennen, dass Lehrkräfte auch in persönlicher Hinsicht von der Überschreitung der Organisationsgrenzen profitierten: Die Mitarbeit bei der Entwicklung und Vermarktung sowie die Teilnahme an Bildungsmessen und Vorträgen markierten besondere Unterbrechungen ihrer schulischen Alltagsroutine und stärkten ihr Selbstverständnis, Teil einer „innovativen" Schule zu sein.
Weiter wird in dem Interviewausschnitt deutlich, wie die Vorstellungen der Lehrkräfte in Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus und dem technischen Wissen der Entwickler/innen modifiziert wurden. In dieser reziproken Identifizierung stand das fachlich-didaktische Wissen für eine Unterrichtsvision, das technische Wissen hingegen für deren Revision im Sinne der Anpassung an die vorhandenen technischen Möglichkeiten und die finanziellen Ressourcen der Kooperation. Im Narrativ der „Erfahrung" wurden hierbei immer wieder der „Sinn für das Machbare" und damit der Realismus des technischen Wissens herausgestellt. Nicht nur mit Verweis auf das technische Medium selbst, in dem sich die fachlich-didaktischen Vorstellungen realisieren lassen mussten, sondern auch auf den pragmatischen Rahmen – sprich: die finanziellen, zeitlichen und personellen Ressourcen –, markierten die Entwickler/innen an gewissen Punkten des Prozesses unverhandelbare Grenzen der Umsetzbarkeit. Kurzum: Die fachlich-didaktischen Visionen der Lehrkräfte stießen sich am technischen und ökonomischen Wissen der Entwickler/innen, deren Funktion es war, im Rahmen der lokal verfügbaren Ressourcen die Realisierbarkeit bzw. die Machbarkeit zu gewährleisten. Auf diese Weise wurden zugleich Differenzen zwischen den Wissensbeständen und Wissenskontexten markiert und in Erinnerung gerufen. In den Worten eines Entwicklers stellte sich der Entwicklungsprozess demnach so dar:E: [A]lso die Lehrer wissen ja auf jeden Fall mal, was sie irgendwie im Rahmen von ihrem Unterricht machen müssen, so an Themen. Und dann kann man sich ja raussuchen, was man da irgendwie dreidimensional, was da irgendwie Mehrwert hätte, [...] also die schauen, okay, welche Themenbereiche können wir nehmen und machen die auch Sinn für den Screen, und dann setzt man sich halt zusammen. [...] Wir müssen dann natürlich überlegen, okay, wie ist das umsetzbar, technisch, und wie ist es auch sinnhaftig, ne. [...] [D]ie lassen sich dann irgendwas einfallen, ne, und dann sitzt man wieder da und denkt, okay, ja ((lacht)). [...] Und dann kann man da, kann man sich halt überlegen, macht das Sinn, macht das keinen Sinn, würde das den Kostenrahmen mordsmäßig sprengen oder nicht, ne? Also, wir begründen dann auch, warum es nicht funktioniert, aus unserer Sicht. [...] Und dann kommen die zum nächsten Treffen wieder mit 'nem Storyboard. [...]I: Das heißt, ihr fangt mit dem Programmieren dann noch nicht an?E: Noch nicht, nein, nein, erst wenn das Storyboard komplett steht, dann fangen wir da an. In der Regel arbeiten wir zu dritt dran, und die zwei Kollegen kümmern sich ums Modellieren. Also, in der Regel gibt's dann zur Verfügung gestellte Inhalte dann irgendwie von den Lehrern, wo die dann sagen, okay, das passt hier zum Thema, irgendwie aus Schulbüchern rauskopiert oder solche Geschichten. [...] Ich bau's dann quasi zusammen. Also ich sage dann, okay, uns fehlt noch das, uns fehlt noch das. [...] Und dann haben wir einen Prototyp. [...] [N]achdem wir das aus dem Storyboard, so wie wir es verstanden haben, wie es da drinsteht, umgesetzt haben, ähm, zeigen wir es den Lehrern noch mal, klar. Die gehen das dann noch mal durch, finden Fehler, und dann beheben wir die natürlich auch. (I1)
Am Anfang stand, so der Entwickler, eine Selektion von Unterrichtsgegenständen, deren dreidimensionale Darstellung „Sinn" ergibt. Diese Auswahl, die durch Lehrkräfte im Medium eines fachlich-didaktischen Sinns erfolgte, stieß in den Beratungen auf den technischen, aber auch den ökonomischen Sinn der Entwickler/innen. Diese Formen des Sinns verweisen auf jeweils andere Horizonte und stehen damit für einen potenziellen Dissens über die zu entwickelnde Moduleinheit. Diese wird zu einem Wissensobjekt, mit dem an der Frage gearbeitet wird, was fachlich-inhaltlich dargestellt wird, wie es in der technischen Umsetzung dargestellt werden kann und wie sich dies hinsichtlich der Kosten und zu erwartenden Erträge ökonomisch realisieren lässt. Zwar versammelt der pädagogisch-ökonomische Zweck der Kooperation die Beteiligten um dieses Wissensobjekt, jedoch artikulieren die unterschiedlichen Akteure jeweils andere Aspekte, andere Wissensformen und Ziele – und arbeiten daher zunächst daran, auf „einen Nenner" zu kommen. Die didaktische Vision bzw. das didaktisch Wünschenswerte einerseits und das technisch Machbare sowie ökonomisch Sinnvolle andererseits werden kontinuierlich mit- und gegeneinander verhandelt.
