Flashar, Hellmut
Hellenistische Philosophie Wien Passagen Verlag 2020 140 € 16,40 978-3709204078
Es sind insbesondere zwei ideengeschichtliche Modelle, welche das Bild der hellenistischen Philosophie, beginnend um 300 v. Chr. mit den epikureischen und stoischen Schulgründungen sowie mit Marc Aurels Tod im Jahre 180 n. Chr. endend, in der Nachwelt maßgeblich geprägt haben. Zum ersten habe der – mit der makedonischen Expansion Alexanders einhergehende – außenpolitische Bedeutungsverlust Athens eine Erosion des sozialen und kulturellen Wertegefüges evoziert, die mit einem „Rückzug ins Private" (
Dass diese Narrative durchaus ihre Berechtigung besitzen, aber differenziert bewertet werden müssen, dies möchte der emeritierte Altphilologe Hellmut Flashar in seiner unlängst erschienenen Monographie zur hellenistischen Philosophie zeigen. Die als Einführung konzipierte Abhandlung gliedert sich in insgesamt elf Kapitel (inkl. Ausblick). Über die prägnante Darstellung der drei Hauptströmungen (Epikur, 19–34; die Stoa, 35–58; Kyniker und Skeptiker, 59–65) und der jeweiligen ethischen, kosmologischen und erkenntnistheoretischen Konzeptionen hinausgehend, widmet sich Flashar dabei auch der Entwicklung der Akademie respektive des Peripatos ab 300 v. Chr. (67–74).
Die Exposition der stoischen Lehre nimmt den größten Umfang innerhalb des schmalen Bandes ein, was angesichts ihrer langen Tradition nicht überraschend ist. Auf der Basis des unangefochtenen Grundziels der Apatheia (Leidenschaftslosigkeit) und unter Berufung auf die Richtkraft der Vernunft wurden die Theoriegehalte zwischen Zenon, Chrysipp, Poseidonios und Marc Aurel immer wieder modifiziert. Es kann als eine sinnvolle Entscheidung herausgestellt werden, dass Flashar mit Lukrez, Cicero und Seneca auch die zentralen römischen Vermittlungsautoren für die epikureische (Lukrez, 79–83), die skeptisch-akademische (Cicero, 85–102) und die stoische Philosophie (Seneca, 103–112) in separaten Kapiteln diskutiert. Gleichwohl wäre es etwa in Anbetracht der wegweisenden Forschungen Malte Hossenfelders[
Es ist sowohl in chronologischer wie auch in thematischer Hinsicht mehr als verständlich, dass Flashar sich zunächst „Epikur und seine[r] Schule" (19–34) widmet. Der aus Samos stammende Epikur (341–270 v. Chr.) kam um 310 v. Chr. nach Athen und gründete seine Schule im Alter von 35 Jahren. Beheimatet in dem namensbildenden Garten (Kepos), wusste sich diese Schule durch das Ideal der Freundschaft getragen, wurde aber auch von der dogmatischen Befolgung der Lektionen Epikurs bestimmt. Bezüglich der Lehrentfaltung zeichnet Flashar zuvorderst nach, weswegen sich die – in der Nachfolge des Aristoteles zumeist getrennt behandelten – Bereiche der Ethik, Physik und Logik bei Epikur zu einer inneren Einheit koordinierten.
Unter anderem im Rückgriff auf die bemerkenswert problembewusste Dissertation von Karl Marx: Über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (1841) werden Epikurs wesentliche Abweichungen von dem Atomismus Demokrits (460–370 v. Chr.) benannt. Ging Demokrit noch von regellosen Zusammenballungen der unteilbaren und unvergänglichen Atome inmitten des leeren Raumes aus, integriert Epikur mit der „Declination" (
Der entscheidende und hochumstrittene Schlüsselbegriff der Philosophie Epikurs ist derjenige der Lust (ἡδονή). Sicherlich wäre es erhellend gewesen, wenn an diesem Ort die – vor dem Hintergrund eines ursprünglich nahezu unüberschaubaren Schriftencorpus von über 300 Buchrollen – wenigen erhaltenen Werke Epikurs (wie beispielsweise der ermutigende Brief an Menoikeus) stärker einbezogen worden wären. Dennoch kann Flashar stichhaltig untermauern, dass Epikur unter der Lust nicht primär die affektive Triebbefriedigung versteht. Flankiert durch eine historische Verortung, veranschaulicht Flashar, dass Epikur das Streben nach Lust respektive nach individuellem Wohlbefinden in der Nachfolge des Mathematikers Eudoxos von Knidos (ca. 397–345 v. Chr.) und des Sokrates-Schülers Aristipp von Kyrene (435–355 v. Chr.) als intrinsische Kerneigenschaft jedes Lebewesens entschlüsselt. Wissenswert ist darüber hinaus, dass die neutral-zuständliche Lust bereits von Aristipp mit der berühmten Metapher der „Meeresstille" (vgl. 27) umschrieben wurde.
