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Kritik über Flashar (2020): Hellenistische Philosophie.

Kerkmann, Jan
In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 24 (2021), Heft 1, S. 192-200
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Kritik über Flashar (2020): Hellenistische Philosophie 

Flashar, Hellmut

Hellenistische Philosophie Wien Passagen Verlag 2020 140 € 16,40 978-3709204078

Es sind insbesondere zwei ideengeschichtliche Modelle, welche das Bild der hellenistischen Philosophie, beginnend um 300 v. Chr. mit den epikureischen und stoischen Schulgründungen sowie mit Marc Aurels Tod im Jahre 180 n. Chr. endend, in der Nachwelt maßgeblich geprägt haben. Zum ersten habe der – mit der makedonischen Expansion Alexanders einhergehende – außenpolitische Bedeutungsverlust Athens eine Erosion des sozialen und kulturellen Wertegefüges evoziert, die mit einem „Rückzug ins Private" (14) beantwortet worden sei. Aus einer melancholischen Zeitdiagnose entspringend, mussten philosophische Systeme attraktiv erscheinen, welche die Tugenden der Selbstgenügsamkeit, der Zurückhaltung und des bescheidenen Glückes hochhielten. Zum zweiten – und darauf aufbauend – habe sich der Fokus nach den spekulativ-prinzipientheoretischen Höhenflügen Platons von der Ontologie und Metaphysik hin zur Ethik und Physik verlagert.

Dass diese Narrative durchaus ihre Berechtigung besitzen, aber differenziert bewertet werden müssen, dies möchte der emeritierte Altphilologe Hellmut Flashar in seiner unlängst erschienenen Monographie zur hellenistischen Philosophie zeigen. Die als Einführung konzipierte Abhandlung gliedert sich in insgesamt elf Kapitel (inkl. Ausblick). Über die prägnante Darstellung der drei Hauptströmungen (Epikur, 19–34; die Stoa, 35–58; Kyniker und Skeptiker, 59–65) und der jeweiligen ethischen, kosmologischen und erkenntnistheoretischen Konzeptionen hinausgehend, widmet sich Flashar dabei auch der Entwicklung der Akademie respektive des Peripatos ab 300 v. Chr. (67–74).

Die Exposition der stoischen Lehre nimmt den größten Umfang innerhalb des schmalen Bandes ein, was angesichts ihrer langen Tradition nicht überraschend ist. Auf der Basis des unangefochtenen Grundziels der Apatheia (Leidenschaftslosigkeit) und unter Berufung auf die Richtkraft der Vernunft wurden die Theoriegehalte zwischen Zenon, Chrysipp, Poseidonios und Marc Aurel immer wieder modifiziert. Es kann als eine sinnvolle Entscheidung herausgestellt werden, dass Flashar mit Lukrez, Cicero und Seneca auch die zentralen römischen Vermittlungsautoren für die epikureische (Lukrez, 79–83), die skeptisch-akademische (Cicero, 85–102) und die stoische Philosophie (Seneca, 103–112) in separaten Kapiteln diskutiert. Gleichwohl wäre es etwa in Anbetracht der wegweisenden Forschungen Malte Hossenfelders[1] produktiv gewesen, die von Pyrrhon (362–270 v. Chr.) inaugurierte, antike Skepsis vertiefend zu erörtern. So hätte einerseits konturiert werden können, auf welchem Wege und weswegen Pyrrhon sowie sein Schüler Timon (320–230 v. Chr.) das – mit den Epikureern und den Stoikern geteilte – Telos der unerschütterlichen Gemütsruhe zu erreichen suchten. Andererseits wäre es in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive lehrreich gewesen, die epistemologischen Strategien des antiken, methodischen Zweifelsprozesses herauszuschälen. Die enorme Wirkmacht dieser Gedankenfigur bezeugt sich wohl am prominentesten in Descartes' bedrohlicher Gestalt des Genius malignus; sie wird jedoch ex negativo auch in Berkeleys Aufdeckung der skeptischen Implikationen von Lockes Abbildtheorie virulent. Nicht zuletzt ist es Hegel, der den ‚sich vollbringenden Skeptizismus' in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) in die Selbstaufhebung führen möchte.