Der Auszug macht auch deutlich, dass die Verständigung nicht ohne ein Medium der Vermittlung auskommt: das sogenannte Storyboard. Storyboards stellen erste Entwürfe dessen dar, was in fachlicher Hinsicht auf den Bildschirmen zu sehen sein soll. Hierzu nutzen Lehrkräfte unter anderem Unterrichtsmaterialien, die sie den Entwickler/innen zur Verfügung stellen. Für die IT-Fachleute zerlegt das Storyboard didaktische Inhalte in „Lernziel", „Ansichten", „Interaktionen", „Instruktionen" und „Aufgaben/Lösungen". Es formuliert damit Antworten auf die Frage nach dem konkreten „Stoff", dem Wie seiner Darstellung, dem Was der Nutzeraktivität, dem Worum des unterrichtlichen Gegenstands sowie mögliche Übungen und Lösungen. Mit dieser Liste vollziehen Lehrkräfte eine Auftrennung komplexer fachlicher Inhalte in klar voneinander getrennte Einheiten und Schritte. In einem zirkulären Prozess werden die Storyboards dann so lange modifiziert, bis schließlich ein Prototyp erstellt werden kann. In diesem Zusammenhang reflektiert ein Entwickler seine Rolle so:I: Müsst ihr ((bei der Entwicklung der Module)) ein bisschen zum Lehrer werden, eigentlich? Also, denkt ihr euch in diese Rolle des Lehrers rein?E: Ja, müssen wir auch. Also manchmal müssen wir's, ja. Damit wir verstehen, was man von uns will. Also, [...] was das Modul nachher schaffen soll, dafür muss man ein bisschen Lehrer sein, glaube ich. Also muss man dann auch mal die Perspektive wechseln. (I1)
Die Perspektive zu wechseln bedeutet hier, zu verstehen, wie das Modul durch das, was es in einer je bestimmten Art und Weise zeigt, im Schulunterricht verwendet werden kann; es bedeutet auch, den Fachinhalt zumindest partiell verstanden zu haben, um das, was die Schüler/innen den Darstellungen im Modul entnehmen sollen, auch entsprechend zu programmieren. Hierfür gibt das Storyboard keine detaillierten Regeln vor, sondern ist auf den Mitvollzug bzw. die Mitvergegenwärtigung durch die Entwickler/innen angewiesen.
Der „Zusammenbau" des Lernmoduls erfolgte dann im Rahmen des Programmcodes, der im Unternehmen entwickelt wurde und dort verfügbar war. Auffällig ist hier der Wechsel von der Sozialität von Entwickler/innen und Lehrkräften hin zur solitären Arbeit am und mit dem Programm. An ihren Rechnern arbeitend, setzten die Entwickler/innen das ausgehandelte Storyboard Schritt für Schritt um und besprachen Ergebnisse oder Probleme mit dem CEO bzw. mit ihren Kolleg/innen. Im Fall der Lernsoftware ging es somit um die digitale Umsetzung kleinschrittiger Drehbücher – eben der Storyboards –, für die dann nur noch eine partielle soziale Verständigung mit anderen Akteuren notwendig war. Ein wichtiger Aspekt war dabei, dass das Modul ausreichende Möglichkeiten der Verwendung oder der „Manipulation" (Mead [
Dabei orientierte sich die Evaluation durch die Lehrkräfte nicht nur an Kriterien wie einer angemessenen Darstellung der Lerninhalte, sondern auch am Kriterium des „Mehrwerts": Sie prüften, inwieweit die dreidimensionale und handlungsauffordernde Darstellung eines Unterrichtsinhalts einen spürbaren Vorteil gegenüber herkömmlichen zweidimensionalen Darstellungen etwa im Buch oder auf einer CD-ROM brachte. Dieser Punkt ist für die Lehrkräfte von entscheidender Bedeutung, wie eine von ihnen im bereits zitierten Interview angibt: Angesichts der hohen Entwicklungskosten wie auch des zeitlichen und persönlichen Engagements werde ein zu entwickelndes Modul daran gemessen, inwieweit es – über eine bloße Ausweitung von Repräsentationsmöglichkeiten hinaus – tatsächliche Zugewinne im Hinblick auf die unterrichtliche Vermittlungspraxis erwarten lasse. Somit ergibt sich ein klar skizzierbarer Entwicklungsverlauf (siehe Abb. 2; die zweiseitigen Pfeile deuten an, dass es sich nicht um einen linearen, sondern um einen rekursiven Prozess handelt). Wie die Darstellung zeigt, beruhte die Produktentwicklung maßgeblich auf der Zurverfügungstellung des Fachwissens und der Unterrichtserfahrung der beteiligten Lehrkräfte.