Obzwar Epikur eine kinetisch-kurzfristige, unweigerlich neue Bedürfnisse und Leiden entfachende Lustpraxis vehement ablehnt, wurde er in der Tradition immer wieder als Apologet einer augenblickshaften Genussmaximierung interpretiert. In Wahrheit votiert Epikur für die Ausübung einer möglichst beständigen („katastetischen", 28), schmerzfreien und rational kalkulierten Lust. Zudem ist Epikurs Lustlehre nicht so antiplatonisch, wie eine ephemere Begriffsübersicht vermuten ließe. Insofern nämlich Platon im Philebos der intellektuellen „Lust des Geistes den absoluten Vorrang" (
Innerhalb des Panoramas der hellenistischen Philosophie darf nach der Erörterung des epikurischen Lehrgebäudes, das von seinen Schülern ohne nennenswerte Korrekturen beibehalten wurde, der Auftritt der philosophischen Hauptkonkurrenz nicht fehlen: Gemeint ist die Stoa, die Zenon (332–262 v. Chr.) als Zeitgenosse Epikurs um 300 v. Chr. ebenfalls in Athen begründete. Aufgewachsen in der phoinikischen Gründungsstadt Kition, gelangte Zenon als junger Student nach Athen, wobei ihn der weithin ausstrahlende Ruf der platonischen Akademie zu dieser Reise animierte. Der Bildungsweg des jungen Zenon weist somit augenfällige Parallelen zu Epikur auf. Da er – im Gegensatz zu Epikur – das athenische Bürgerrecht nicht besaß, durfte Zenon als Metöke jedoch keine eigenen Liegenschaften erwerben, um dort eine Schule aufzubauen. Obgleich die platonische Akademie in ihrer Hochschätzung der Vernunft, der Kritik des Sensualismus und der ethischen Ernsthaftigkeit ihrer Tugenddefinition eine gewichtige Nähe zu seinen anfänglichen Grundintuitionen offerierte, konnte sich Zenon ihr nicht vorbehaltlos anschließen. Zenon vertrat einen materialistisch eingefärbten Pantheismus und musste Platons Annahme transmundaner Ideen folgerichtig ablehnen. Deswegen diskutierte Zenon seine eigene Programmatik der „Umsetzung eines ethischen Zieles nach einer philosophischen Norm" (
In seiner Schilderung des Herzstückes der Zenonschen Lehre beginnt Flashar mit der ebenso prominenten wie inhaltsindifferent anmutenden Formel, wonach der Einzelne in „Übereinstimmung mit dem Logos leben" (
Gegenüber polemischen Verzeichnungen, die den stoischen Weisen etwa als „hölzerne[r], steife[r] Gliedermann" ohne „Leben oder innere poetische Wahrheit" (Schopenhauer) illustrieren und ihn als Paradigma eines egozentrischen Tugendasketismus verdächtigen, betont der Verf. die (kosmo)politische Ausrichtung der stoischen Pflichtethik. Diese artikuliert sich bei Zenon in dem Prinzip des „Zukommende[n]" (
Da jegliche Selbsterhaltung ihrerseits auf der sich in der Individuation selbst bejahenden und wollenden All-Natur fußt, muss sich derjenige Akteur zwangsläufig ihrem Handlungssinn widersetzen, der die göttliche Seelenteilhabe der Mitmenschen nicht respektiert. Er kann in diesem Falle den je schon an ihn ergangenen Auftrag der Weltvernunft nicht mehr befolgen, wonach die potenzielle Vernunftausübung anderer Individuen zu befördern ist, um eine progressive Vereinigung der All-Natur mit sich selbst zu veranlassen. Flashar zieht diesbezüglich eine stimmige Verbindungslinie zur deontologischen Ethik Kants (vgl. 123), in der die wahrhaft moralischen Handlungen – wie in der Stoa – nicht aus einem Affekt des Mitleids, der Antizipation einer erwarteten Gegenleistung oder aus utilitaristischen Erwägungen entspringen dürfen. In Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) müssen sie aus Pflicht begangen werden und lassen als einzige Gefühlsquelle die vernunftbasierte Achtung vor dem imperativischen Sittengesetz zu.