Es ist sowohl in chronologischer wie auch in thematischer Hinsicht mehr als verständlich, dass Flashar sich zunächst „Epikur und seine[r] Schule" (19–34) widmet. Der aus Samos stammende Epikur (341–270 v. Chr.) kam um 310 v. Chr. nach Athen und gründete seine Schule im Alter von 35 Jahren. Beheimatet in dem namensbildenden Garten (Kepos), wusste sich diese Schule durch das Ideal der Freundschaft getragen, wurde aber auch von der dogmatischen Befolgung der Lektionen Epikurs bestimmt. Bezüglich der Lehrentfaltung zeichnet Flashar zuvorderst nach, weswegen sich die – in der Nachfolge des Aristoteles zumeist getrennt behandelten – Bereiche der Ethik, Physik und Logik bei Epikur zu einer inneren Einheit koordinierten.

Unter anderem im Rückgriff auf die bemerkenswert problembewusste Dissertation von Karl Marx: Über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (1841) werden Epikurs wesentliche Abweichungen von dem Atomismus Demokrits (460–370 v. Chr.) benannt. Ging Demokrit noch von regellosen Zusammenballungen der unteilbaren und unvergänglichen Atome inmitten des leeren Raumes aus, integriert Epikur mit der „Declination" (24) eine Bewegungstendenz von Oben nach Unten. Indem er zusätzlich eine potenzielle Ausscherungsdynamik der Atome zulässt, sichert Epikur die Freiheit des menschlichen Willens. Flashar tritt in diesem Zuge der doxographischen Lesart entgegen, dass Epikur die Physik und die sensualistische Erkenntnislehre allein deswegen exponiert habe, um seine hedonistische Ethik zu bekräftigen. Nichtsdestotrotz ist es unter kosmologischen und theologischen Gesichtspunkten signifikant, dass Epikurs abgewandelte Atomistik eine praktische Verwurzelung im Diesseits maßgeblich forciert. Epikur kann nämlich auf die Hypothese einer Schöpfung der Welt aus dem Nichts verzichten, die eine transzendente Handlungsinstanz präsupponieren würde. Ostentativ gegen Platon gewendet, sucht er mit der Negation einer Unsterblichkeit der Seele auch die Todesfurcht zu beheben. Da sich die Seele nach dem Tod wieder in Atomkombinationen auflöse, ist die personale Identität für Epikur unausweichlich an den Leib gebunden.

Der entscheidende und hochumstrittene Schlüsselbegriff der Philosophie Epikurs ist derjenige der Lust (ἡδονή). Sicherlich wäre es erhellend gewesen, wenn an diesem Ort die – vor dem Hintergrund eines ursprünglich nahezu unüberschaubaren Schriftencorpus von über 300 Buchrollen – wenigen erhaltenen Werke Epikurs (wie beispielsweise der ermutigende Brief an Menoikeus) stärker einbezogen worden wären. Dennoch kann Flashar stichhaltig untermauern, dass Epikur unter der Lust nicht primär die affektive Triebbefriedigung versteht. Flankiert durch eine historische Verortung, veranschaulicht Flashar, dass Epikur das Streben nach Lust respektive nach individuellem Wohlbefinden in der Nachfolge des Mathematikers Eudoxos von Knidos (ca. 397–345 v. Chr.) und des Sokrates-Schülers Aristipp von Kyrene (435–355 v. Chr.) als intrinsische Kerneigenschaft jedes Lebewesens entschlüsselt. Wissenswert ist darüber hinaus, dass die neutral-zuständliche Lust bereits von Aristipp mit der berühmten Metapher der „Meeresstille" (vgl. 27) umschrieben wurde.