Graph: Abb. 2 Stationen des Entwicklungsprozesses
Im Rahmen eines bilateralen Austauschs trafen hier also Mitglieder zweier unterschiedlicher Fachkulturen zusammen: Auf der einen Seite die Lehrkräfte, die ihre Fachkenntnisse, ihr Wissen um die schulischen Curricula und ihre Unterrichtserfahrungen mit in den Prozess einbrachten und die Entwicklung neuer Module anstießen, sowie auf der anderen Seite die Entwickler/innen, die diese Ideen umsetzten, Inhalte in eine Programmiersprache bzw. einen Code übersetzten und die entsprechenden Lernumgebungen durch die Erstellung von Grafiken und Modellen, Animationen, Audio-Effekten und Texten modellierten. Die „Lehrkräfte-als-Entwickler/innen" wurden auf diese Weise temporär Teil des Unternehmens, ohne formal Mitglied der Organisation zu sein. Zu dieser Arbeitsteilung gehörte umgekehrt, dass die technischen Aspekte der Erstellung, die Entscheidung über den Prozess der Gestaltung, über die Verwendung von Codes und Programmiersprachen, aber auch die Materialien und technischen Infrastrukturen beim Unternehmen blieben – wobei der Ausschluss der Lehrkräfte auch durch die Undurchdringlichkeit des Computercodes (Edwards [
Über die Kooperation von Lehrkräften und Entwickler/innen kam es auf diese Weise zu einer engen Verflechtung zwischen der Schule und einem ökonomischen Akteur, im Rahmen derer beide Parteien ihre jeweilige Expertise für die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien einbrachten, sich gegenseitig informierten und ihre Perspektiven wechselseitig korrigierten. Die Schulen der beteiligten Lehrkräfte wurden im Zuge dieses Prozesses zu Projektschulen, die die neuen Module anwendeten, zugleich aber auch privilegierten Zugang zu den neuesten Modulen erhielten, an deren Entwicklung sie selbst nicht mitgewirkt hatten. Für die Lehrkräfte ergab sich durch ihre Mitwirkung die Möglichkeit, eine Lernsoftware initiieren und mitgestalten zu können, die passgenau auf die Bedürfnisse ihres Unterrichts zugeschnitten ist, während das Unternehmen auf der anderen Seite ein marktfähiges Produkt entwickelte, dessen inhaltliche Relevanz durch die Lehrkräfte verbürgt und dessen künftige Verwendung im Unterricht dadurch wenn nicht garantiert, so doch wahrscheinlich ist – und das somit nicht zuletzt auch an weitere Schulen verkauft werden kann.[
Das Unternehmen war seinerseits auf zweifache Weise in der schulischen Organisation präsent: Erstens war es materiell zugegen, und zwar in Form der entwickelten Screen-Technologie und der ihr innewohnenden Überlegungen, etwa mit Blick auf den Ablauf des Schulunterrichts und das Verhalten von Lehrkräften und Schüler/innen; zweitens war es immer wieder personell durch Unternehmensmitarbeiter/innen im Unterricht sichtbar vertreten. Was die Darstellungstechnologie des Screen angeht, so wurde dieser oft in solchen Unterrichtsstunden genutzt, die vorbereitenden oder wiederholenden Charakter hatten. Sie wurde dann etwa als eine Station im Rahmen von Lernzirkeln eingebunden, bei denen parallel auch Experimente durchgeführt oder Aufgaben aus dem Lehrbuch und zur Internetrecherche bearbeitet wurden. So lernten die Schüler/innen etwa die Bewegung geladener Teilchen zunächst über einen physischen Versuchsaufbau kennen, um dann das Bewegungsverhalten der Teilchen in einer interaktiven Simulation spielerisch auszuprobieren, oder sie bauten am Bildschirm ein Atom zusammen, dessen Zusammensetzung sie zuvor im Buch studiert hatten (siehe Kalthoff und Cress [
Insbesondere diejenigen Module, an deren Entwicklung die Lehrkräfte mitwirkten, etablierten sich im Lauf der Zeit als fester Bestandteil des schulischen Unterrichts dieser Lehrkräfte. Dazu gehörten etwa die Module zum Atombau, zum Aufbau des Innenohres oder zum Blutkreislauf, die regelmäßig in den Unterricht eingebaut wurden und ihren festen Platz im Repertoire der Unterrichtsmedien erhielten. Hin und wieder aber kam es vor, dass Lehrkräfte oder Schüler/innen bei der Verwendung dieser Module auf Fehler stießen. Dies belegt ein Auszug aus einem unserer Beobachtungsprotokolle:Die Vierergruppe ist gerade mit dem Atombau-Modul beschäftigt, als ein Schüler aus der Gruppe die Lehrkraft herbeiruft. Er hatte einen Fehler in der Darstellung eines Kohlenstoffatoms bemerkt, das offenbar nicht über die korrekte Anzahl an Teilchen verfügt. Die Lehrkraft schaut sich die Darstellung kurz an und erwidert: „Wenn Ihr sowas habt, könnt Ihr ruhig aufschreiben, wenn Ihr irgendwie Fehler entdeckt, weil das ist, müssen wir zurückmelden." (BP1)