Eminent aufschlussreich sind die darauffolgenden Ausführungen zum Status der Akademie sowie des Peripatos (vgl. 67–74) während der Blütezeit der konkurrierenden Schulen Epikurs und der Stoa. Der Peripatos prolongierte unter Aristoteles' Nachfolger Theophrast (371–287 v. Chr.) die Konzentration auf naturphilosophische und einzelwissenschaftliche Forschungen. Die Akademie behandelte unter Speusipp (410–339 v. Chr.), dem Neffen Platons, und unter dem Scholarchen Xenokrates (396–313 v. Chr.) primär die henologischen Problematiken der (ungeschriebenen) Ideenlehre. Nicht nur Zenon „vermisste aber die lebendige philosophische Auseinandersetzung" (
Es sind dies mithin jene an Sokrates und Pyrrhon anknüpfenden Denker, welche die Tendenz der sogenannten skeptischen Akademie maßgeblich bestimmten. Wie Flashar exemplifiziert, ist Arkesilaos wahrscheinlich der erste Philosoph, der die „ἐποχή" (
Diese auf epistemische und abstrakte Objekte angewandte ἐποχή wurde von Karneades zu einem methodischen Probabilismus zugespitzt. Karneades' subtile Vorgehensweise bestand darin, dass er die heterogenen, existierenden Ansichten der Philosophen zu einem spezifischen Sachgegenstand versammelte, die etablierten Theorien um alle denkbaren zusätzlichen Auslegungen ergänzte und sie alsdann untereinander in ein Rivalitätsverhältnis manövrierte. Mit dieser gleichsam negativen Dialektik der konsequenten Unentschiedenheit suchte Karneades die Unmöglichkeit einer endgültigen Wahrheitsbestimmung zu dekuvrieren. Zum Zwecke der bewährenden Veranschaulichung ruft Flashar die bekannte Anekdote auf, die Karneades im Jahre 155 v. Chr. als Teilnehmer einer Gesandtschaft nach Rom zeigt (vgl. 69). Dort beeindruckte und verwirrte er die gesamte Zuhörerschaft, indem er an einem Tag einen glänzenden Panegyrikus auf die Gerechtigkeit hielt, um am nächsten Tag eine ebenso kohärente Auffächerung ihrer Nachteile zu proponieren. Wie Flashar im Kapitel zur Rezeption der griechischen Philosophie in Rom verdeutlicht, hat Cicero diese elenktische Methode des Karneades in seiner relativierenden Analytik des Wahrscheinlichen („disputatio in utramque partem", vgl. 89) adaptiert.