Obzwar Epikur eine kinetisch-kurzfristige, unweigerlich neue Bedürfnisse und Leiden entfachende Lustpraxis vehement ablehnt, wurde er in der Tradition immer wieder als Apologet einer augenblickshaften Genussmaximierung interpretiert. In Wahrheit votiert Epikur für die Ausübung einer möglichst beständigen („katastetischen", 28), schmerzfreien und rational kalkulierten Lust. Zudem ist Epikurs Lustlehre nicht so antiplatonisch, wie eine ephemere Begriffsübersicht vermuten ließe. Insofern nämlich Platon im Philebos der intellektuellen „Lust des Geistes den absoluten Vorrang" (26) eingeräumt hatte, könnte er in Epikurs Ethos des seelischen Gleichgewichtes einen würdigen Nachfolger gefunden haben. Der Verf. kann demonstrieren, dass Epikur die angesichts der Affektbestimmtheit respektive Kontingenz des menschlichen Lebens wirklichkeitsfremd scheinenden Zustände der permanenten Gleichmut und der anhaltenden Freude tatsächlich für erreichbar hielt. Flashar problematisiert allerdings zweierlei: Mit der späteren Kritik der Stoa übereinstimmend, hinterfragt er, ob die in der epikureischen Ataraxie intendierte Vermeidung von Schmerzen, Leiden und Wechselfällen nicht in einer weitreichenden Verarmung beziehungsweise Selbstrestriktion des facettenreichen Lebensphänomens mündet. Des Weiteren bezweifelt er, ob die angestrebte Meeresstille des Gemüts überhaupt noch als ein positiver Zustand der Lust gefasst werden kann (vgl. 29). Dass Epikur selbst im tiefen Einklang mit seiner Lehre stand, wird daran palpabel, dass er trotz intensiver Schmerzen noch am Ende seines Lebens eine milde und heitere Grundstimmung bewahrte.

Innerhalb des Panoramas der hellenistischen Philosophie darf nach der Erörterung des epikurischen Lehrgebäudes, das von seinen Schülern ohne nennenswerte Korrekturen beibehalten wurde, der Auftritt der philosophischen Hauptkonkurrenz nicht fehlen: Gemeint ist die Stoa, die Zenon (332–262 v. Chr.) als Zeitgenosse Epikurs um 300 v. Chr. ebenfalls in Athen begründete. Aufgewachsen in der phoinikischen Gründungsstadt Kition, gelangte Zenon als junger Student nach Athen, wobei ihn der weithin ausstrahlende Ruf der platonischen Akademie zu dieser Reise animierte. Der Bildungsweg des jungen Zenon weist somit augenfällige Parallelen zu Epikur auf. Da er – im Gegensatz zu Epikur – das athenische Bürgerrecht nicht besaß, durfte Zenon als Metöke jedoch keine eigenen Liegenschaften erwerben, um dort eine Schule aufzubauen. Obgleich die platonische Akademie in ihrer Hochschätzung der Vernunft, der Kritik des Sensualismus und der ethischen Ernsthaftigkeit ihrer Tugenddefinition eine gewichtige Nähe zu seinen anfänglichen Grundintuitionen offerierte, konnte sich Zenon ihr nicht vorbehaltlos anschließen. Zenon vertrat einen materialistisch eingefärbten Pantheismus und musste Platons Annahme transmundaner Ideen folgerichtig ablehnen. Deswegen diskutierte Zenon seine eigene Programmatik der „Umsetzung eines ethischen Zieles nach einer philosophischen Norm" (16) zunächst in einer bemalten Säulenhalle („Stoa Poikile", vgl. 17) in Athen, worauf der überlieferungsformende Name der Stoa etymologisch zurückgeht.