Deutlich wird hier, dass die Entwicklung der Module mit ihrer Auslieferung und Anwendung in der Schule keineswegs abgeschlossen ist. Vielmehr lässt sich jede Auseinandersetzung mit einem Modul im Unterricht als ein Testlauf begreifen: Solange nichts an die Firma zurückgemeldet wird, geht man dort davon aus, dass alles in Ordnung ist. Neben einem solchen eher zufälligen Aufmerksamwerden auf Fehler gibt es aber auch ein stärker planmäßiges Verfahren der Fehlersuche, in das ebenfalls Schüler/innen eingebunden werden. Ein Entwickler berichtet:E: Also, ehm, ist uns auch im Nachhinein aufgefallen, dass es immer mal wieder Module bei uns gab, die nicht vollständig didaktisch durchgedacht sind. Also entweder haben da zu wenig Leute draufgeschaut oder das wurde halt nicht akribisch genug gemacht, dass es da immer noch kleine Fehler gibt, ne, auch in den Modulen, die es bisher gibt.I: Mhm. Habt ihr die didaktischen Fehler also ohne Hilfe der Lehrer sozusagen selber ausfindig gemacht, oder wie lief das?E: Oder mithilfe anderer Lehrer, das ist immer ganz interessant. Also zum Beispiel das Gymnasium X hat ja, die haben ja da ihre Gruppen, ihre AG drauf angesetzt. Und die schreiben uns da seitenweise die Protokolle voll so von wegen, da gibt's nen Fehler, da gibt's nen Fehler, da gibt's nen Fehler. Also, es gibt immer was, ne Kleinigkeit, die man selbst übersieht, die die Lehrer dann auch übersehen. Muss man sich dann halt im Nachhinein noch mal dransetzen. (I1)
Das Unternehmen konnte mithilfe dieser Verfahren seine Produkte einem kontinuierlichen Praxistest unterziehen und bekam aus der laufenden unterrichtlichen Praxis oder aus der gezielt hierauf angesetzten AG Informationen über die Tauglichkeit sowie über die Korrektur- und Aktualisierungsbedürftigkeit der Module. Lehrkräfte und Schüler/innen wurden in diesen Prozess eingebunden und betätigten sich auf diese Weise gewissermaßen als Produkttester. Indem sie Fehler beobachteten – darunter etwa Formulierungsfehler im Text, inhaltliche Probleme in der visuellen Darstellung, aber auch veraltete Beispiele, die ausgetauscht und aktualisiert werden sollten –, schriftlich in einer Liste sammelten und diese von Zeit zu Zeit an das Unternehmen zurückmeldeten, initiierten sie eine Überarbeitung des Moduls. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Screen-Technologie nur als geschlossene Technik verfügbar ist, denn der Code des Softwareprogramms wird vom Unternehmen nicht herausgegeben – es zirkulieren nur Versionen der Software in den Schulen, die dann erprobt werden können. Das heißt: Die unternehmensintern produzierte Version wird einem weiteren Erprobungs- und Überarbeitungszyklus unterzogen und die Herstellung des digitalen didaktischen Objektes über die Zeit hin ausgedehnt; zugleich wird der Programmcode vom Unternehmen machtvoll geschützt.[
Das Unternehmen war aber nicht nur vermittelt über die von ihm hergestellten Lernmodule und die von ihm vertriebene Hardware im Unterricht präsent. Vielmehr zirkulierten auch Mitarbeiter/innen des Unternehmens in die Schulorganisation. Die „Unternehmensmitarbeiter/innen-als-Lehrpersonal" assistierten bei der Einführung und Erprobung neuer Soft- und Hardwareprodukte im Schulunterricht, sorgten für die richtige technische Umgebung, erledigten die erforderlichen technischen Handgriffe und übernahmen Erläuterungen zur Verwendung der Technologie. Dies geschah in unregelmäßigen Abständen und meist auf Nachfrage von Lehrkräften. Mitarbeiter/innen des Unternehmens kamen dann in die Schule, um neue Technologien für den versuchsweisen Einsatz im Unterricht zur Verfügung zu stellen und ihre Anwendung zu begleiten. Im von uns beobachteten Zeitraum in einer Projektschule betraf dies vor allem eine neuere VR-Technologie. Es handelte sich dabei um eine Virtual-Reality-Brille bzw. ein „Head Mounted Display" mit zugehörigem Controller, die über sogenannte Basisstationen mithilfe von Infrarotlasersignalen geortet werden. Über das so ermöglichte Bewegungstracking können sich Nutzer in einem virtuellen dreidimensionalen Raum bewegen oder Objekte untersuchen, während das Bild aus der VR-Brille zusätzlich auf einen externen Bildschirm übertragen wird, sodass auch Umstehende das jeweilige Szenario beobachten können. Im Beobachtungszeitraum wurde die VR-Brille bei zwei verschiedenen Gelegenheiten eingesetzt.