Eine dezidierte Stärke der Monographie äußert sich darin, dass Flashar für die kulturkreisüberbrückende Syntheseleistung der ‚mittelstoischen' Denker Panaitios und Poseidonios sensibilisiert. Der im Jahre 185 v. Chr. auf der Insel Rhodos geborene und aufgewachsene Panaitios wurde im Alter von 56 Jahren Scholarch der stoischen Schule von Athen. Im Jahre 144 v. Chr. hielt er sich zum ersten Mal in Rom auf und hat auch „später mehrfach von Athen aus Rom besucht" (
Unmittelbar auf Panaitios folgte als Scholarch dessen „bedeutendste[r]" (
Die biographisch geprägten Abschnitte über Panaitios' Beziehung zum sog. „Scipionenkreis" (vgl. 49f.) und die Reflexionen über Ciceros Schriften De finibus bonorum et malorum, Tusculanae disputationes sowie De fato beinhalten einige Längen. Werkarchitektonisch wäre es daher fruchtbringend gewesen, die beiden letzten großen Stoiker weit ausführlicher zu Wort kommen zu lassen. Im Unterschied zu dem janusköpfigen Seneca (1–65 n Chr.) können diese beiden Denker als Musterbilder stoischer Authentizität expliziert werden, weil sie wahrhaft nach den von ihnen verfochtenen Maximen lebten. Als römischer Sklave hat Epiktet (50–138 n. Chr.) eine einzigartige Freiheitstheorie hinterlassen, die in der vorliegenden Monographie nur peripher erfasst wird. Schließlich ist es der Kaiser Marc Aurel (121–180 n. Chr.), dem wir mit den Selbstbetrachtungen das wohl ergreifendste Dokument einer „Philosophie als Lebensform" (P. Hadot) verdanken; auch er wird sehr bündig porträtiert (vgl. 115).
Insgesamt ist zu resümieren, dass Flashar eine in einem klaren Stil geschriebene Studie verfasst hat, die trotz des beschränkten Umfanges eine eindrucksvolle Fülle von biographischen, kulturellen und ideengeschichtlichen Aspekten versammelt. An manchen Stellen wäre es wünschenswert gewesen, zugunsten des überwiegend deskriptiven Tenors eine eher problemorientierte Fragehaltung zu wählen: Welche Argumente brachten beispielsweise einzelne Stoiker vor, wenn sie die Zentraltermini von Gott, Natur oder Vorsehung umdefinierten oder deren Relevanz anders gewichteten? Gründet es in der individualistisch-unverbindlichen Fokussierung der klug arrangierten Schmerzvermeidung, dem Verzicht auf eine ambitionierte Tugendlehre und auf der ontologischen Sparsamkeit, dass Epikurs Nachfolger kaum von den Grundanschauungen seiner Lehre abwichen? Ist es hingegen der ambivalenten Verschränkung von naturalistischen und idealistisch-platonischen Elementen geschuldet, dass sich die Stoa immer wieder neu erfinden musste?
Es ist wegen des epochal-zeitlich eindeutig eingegrenzten Skopus vollkommen nachvollziehbar, dass Flashar die Rezeptionslinien der hellenistischen Philosophie nicht bis in die Neuzeit und die Moderne vertieft. Indes könnte die Wirkungsgeschichte der hellenistischen Klassiker den geläufigen Schemata eines linearen Fortschrittes oder einer Philosophia perennis konstruktiv entgegengehalten werden. Es ließe sich eine zyklische Komposition imaginieren, in der sich philosophische Frageansätze, Deutungsoptionen und Antwortkategorien innerhalb bestimmter Zeitabstände wiederholen. Dass die hellenistische Philosophie in ihrer aufrichtigen Suche nach dem guten Leben stets anschlussfähig bleibt und in ihrem reflektierten Individualismus eine hervorragende Aktualität beanspruchen kann, hätte markanter profiliert werden können, wenn in den Ausblick einige Auspizien der verborgenen Präsenz Epikurs, Zenons und Pyrrhons eingeflossen wären. So ist die Wiederkehr eines atomistischen Weltbildes in der neuzeitlichen Naturwissenschaft frappierend. Ebenfalls diskussionswürdig ist Spinozas (1632–1677) kaum zu bestreitender Rekurs auf den Pantheismus und die Affektenlehre der Stoa. Dass sich in der metaphysikkritischen Haltung der Postmoderne konstitutive Motive des antiken Skeptizismus aufspüren lassen, unterstreicht die immense Bedeutung Pyrrhons und Karneades'.
Diese kontexteröffnenden Anmerkungen können und sollen die magistrale Qualität der vorliegenden Monographie keineswegs schmälern. Philosophische Systematik, philologische Genauigkeit und historischen Kenntnisreichtum virtuos verknüpfend, bezeugt Flashars Untersuchung eine langjährige Auseinandersetzung mit der Philosophie des Hellenismus. In der bisherigen Forschung existieren bereits sehr verdienstvolle Einführungen und Standardwerke zu Epikur,[
By Jan Kerkmann
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