In seiner Schilderung des Herzstückes der Zenonschen Lehre beginnt Flashar mit der ebenso prominenten wie inhaltsindifferent anmutenden Formel, wonach der Einzelne in „Übereinstimmung mit dem Logos leben" (40) solle. Flashar spezifiziert den materialen Gehalt dieses Diktums in mehreren Schritten. Ausgehend von der metaphysischen Leitthese, dass der Mensch einen Teil des vernunfterfüllten Kosmos repräsentiert, wurzelt die existenzielle und allein glücksstiftende Aufgabe nach Zenon darin, den pantheistischen Einheitsgrund zu erkennen und in Entsprechung mit dem Willen der All-Natur zu handeln. Dies kann allein der Vernunft gelingen, weil sie einen göttlichen Funken in sich trägt, der sie in der übergreifenden Natur verankert. Hingegen fußen Affekte wie Zorn, Lust, Begierde, Trauer und Hass, aber auch Liebe und Mitleid auf falschen Werturteilen über die faktische Beschaffenheit der Natur. Sie sind demnach – wie Flashar nachdrücklich prononciert – nicht „etwas, was dem Menschen geschieht, sondern, was er tut" (40). Zur Stützung der Ethik und der anzuvisierenden Freiheit der Apatheia kann also nicht nur die Physik eine hohe Relevanz prätendieren, sofern sie die uneingeschränkte Determinationsmacht der sinnvoll ordnenden All-Natur überzeugend beweist. Obzwar er die Logik gegenüber der ethischen Lebensgestaltung deutlich abwertet, greift Zenon auf die formale Theorie des Gedankenvollzuges zurück. Die Logik soll die irrtümlichen Werturteile in einer stringenten Deduktion richtiger Schlüsse korrigieren und dergestalt den Wirkradius der Vernunft entschieden begünstigen.

Gegenüber polemischen Verzeichnungen, die den stoischen Weisen etwa als „hölzerne[r], steife[r] Gliedermann" ohne „Leben oder innere poetische Wahrheit" (Schopenhauer) illustrieren und ihn als Paradigma eines egozentrischen Tugendasketismus verdächtigen, betont der Verf. die (kosmo)politische Ausrichtung der stoischen Pflichtethik. Diese artikuliert sich bei Zenon in dem Prinzip des „Zukommende[n]" (42). Nichtsdestominder ist zu konstatieren, dass Zenons ursprüngliche Philosophie angesichts der an Rigidität kaum zu überbietenden Adiaphora-Lehre – demnach sind ausnahmslos alle Güter indifferent, ja wertlos gegenüber der Habitualisierung der Tugend – prima facie kaum die Grundlage für jenes universale Liebesgebot bilden konnte, das zum Proprium der gesamten Stoa avancierte. Die von Flashar leider nur kurz gestreifte Oikeiosis-Theorie (vgl. 41) kann indes als ein vielversprechender Ausgangspunkt anvisiert werden. Sie kann dazu dienen, die gravierendste Abweichung der Stoa gegenüber Epikur, beruhend in der emphatischen Forderung politischen Engagements, herzuleiten. Gemäß der komplexen Lehre der Oikeiosis („Zuneigung", vgl. 41) ist jedes Lebewesen von Geburt an sich selbst zugewendet, wird im Laufe der Zeit durch tentative Wahrnehmungsakte mit sich vertraut und kann die naturhafte Selbsterhaltung schließlich mit zweckgerichteter Reflexion verfolgen.

Da jegliche Selbsterhaltung ihrerseits auf der sich in der Individuation selbst bejahenden und wollenden All-Natur fußt, muss sich derjenige Akteur zwangsläufig ihrem Handlungssinn widersetzen, der die göttliche Seelenteilhabe der Mitmenschen nicht respektiert. Er kann in diesem Falle den je schon an ihn ergangenen Auftrag der Weltvernunft nicht mehr befolgen, wonach die potenzielle Vernunftausübung anderer Individuen zu befördern ist, um eine progressive Vereinigung der All-Natur mit sich selbst zu veranlassen. Flashar zieht diesbezüglich eine stimmige Verbindungslinie zur deontologischen Ethik Kants (vgl. 123), in der die wahrhaft moralischen Handlungen – wie in der Stoa – nicht aus einem Affekt des Mitleids, der Antizipation einer erwarteten Gegenleistung oder aus utilitaristischen Erwägungen entspringen dürfen. In Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) müssen sie aus Pflicht begangen werden und lassen als einzige Gefühlsquelle die vernunftbasierte Achtung vor dem imperativischen Sittengesetz zu.