Eine davon war der Einsatz im Rahmen einer Unterrichtseinheit zur Astronomie. Kern dieser Einheit war die Planung einer Marsmission, die über zwei mal zwei Unterrichtsstunden verteilt wurde. Die Schüler/innen wurden in Gruppen aufgeteilt und beschäftigten sich mit einer Reihe verschiedener Aufgaben: Die „Konstrukteur/innen" bauten das Pappmodell einer Rakete, die „Wissenschaftler/innen" berechneten die Menge der benötigten Vorräte, die „Pilot/innen" berechneten die Flugdauer und erörterten die Tücken einer Landung auf der Marsoberfläche. Alle diese Schüler/innen beschäftigten sich im Rahmen der Unterrichtseinheit zwischenzeitlich auch einmal mit dem „Marsmodul", einer für die VR-Brille entwickelten Software, die von der Lehrkraft für diese Unterrichtseinheit ausgesucht und von Mitarbeiter/innen des Unternehmens vorinstalliert wurde. Das Programm ermöglicht die virtuelle Begehung einer Marslandschaft, bei der Informationen etwa zur Beschaffenheit der Marsoberfläche, zur Temperatur und zu geographischen Gegebenheiten vermittelt werden, enthält aber auch interaktive Aufgaben wie die Durchführung von Schweißarbeiten an einem beschädigten Marsrover, der bei einem herannahenden Sturm unter Zeitdruck repariert werden muss (siehe Abb. 3).
Graph: Abb. 3 Marserkundung
Für die Durchführung des „Marserkundungs-Events" – so der Ausdruck einer Lehrkraft – stellte das Unternehmen zwei Mitarbeiter/innen ab. Sie waren eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn vor Ort, brachten die Hardware vom Transporter in den Unterrichtsraum, bauten die Basisstationen auf, nahmen die Verkabelung vor und machten die VR-Brille einsatzbereit. Während die erfahrenere Mitarbeiterin das Geschehen beaufsichtigte, war der jüngere Mitarbeiter dazu abgestellt, die Schüler/innen einzuweisen, ihnen die Handhabung der Brille und des Controllers zu erklären und ihnen dabei zu helfen, sich richtig zu bewegen und die Aufgaben zu lösen – etwa: Ersatzteile am Marsrover auszutauschen. Ein Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll beschreibt den Ablauf detailliert:Zwei Schüler betreten den Raum. Sie wirken etwas zurückhaltend, woraufhin der jüngere Mitarbeiter ihnen zuruft: „Kommt ruhig rein, wir beißen nicht. Wollt Ihr's mal ausprobieren?" und die VR-Brille in der ausgestreckten Hand hält. Die Schüler gehen zu ihm hin, einer von ihnen nimmt die Brille entgegen und setzt sie unter Anleitung des Mitarbeiters auf, der den richtigen Sitz des Displays überprüft. Der Schüler, dessen Sichtfeld durch die Brille vollständig abgeschirmt wird, schaut sich in alle Richtungen um: Wie auf dem Bildschirm zu sehen ist, befindet er sich in einem Korridor, vor sich eine Tür, rechts davon ein großer grüner Knopf. Der Mitarbeiter fasst die Hand des Schülers und übergibt ihm den Controller (die Hand des Schülers wird nun als Handschuh dargestellt) und weist ihn an, die Hand nach dem Knopf auszustrecken und eine Taste des Controllers zu drücken. Daraufhin öffnet sich die Tür, dahinter wird eine rötlich schimmernde Sandlandschaft erkennbar. Der Mitarbeiter weist den Schüler an, den Blick auf eine Markierung am Boden auszurichten und abermals die Taste zu drücken, woraufhin sich die Szenerie verändert und sich der Schüler plötzlich auf der Marsoberfläche befindet, die Landefähre in seinem Rücken. Er beginnt umherzugehen, den Kopf nach allen Seiten zu drehen und die Szenerie zu betrachten. In kurzer Distanz erblickt er einen Marsrover, der mit roten Markierungen versehen ist. Der Mitarbeiter erläutert ihm, dass diese Markierungen auf defekte Teile hinweisen, die repariert werden müssen. Er weist ihn an, mithilfe des Controllers ein am Boden liegendes Schweißgerät aufzunehmen, das nun in der behandschuhten Hand sichtbar wird. Unter Anleitung des Mitarbeiters bringt er das richtige Teil am Marsrover an. (BP2)
