Knaller, Susanne ; Pany-Habsa, Doris ; Scholger, Martina (Hrsg.): Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt. Bielefeld : transcript, 2020 (Edition Kulturwissenschaft, 214). – ISBN 978-3-8376-4961-1. 246 Seiten, € 39,00.
Schreiben ist heutzutage Gegenstand wissenschaftlicher Studien und Reflexionen in sehr unterschiedlichen Disziplinen (wie z. B. den Literaturwissenschaften, Kunstwissenschaften, Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften), deshalb sind die einzelnen Teilbereiche der Schreibforschung aus einer umfassenden interdisziplinären Sicht zu erörtern. Einen vielfältigen Einblick in diese komplexe Problematik bietet der Sammelband Schreibforschung interdisziplinär. Praxis – Prozess – Produkt, der im Jahre 2020 von Knaller, Pany-Habsa und Scholger herausgegeben wurde. Schreiben gilt im Sinne der Herausgeberinnen als eine der wichtigsten menschlichen Kulturtechniken, die „die sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Möglichkeiten des modernen Menschen" (
Der Band gliedert sich in die drei Teile Theorie und Praxis, Assemblagen und Schreibszenen sowie Textformationen und Konstellationen, die aufschlussreiche Beiträge mit theoretischen und methodologischen Ansätzen aus unterschiedlichen Perspektiven umfassen: „Der Schwerpunkt des Sammelbandes liegt somit auf einem theoretischen Erkenntniszugewinn nicht nur für die jeweils eigene Disziplin, sondern auch für andere Fachbereiche, und eröffnet damit die Frage nach dem Transfer und der Anwendbarkeit der jeweiligen Modelle in der Forschungs- und Vermittlungspraxis" (10–11).
Der erste Teil Theorie und Praxis beinhaltet sechs Beiträge, die verschiedene theoretische Ansichten auf das Schreiben entwerfen und deren Konsequenzen für die Schreibforschung anhand von konkreten Beispielen aufzeigen. Hoffmann befasst sich mit Schreibpraktiken im Forschungsprozess. Er analysiert die Annotationen von Martin Heidegger in seinem Handexemplar von Ernst Jüngers Der Arbeiter, das Beobachtungsjournal des Zoologen Karl von Frisch und die Notizen des Physikers und Philosophen Ernst Mach, um die Frage zu beantworten, wie solche Schreibverfahren wie Ordnen, Eingrenzen, Verfügbar-Machen sowie Entfalten das Denken und Handeln im Forschungsprozess stützen und instruieren. Karsten betrachtet in ihrem Beitrag das Schreiben aus der Sicht der dialogischen Sprachwissenschaft und der soziokulturellen Psychologie. Mit Hilfe der qualitativen Methode der Videokonfrontation veranschaulicht sie die verschiedenen Ebenen der dialogischen Struktur des Schreibprozesses (Schreiben als Dialog mit Lesenden, mit den Konventionen einer Diskursgemeinschaft, mit sich selbst). Dengscherz stellt das empirisch fundierte PROSIMS-Schreibprozessmodell vor, das „auf die Wechselwirkungen von Strategien/Routinen und heuristischen bzw. rhetorischen Anforderungen und Herausforderungen in Schreibsituationen" (
Mit dem zweiten Teil Assemblagen und Schreibszenen, der aus drei Beiträgen besteht, bekommen wir einen mehrperspektivistischen Blick auf das literarische Schreiben, indem unterschiedliche Schreibpraktiken aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht erkundet werden. Ortlieb plädiert für eine Literaturgeschichte der Objekte und verknüpft eine literaturwissenschaftliche Objektforschung mit neueren Ergebnissen der Schreibprozessforschung. Am Beispiel der Umwerbungen und Liebesbezeugungen in den Korrespondenzen von Johann Wolfgang von Goethe und Ulrike von Levetzow sowie von Stéphane Mallarmé und Méry Laurent lassen sich sowohl die Dinglichkeit von Schrift als auch die Schriftlichkeit von Dingen veranschaulichen. Ehrmann befasst sich mit den Praktiken des poetischen Schreibens im interaktionistischen Sinne. Literarisches Schreiben wird hier als kontextsensitive Praxis verstanden, die nicht nur den eigentlichen Schreibprozess, sondern auch alle Handlungen umfasst, die „von diesem Schreiben als Szene, oder als Repräsentation, oder als Artefakt ausgehen" (
Der dritte Teil Textformationen und Konstellationen setzt sich aus vier Beiträgen zusammen, die bisher wenig beachtete Textsorten und -formen neben dem literarischen Schreiben thematisieren. Schärf verweist in seinem Beitrag auf solche Parameter, die literarisches von nichtliterarischem Schreiben unterscheiden. Er geht dabei von der doppelten Anschließbarkeit eines Satzes aus, der sich zugleich in den vorgegebenen Kontext stellt und neue Kontexte schafft. Der Autor stellt fest, dass ein literarischer Satz am Grad seiner Selbstreflexivität bemessen werden kann. Pichler beschreibt die Funktion und den Status von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im modernen Rechtssystem. Den Gegenstand ihrer Überlegungen bildet die Textsorte Protokoll, die Rede und Schrift im Recht miteinander verbindet. Die besondere Ambivalenz dieses schriftlichen Akts in der Rechtsprechung zeigt der Autor am Beispiel der im Protokollstil verfassten Werke des österreichischen Autors Albert Drach auf. Seine Texte sind als Kritik an einer einseitigen Rechtsprechung zu deuten, die insbesondere gegen Randgruppen gerichtet ist. Scholger untersucht die spezifischen Eigenschaften des Notizbuches, das als Ideenspeicher für künstlerische Werkkonzepte gilt, auf ästhetisch-materieller, konzeptionell-inhaltlicher und dokumentarischer Ebene. Die Autorin betrachtet das Notizbuch als eigenständiges Metakunstwerk, das „einen sehr persönlichen Einblick in künstlerische Arbeitsmethoden und Schaffensprozesse [erlaubt], die in ihrer ungeschliffenen Form der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben" (
Resümierend kann festgestellt werden, dass der hier besprochene Sammelband eine sehr wertvolle Publikation darstellt, die einen klaren Überblick über schreibtheoretische Modelle aus unterschiedlichen Disziplinen verschafft. Die Autorinnen und Autoren der versammelten Beiträge fokussieren auf zahlreiche Textformen und Schreibsituationen, die für einzelne Fachbereiche und Disziplinen charakteristisch sind. Darüber hinaus wird auf produktive Schnittstellen von Theorie und Praxis sowie Synergien aufmerksam gemacht, die für das jeweils eigene Fach effektiv angewendet werden können. Das Buch ist allen zu empfehlen, die am Prozess der Entstehung unterschiedlicher Texte interessiert sind. Durch die Lektüre können wir nicht nur die materiellen und technologischen Grundlagen der Texte entdecken, sondern auch die Arbeitsweisen von Autorinnen und Autoren, ihren Lebenshintergrund und ihr Umfeld besser kennenlernen, die zur Erarbeitung ihrer Texte maßgeblich beigetragen haben.
By Mariusz Jakosz
Reported by Author