Eminent aufschlussreich sind die darauffolgenden Ausführungen zum Status der Akademie sowie des Peripatos (vgl. 67–74) während der Blütezeit der konkurrierenden Schulen Epikurs und der Stoa. Der Peripatos prolongierte unter Aristoteles' Nachfolger Theophrast (371–287 v. Chr.) die Konzentration auf naturphilosophische und einzelwissenschaftliche Forschungen. Die Akademie behandelte unter Speusipp (410–339 v. Chr.), dem Neffen Platons, und unter dem Scholarchen Xenokrates (396–313 v. Chr.) primär die henologischen Problematiken der (ungeschriebenen) Ideenlehre. Nicht nur Zenon „vermisste aber die lebendige philosophische Auseinandersetzung" (16). Nachdem die Akademie in dem hier relevanten Zeitausschnitt um 300 v. Chr. keine eigenständigen ideellen Impulse zu geben wusste, kam es erst unter den Schulleitern Arkesilaos (315–240 v. Chr.) und Karneades (214–129 v. Chr.) zu einer einschneidenden Revitalisierung.

Es sind dies mithin jene an Sokrates und Pyrrhon anknüpfenden Denker, welche die Tendenz der sogenannten skeptischen Akademie maßgeblich bestimmten. Wie Flashar exemplifiziert, ist Arkesilaos wahrscheinlich der erste Philosoph, der die „ἐποχή" (68) als ein epistemisches Vermögen benennt, das eine Ausklammerung subjektiver Urteilsformationen gestattet. Jenseits doktrinärer Systeme und verengender Überzeugungen sollte damit die sokratisch-aporetische Selbstbescheidung des ‚wissenden Nichtwissens' rehabilitiert werden. Zu Recht hebt Flashar hervor, dass diese Intention der akademischen Skepsis durchaus mit den Idealen der Ataraxie (Epikur) respektive der Apatheia (Zenon) harmoniert. Arkesilaos beschränkte den vorsichtigen Gestus der Nichtzustimmung auf „den Vorgang der Erkenntnisgewinnung" (68) und konnte damit dem Vorwurf begegnen, „seine skeptische Haltung führe zur völligen Handlungsunfähigkeit" (68).

Diese auf epistemische und abstrakte Objekte angewandte ἐποχή wurde von Karneades zu einem methodischen Probabilismus zugespitzt. Karneades' subtile Vorgehensweise bestand darin, dass er die heterogenen, existierenden Ansichten der Philosophen zu einem spezifischen Sachgegenstand versammelte, die etablierten Theorien um alle denkbaren zusätzlichen Auslegungen ergänzte und sie alsdann untereinander in ein Rivalitätsverhältnis manövrierte. Mit dieser gleichsam negativen Dialektik der konsequenten Unentschiedenheit suchte Karneades die Unmöglichkeit einer endgültigen Wahrheitsbestimmung zu dekuvrieren. Zum Zwecke der bewährenden Veranschaulichung ruft Flashar die bekannte Anekdote auf, die Karneades im Jahre 155 v. Chr. als Teilnehmer einer Gesandtschaft nach Rom zeigt (vgl. 69). Dort beeindruckte und verwirrte er die gesamte Zuhörerschaft, indem er an einem Tag einen glänzenden Panegyrikus auf die Gerechtigkeit hielt, um am nächsten Tag eine ebenso kohärente Auffächerung ihrer Nachteile zu proponieren. Wie Flashar im Kapitel zur Rezeption der griechischen Philosophie in Rom verdeutlicht, hat Cicero diese elenktische Methode des Karneades in seiner relativierenden Analytik des Wahrscheinlichen („disputatio in utramque partem", vgl. 89) adaptiert.