Über das Zustandekommen dieser Kooperation mit dem Unternehmen berichtet die Lehrkraft:Bei dem Film ((„Der Marsianer")) hab' ich damals gedacht, da steckt so viel drin, das kann man eigentlich im Unterricht verwerten. Diese ganze Thematik, wie schafft man Lebensraum und so. Dann hab' ich gesehen, dass es bei Steam ((ein Online-Portal für Computerspiele)) eine Mars-Software für die VR-Brille gibt. Da muss man die Gefährte, die aktuell da oben sind, wie den Marsexplorer oder den Marsrover, reparieren und kann auf der Oberfläche rumlaufen. [...] Dann habe ich mit der Firma Kontakt aufgenommen und das Ereignis geplant. Das ist ein Bereich, an dem sich der Kontakt sehr lohnt, dass man dann diese technischen Möglichkeiten hat. (I3)
Das Unternehmen trat hier als Lieferant für neue Technologien in Erscheinung, die von Lehrkräften angefragt und probeweise im Unterricht eingesetzt werden konnten. Die Projektschule hatte damit nicht nur Zugriff auf die Module für den Screen, die ihre Lehrkräfte mitentwickelt haben sowie auf alle anderen verfügbaren Module, die von anderen Akteuren wie Chemieunternehmen oder Hochschulstudenten entwickelt wurden: Die Unternehmenskooperation sicherte ihr auch den Zugriff auf Technologien, die bislang noch nicht Bestandteil des unterrichtlichen Geschehens waren. Die Lehrkräfte konnten auf diese Weise relativ spontan neue Unterrichtsideen umsetzen, mit den neuen technischen Möglichkeiten experimentieren und auf diese Weise auch neue Unterrichtskonzepte entwickeln. Das Unternehmen stellte dabei nicht nur die Technik selbst zur Verfügung, sondern auch das nötige Know-how im Hinblick auf ihre Instandsetzung und richtige Handhabung. Im obigen Ausschnitt wird dies deutlich: Schritt für Schritt weist der Mitarbeiter den Schüler in die richtige Handhabung ein, erläutert ihm den Gebrauch der Brille und des Controllers, weist ihn zu bestimmten Handgriffen an und begleitet ihn so durch das Programm.
Diese Einweisung unterscheidet sich dabei in keiner Weise von entsprechenden Einweisungen, wie sie das Unternehmen interessierten Besuchern etwa von Messen oder Kongressen zuteilwerden lässt, wie mehrfach beobachtet werden konnte. Dies verweist darauf, dass dieser Technologie- und Wissenstransfer in die Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens eingebunden ist, das auf diese Weise Gelegenheit erhält, seine Produkte einer potenziell interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren und sich als Ansprechpartner im schulischen Kontext zu etablieren. Darüber hinaus profitiert das Unternehmen auch insofern von solchen Präsentationen, als es sich auch hier um Testläufe handelt: Die Mitarbeiter/innen sorgen nicht nur für die Einsatzbereitschaft der Technik und geben Hinweise und Hilfestellung, sondern sie beobachten auch, was geschieht und melden ihre Beobachtungen an das Unternehmen zurück, das auf diese Weise Informationen zu Einsatzmöglichkeiten, zu Entwicklungsideen weiterer Lernumgebungen und zu Schwierigkeiten in der Praxis erhält. Das heißt: Die Schule ist für beide Seiten ein Experimentierfeld für neue Technologien.