Eine dezidierte Stärke der Monographie äußert sich darin, dass Flashar für die kulturkreisüberbrückende Syntheseleistung der ‚mittelstoischen' Denker Panaitios und Poseidonios sensibilisiert. Der im Jahre 185 v. Chr. auf der Insel Rhodos geborene und aufgewachsene Panaitios wurde im Alter von 56 Jahren Scholarch der stoischen Schule von Athen. Im Jahre 144 v. Chr. hielt er sich zum ersten Mal in Rom auf und hat auch „später mehrfach von Athen aus Rom besucht" (48). Bleibende Freundschaften zu den renommierten Persönlichkeiten Roms stiftend, vermittelte er den Geist der stoischen Philosophie gegenüber dem Staatsmann Scipio und dem Politiker Laelius. Auf diesem Wege beeinflusste er vor allem auch Cicero, der sich in De officiis schon im Titel auf Panaitios' Schrift Über die Pflicht (περὶ τοῦ καθήκοντος) bezog (vgl. 52). Flashar apostrophiert indes auch, dass Panaitios nicht adäquat gewürdigt würde, wenn er vornehmlich als Vermittlungsagent einer an die Mentalität der römischen Welt angepassten Lehrtradition eingeordnet würde. Im Kontrast dazu, war es Panaitios, der den stoischen Schicksalsbegriff in einer originären Weise beschnitt und den bislang kaum angetasteten Determinismus durch die Normativität einer mit der Menschennatur zusammenfallenden Pflichterfüllung substituierte (vgl. 52f.).

Unmittelbar auf Panaitios folgte als Scholarch dessen „bedeutendste[r]" (53) Schüler Poseidonios, der um 135 v. Chr. in Apameia (Syrien) geboren wurde. Flashar charakterisiert ihn als einen charismatischen Denker mit „starkem Selbstbewusstsein", der „ganz eigene Wege ging" (53). Auf zahlreichen Forschungsreisen gewann Poseidonios ein nahezu enzyklopädisches Wissen, das sich in der thematischen Bandbreite seiner Schriften manifestiert. Poseidonios setzte das monumentale Geschichtswerk des Polybios bis zum ersten Mithridatischen Krieg und zur „Einnahme Athens durch Sulla" (55) fort. Darüber hinaus verfasste er ethnologische, meteorologische und astronomische Werke. Angesichts dieser mannigfachen Forschungsinteressen kann der Polyhistor Poseidonios mit einem gewissen Recht als „antike[r] Goethe" (57) nobilitiert werden.

Die biographisch geprägten Abschnitte über Panaitios' Beziehung zum sog. „Scipionenkreis" (vgl. 49f.) und die Reflexionen über Ciceros Schriften De finibus bonorum et malorum, Tusculanae disputationes sowie De fato beinhalten einige Längen. Werkarchitektonisch wäre es daher fruchtbringend gewesen, die beiden letzten großen Stoiker weit ausführlicher zu Wort kommen zu lassen. Im Unterschied zu dem janusköpfigen Seneca (1–65 n Chr.) können diese beiden Denker als Musterbilder stoischer Authentizität expliziert werden, weil sie wahrhaft nach den von ihnen verfochtenen Maximen lebten. Als römischer Sklave hat Epiktet (50–138 n. Chr.) eine einzigartige Freiheitstheorie hinterlassen, die in der vorliegenden Monographie nur peripher erfasst wird. Schließlich ist es der Kaiser Marc Aurel (121–180 n. Chr.), dem wir mit den Selbstbetrachtungen das wohl ergreifendste Dokument einer „Philosophie als Lebensform" (P. Hadot) verdanken; auch er wird sehr bündig porträtiert (vgl. 115).

Insgesamt ist zu resümieren, dass Flashar eine in einem klaren Stil geschriebene Studie verfasst hat, die trotz des beschränkten Umfanges eine eindrucksvolle Fülle von biographischen, kulturellen und ideengeschichtlichen Aspekten versammelt. An manchen Stellen wäre es wünschenswert gewesen, zugunsten des überwiegend deskriptiven Tenors eine eher problemorientierte Fragehaltung zu wählen: Welche Argumente brachten beispielsweise einzelne Stoiker vor, wenn sie die Zentraltermini von Gott, Natur oder Vorsehung umdefinierten oder deren Relevanz anders gewichteten? Gründet es in der individualistisch-unverbindlichen Fokussierung der klug arrangierten Schmerzvermeidung, dem Verzicht auf eine ambitionierte Tugendlehre und auf der ontologischen Sparsamkeit, dass Epikurs Nachfolger kaum von den Grundanschauungen seiner Lehre abwichen? Ist es hingegen der ambivalenten Verschränkung von naturalistischen und idealistisch-platonischen Elementen geschuldet, dass sich die Stoa immer wieder neu erfinden musste?

Es ist wegen des epochal-zeitlich eindeutig eingegrenzten Skopus vollkommen nachvollziehbar, dass Flashar die Rezeptionslinien der hellenistischen Philosophie nicht bis in die Neuzeit und die Moderne vertieft. Indes könnte die Wirkungsgeschichte der hellenistischen Klassiker den geläufigen Schemata eines linearen Fortschrittes oder einer Philosophia perennis konstruktiv entgegengehalten werden. Es ließe sich eine zyklische Komposition imaginieren, in der sich philosophische Frageansätze, Deutungsoptionen und Antwortkategorien innerhalb bestimmter Zeitabstände wiederholen. Dass die hellenistische Philosophie in ihrer aufrichtigen Suche nach dem guten Leben stets anschlussfähig bleibt und in ihrem reflektierten Individualismus eine hervorragende Aktualität beanspruchen kann, hätte markanter profiliert werden können, wenn in den Ausblick einige Auspizien der verborgenen Präsenz Epikurs, Zenons und Pyrrhons eingeflossen wären. So ist die Wiederkehr eines atomistischen Weltbildes in der neuzeitlichen Naturwissenschaft frappierend. Ebenfalls diskussionswürdig ist Spinozas (1632–1677) kaum zu bestreitender Rekurs auf den Pantheismus und die Affektenlehre der Stoa. Dass sich in der metaphysikkritischen Haltung der Postmoderne konstitutive Motive des antiken Skeptizismus aufspüren lassen, unterstreicht die immense Bedeutung Pyrrhons und Karneades'.

Diese kontexteröffnenden Anmerkungen können und sollen die magistrale Qualität der vorliegenden Monographie keineswegs schmälern. Philosophische Systematik, philologische Genauigkeit und historischen Kenntnisreichtum virtuos verknüpfend, bezeugt Flashars Untersuchung eine langjährige Auseinandersetzung mit der Philosophie des Hellenismus. In der bisherigen Forschung existieren bereits sehr verdienstvolle Einführungen und Standardwerke zu Epikur,[2] zur stoischen Philosophie[3] und zur antiken Skepsis.[4] Es ist also ausdrücklich zu begrüßen, dass nun eine ebenso lesenswerte wie anregende Überblicksdarstellung vorliegt, die das spannungsreiche Wechselverhältnis aller drei Schulen beleuchtet.

Footnotes 1 Vgl. Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, 2. Aufl., München 1995. 2 Vgl. Malte Hossenfelder, Epikur, 3. Aufl., München 2006. 3 Vgl. Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik, Darmstadt 2018; Anna Schriefl, Stoische Philosophie. Eine Einführung, Stuttgart 2019. 4 Vgl. Markus Gabriel, Antike und moderne Skepsis zur Einführung, Hamburg 2015.

By Jan Kerkmann

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Titel:
Kritik über Flashar (2020): Hellenistische Philosophie.
Autor/in / Beteiligte Person: Kerkmann, Jan
Link:
Zeitschrift: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 24 (2021), Heft 1, S. 192-200
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 1384-6663 (print)
DOI: 10.1075/bpjam.00079.ker
Schlagwort:
  • HELLENISTISCHE Philosophie (Book)
  • FLASHAR, Hellmut
  • INTERNATIONAL relations
  • PHILOSOPHICAL historiography
  • NONFICTION
  • Subjects: HELLENISTISCHE Philosophie (Book) FLASHAR, Hellmut INTERNATIONAL relations PHILOSOPHICAL historiography NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 0245cg223
  • Full Text Word Count: 3027

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