Für das Unternehmen ergibt sich aus solchen Unterrichtsbesuchen noch ein weiterer Nutzen, wie sich bei einer weiteren Verwendung der VR-Technologie zeigte. In diesem Fall handelte es sich um eine für die universitäre medizinische Ausbildung entwickelte Software, die versuchsweise im Biologieunterricht eingesetzt wurde. Im Zentrum stand hier ein übergroßes, dreidimensionales Modell des menschlichen Herzens, an dem dessen Aufbau und Funktionsweise untersucht, der Blutkreislauf beobachtet, virtuelle Schnitte gemacht und Funktionsstörungen simuliert werden konnten (vgl. Kalthoff und Cress [
Graph: Abb. 4 Herzerkundung
Die VR-Technologie sorgte auf diese Weise nicht nur für eine „Eventisierung" des Biologieunterrichts, sondern ermöglichte es dem Unternehmen auch, das Geschehen für eigene Zwecke in Szene zu setzen. Dies zeigt ein weiterer Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll:Plötzlich kommt die Lehrkraft mit einem fahrbaren Tisch zur Tür herein. Sie wird von mehreren Schüler/innen begleitet, die Gummihandschuhe tragen. Auf dem Tisch befinden sich eine Schale mit einem blutigen Tierherzen und Präparationsbesteck, wie sie bei der Sektion im Nebenraum verwendet werden. Die Lehrkraft positioniert den Tisch in wenigen Metern Abstand vor dem Bildschirm und der Schülerin, die gerade die VR-Brille ausprobiert. Die Schüler/innen versammeln sich um den Tisch und die Lehrkraft beginnt mit der Präparation, indem sie das Herz aus der Schale nimmt und den Schüler/innen den Aufbau erläutert. Währenddessen nimmt die Firmenmitarbeiterin eine Kamera zur Hand und beginnt, Fotos zu machen, wobei sie nicht nur die Präparation einfängt, sondern auch darauf achtet, die Nutzerin mit der VR-Brille und die umstehenden Schüler/innen mit auf das Bild zu bekommen. Die Schüler/innen versammeln sich dabei so um den Tisch, dass niemand mit dem Rücken zur Kamera steht. (BP3)
Zu beobachten ist hier eine gezielt für die Herstellung werbewirksamer Fotos durchgeführte Inszenierung: Weil die Präparation der Tierherzen und der Einsatz der VR-Brille in zwei unterschiedlichen Unterrichtsräumen lokalisiert ist, das Foto aber beides gleichzeitig festhalten soll, wird die Präparation kurzerhand vorübergehend in den zweiten Raum verlegt. Die Positionierung des Tisches, die Anordnung der Körper am Tisch und die Aktionen der Lehrkraft sind dabei ganz auf das beabsichtigte Motiv abgestimmt: Zu sehen ist die Lehrkraft mit einem blutigen Herzen in der Hand, die den Schüler/innen mit Zeigegesten dessen Aufbau und das Ansetzen des Skalpells erklärt, sowie interessierte Schüler/innen, die diesen Ausführungen aufmerksam folgen, während im Hintergrund eine Schülerin mit VR-Brille und Controller experimentiert und das Modell des Herzens auf dem externen Bildschirm erscheint.
Die Kooperation zwischen Schule und Unternehmen ist insofern auch in dieser Hinsicht reziprok angelegt: Während die Schule Zugriff auf neue Technologien bekommt und diese im Unterricht einsetzen kann, profitiert das Unternehmen nicht nur davon, seine Expertise und die ihm zur Verfügung stehenden Technologien einer schulinternen Öffentlichkeit zu präsentieren und ihren Einsatz zu beobachten, sondern es produziert auch gezielt Dokumentationen hiervon, die sie anschließend im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit einsetzen kann.
Über den bekannten techniksoziologischen Befund hinaus, dass die Produktion von Technologie nicht nur ein technisches, sondern auch ein soziales Unterfangen ist (siehe nur Lutz [
Die Kooperationsbeziehung war gekennzeichnet durch drei Phasen, in deren Verlauf die ökonomische, technische und didaktische Rationalität bzw. Expertise unterschiedlich relevant und miteinander vermittelt wurden. In der Planungsphase, in der Lehrkräfte Vorschläge für die Erstellung neuer Module formulierten, kam der von den Entwickler/innen vertretenen ökonomischen und technischen Rationalität, die diese Vorschläge einer Prüfung unter Gesichtspunkten der Rentabilität und Umsetzbarkeit unterwirft, eine limitierende und kanalisierende Funktion zu. Diese Vermittlung zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren setzte sich in der Realisierungsphase, in der Lehrkräfte Materialien zur Verfügung stellten und mit den Entwickler/innen Storyboards diskutierten, innerhalb des zuvor ausgehandelten Rahmens fort, wobei die ökonomische Rationalität in den Hintergrund trat und der didaktischen Rationalität nun ihrerseits eine überprüfende und korrigierende Rolle im Hinblick auf die Entwürfe der Entwickler/innen zukam. In der Testphase schließlich, in der sich das entwickelte Objekt im Rahmen der didaktischen Praxis bewähren musste, spielten Aushandlungsprozesse über ökonomische und technische Fragen kaum noch eine Rolle: Die Rückmeldung über Fehler und Probleme und die Realisierung von Modifikationen fanden in einem eng gesteckten, nicht mehr weiter verhandelbaren Rahmen statt. Der hier beschriebene Entwicklungsprozess lässt sich damit als ein sukzessiv fortschreitender Prozess der Schließung betrachten, an dessen Ende ein weitgehend fertiges und marktfähiges Objekt stand, in das die zuvor verhandelten Logiken bzw. Rationalitäten implementiert wurden. Das digitale didaktische Objekt erscheint dabei als eine zirkulierende Referenz (Latour [
Motiviert und getragen wurde diese Kooperationsbeziehung letztlich von bestimmten Gewinnen, die beide Seiten für sich erwarten und reklamieren konnten: Während sich die Lehrkräfte mit Unterstützung der Software-Expert/innen ein auf ihre praktischen Bedarfe hin zugeschnittenes Unterrichtsmaterial schafften, intendierte das Unternehmen, über den Einbezug didaktischer Expertise und fachlichen Erfahrungswissens sicherzustellen, dass es für seine Produkte einen Markt gibt. Darüber hinaus verfügten Lehrkräfte infolge der Kooperation über Zugang zu neuesten Technologien, die sie im Unterricht einsetzen, mit denen sie nun experimentieren und die sie auf ihre Eignung für die künftige Unterrichtspraxis hin beobachten konnten. Umgekehrt ermöglichte die Abstellung von Mitarbeiter/innen für den Unterricht dem Unternehmen nicht nur eine entsprechende Außendarstellung, sondern erlaubte ihm auch eine Marktbeobachtung, die die Verbesserung bestehender und die Entwicklung neuer Objekte stimulierte.
Das Unternehmen versuchte durch diese Kooperation ein Wissensdefizit zu bearbeiten – und zwar seine fehlenden didaktischen Erfahrungen und Kenntnisse darüber, wie fachliche Inhalte für den Schulunterricht sinnvoll anzuordnen und darzustellen sind und welche Beispiele und Aufgabenstellungen sich für spezifische Klassenstufen eignen. Es organisiert daher einen Wissenstransfer, indem es die Grenzen seiner Organisation temporär verschiebt und die Mitgliedschaft hybridisiert: Auch Lehrkräfte und Schüler/innen sind vorübergehend im Unternehmen und für das Unternehmen tätig. Dieser Prozess gelingt, weil das Unternehmen die Fertigung und Verbesserung des angestrebten Produktes als ein kollektives Gut etablieren und entsprechende Humanressourcen für die Kooperation innerhalb seiner industriellen Welt (Boltanski und Thévenot [
Insgesamt betrachtet zeigt dieser Fall somit eine zweifache Ausdehnung der jeweiligen Organisation: Das Unternehmen als Repräsentant der Bildungswirtschaft wurde zu einem in der Schule, die Schule als Repräsentant der staatlichen Bildungsorganisation zu einem im Unternehmen präsent gemachten Akteur. Dabei wird erkennbar, wie eine Organisation der Bildungswirtschaft lokale Erprobungsressourcen für eigene Produkte schafft und lokal gerahmte Versammlungen organisiert, die dem Austausch von Wissensaktivitäten und technischen Kompetenzen dienen. Dieser Rückgriff auf schulisches Erfahrungswissen durch das Unternehmen stellt auf je spezifische Weise auch einen Vorgriff auf den Schulunterricht dar, und zwar dadurch, dass die lokalen Aushandlungen in den didaktischen Objekten materialisiert werden: eine vorgreifende Simulation des Unterrichtsgeschehens im digitalen didaktischen Objekt. Zugleich ist das technische Objekt selbst – emblematisch der Code des Programms – geschlossen, was die Kommunikationskanäle, Handlungsmodi, Medialitäten etc. der beteiligten Akteure einschränkt, aber auch auf bestimmte Tätigkeiten, Themen und Kommunikationen ausrichtet.
Mit der hier vorgetragenen theoretischen Empirie der Fertigung digitaler didaktischer Objekte schlägt der Beitrag einen neuen Blick auf Prozesse schulischer Digitalisierung vor: Neue Technologien und digitale Objekte und die mit ihnen verbundenen Transformationsprozesse werden auf die Logiken bezogen, die mit ihrer Produktion verbunden sind. Diese Objekte stellen den schulischen Stoff auf neue, dreidimensionale Weise da und machen ihn damit auf neue Weise verfügbar. Dieser curricular vorgesehene schulische Stoff selbst ist gar nicht neu, sondern bereits in anderen Medien – wie etwa Schulbüchern – dokumentiert. Es handelt sich also nicht um neue Unterrichtsinhalte, sondern um bereits bestehende, aus denen für die Darstellung selektiert wird. In diesem Sinne „pfropft" (Rheinberger [
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By Torsten Cress and Herbert Kalthoff
Reported by Author; Author
Torsten Cress. Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Bildung und Digitalisierung, Soziologie der Sozialen Arbeit, Praxistheorie, Materielle Kultur, Religionssoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Sakrotope. Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken, 2019; Materialität und Digitalität. Zur strukturellen Transformation von Lehr‑/Lernpraktiken in schulischen Digitalisierungsprozessen, in: Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, 2021; (Hrsg. mit H. Kalthoff & T. Röhl) Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, 2016.
Prof. Herbert Kalthoff. Dr. rer. soc., Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Finanzsoziologie; Theorien des Wissens, der Kultur und der Materialität der Praxis. Ausgewählte Veröffentlichungen: (Hrsg. mit S. Hirschauer und G. Lindemann) Theoretische Empirie. Die Relevanz qualitativer Forschung, 2019; (mit H. Link) Zukunftslaboratorien. Technisches Wissen und die Maschinenwesen der Robotik, in: D. Dizdar et al. (Hrsg.), Humandifferenzierung. Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen, 2021; (mit K. Engert) Die universitäre Bewertung. Organisatorische Rahmen und die Einsätze der Mitglieder, in: F. Meier & T. Peetz (Hrsg.), Organisation und Bewertung, 2021.